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II.

»Ich habe ein leichtes Fieber, wahrscheinlich habe ich es mir in der Krim geholt.«

»Wie lange haben es Majestät?«

»Ich glaube, ich habe es noch von Bachtschissaraj her. Ich kam dort spät abends an und hatte Durst; Fjodorow gab mir Berberitzensaft zu trinken; ich fürchtete, daß er sauer geworden war, denn in der Krim war es sehr heiß. Fjodorow sagte aber, daß er noch ganz frisch sei. Ich trank ein Glas davon und legte mich zu Bett. Nachts bekam ich aber schreckliche Leibschmerzen. Dann hatte ich leichten Durchfall; ich glaubte, daß alles damit erledigt sei. In Perekop bekam ich Schüttelfrost, der mich auch noch jetzt quält.«

Er dachte etwas nach und fügte hinzu:

»Vielleicht habe ich es mir auch schon früher in Sewastopol geholt: ich bin ohne Überzieher zum Georgskloster geritten; am Tage ist es dort heiß, nachts weht aber von der Steppe her ein kalter Wind; ich habe mich wohl dabei erkältet.«

»Es sind also schon acht Tage, daß Majestät krank sind?«

»Ja, beiläufig. Ich weiß es übrigens nicht genau ...«

»Geruhten Majestät Chinin einzunehmen?«

»Nein. Ich nehme ja nicht gerne Arzneien ein. Es wird von selbst vergehen.«

»Wie soll es von selbst vergehen, Majestät? Sie vergessen immer, daß Sie in den Vierzigern sind; das ist doch nicht dasselbe wie mit zwanzig Jahren ...«

»Ja, mein Lieber, Alter ist ein schweres Malter, das weiß ich ebenso gut wie du. Was aber das Fieber betrifft, so kannst du unbesorgt sein, es wird bald vergehen.«

Der Kaiser kleidete sich um und wusch sich gleich nach seiner Ankunft im kleinen Toilettenzimmer, das neben seinem Arbeits- und Schlafzimmer lag. Er pflegte sich stets mit kaltem Wasser zu waschen, diesmal ließ er sich aber warmes geben, er fürchtete wohl, sich noch mehr zu erkälten. Wolkonskij stand neben ihm mit dem Handtuch auf der Schulter und goß ihm aus einem Krug Wasser auf die Hände. Der frühere Generalstabschef und jetzige Hofmarschall der Kaiserin, General-Adjutant Fürst Pjotr Michailowitsch Wolkonskij, versah beim Kaiser oft die Dienste eines Kammerdieners; seit fünfunddreißig Jahren bemutterte er ihn wie eine zärtliche Wärterin, begleitete ihn auf allen seinen Reisen und sah ihn in allen Zuständen von Leib und Seele, wie in den feierlichsten, so auch in den erniedrigendsten. Der Kaiser ging mit dem Fürsten nicht besonders freundlich um. »Niemand kann sich vorstellen, was ich von ihm zu leiden habe,« pflegte Wolkonskij zu sagen. Er wollte längst seinen Abschied nehmen, konnte sich aber doch nie dazu entschließen: er war schwach und gutmütig und liebte seinen kaiserlichen Herrn, wie eine alte Kinderfrau ihren Zögling liebt.

Der Kaiser tat ihm auch jetzt leid; er sah, daß er schwer krank war, doch wie immer seinen Zustand verheimlichte und zu überwinden suchte.

»Dieser Qualm!« sagte der Kaiser, sich die Hände mit dem Handtuch abtrocknend und zum Fenster hinausblickend: die Stadt war illuminiert.

»Es ist anläßlich der Rückkehr Euerer Majestät.«

»Die treuen Untertanen!« Der Kaiser verzog das Gesicht wie vor Ekel. »Und wie geht es hier?«

»Es geht Gott sei Dank gut, Majestät.«

»Wie geht es der Kaiserin?«

»Auch Ihrer Majestät geht es Gott sei Dank gut; sie hat sich nur schrecklich nach Ihnen gesehnt.«

Das Waschen hatte ihn ermüdet; er setzte sich hin und hielt das Handtuch noch immer in der Hand; er vergaß, es Wolkonskij zurückzugeben. Er saß, den Kopf in die Hände gestützt, und man konnte ihm ansehen, daß er wirklich krank war.

»Majestät sollten sich doch hinlegen, die Kaiserin werde ich zu Ihnen bitten.«

»Nein, um Gottes willen nicht! Du wirst sie noch erschrecken. Ich bitte dich, mein Freund, sage ihr nichts.«

»Sie wird es ja selbst sehen ...«

»Mag sie es nur sehen, du sollst ihr aber nichts sagen, wozu soll man sie beunruhigen? Ich habe dir ja gesagt, daß es eine Kleinigkeit ist: ich werde mich ausruhen und bin morgen wieder gesund. Gib den Rock her. Ich muß zu ihr eilen, sie kann es wohl gar nicht mehr erwarten.«

Wolkonskij reichte ihm den Rock; der Kaiser zog ihn an, blickte in den Spiegel so flüchtig und unsicher, wie sich nur Kranke im Spiegel zu betrachten pflegen, fuhr sich mit der Bürste über die Haare, die von den Schläfen auf die kahle Stirne hinaufgekämmt waren, knöpfte den Rock zu, zupfte ihn zurecht, damit es keine Falten gab, und ging. Er ging in gebückter Haltung, und man konnte wieder sehen, daß er ernsthaft krank war. Wolkonskij sah ihm nach und brummte etwas in den Bart, wie eine um ihren kranken Zögling besorgte alte Kinderfrau.

Die Kaiserin erwartete den Kaiser für fünf Uhr, wie es nach der Marschroute festgesetzt war. Die Uhr schlug aber fünf, sechs, sieben, halb acht, und er war immer noch nicht da. Um drei viertel acht sah sie endlich aus dem Fenster den Wagen mit aufgestelltem Verdeck; er fuhr im Schritt. Sie dachte schon, daß der Wagen leer sei. Nein, er war es doch; er hatte den warmen Mantel an, und auf den Füßen lag die Wagendecke aus Bärenpelz. Er pflegte sonst nie im Schritt zu fahren. War ihm vielleicht etwas zugestoßen? War er krank? Sie wollte hinauslaufen, um ihn gleich unten zu begrüßen, wagte es aber nicht zu tun: er liebte es nicht, wenn man ihn begrüßte, solange er sich noch nicht gewaschen hatte. Sie entschloß sich zu warten. Sie saß allein in ihrem Arbeitszimmer und lauschte dem Ticken ihrer Tischuhr mit dem einarmigen Schäfer aus Porzellan. Jede Minute kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Endlich rief sie ihren Sekretär Longinow und beauftragte ihn, nachzuschauen, was eigentlich los sei. Longinow ging und kam nicht wieder. Sie erinnerte sich, wie sie ihn während der Überschwemmung nach dem Kaiser geschickt hatte und wie er damals ebenfalls verschwunden war. Sie konnte nicht länger warten. Sie erhob sich und ging zur Türe. Im gleichen Augenblick hörte sie Schritte: Er! er!

Sie wußte nicht mehr, was mit ihr vorging, ihr verging Sehen und Hören, sie fühlte nur das eine: daß er mit ihr war.

»Lise, endlich! Ich bin so glücklich! Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

In solchen Augenblicken des Wiedersehens fühlte sie sich gewöhnlich viel glücklicher als er, und in dieser Ungleichheit war stets ein Tropfen Bitternis enthalten; jetzt war es aber nicht der Fall: sie fühlte zum ersten Male in ihrem Leben, daß sie beide gleich glücklich waren.

Sie kam zu sich und sah ihn aufmerksam an:

»Sind Sie krank?«

»Unsinn, nicht der Rede wert: morgen bin ich wieder gesund ... Und wie geht es Ihnen?«

Sie gab keine Antwort und musterte ihn noch aufmerksamer: ja, er sah abgemagert und etwas heruntergekommen aus; das machte aber nichts: im vorigen Jahre, als er die Entzündung am Beine hatte, sah er ja noch viel schlechter aus; jetzt war es offenbar nichts Ernstes.

»Ich versichere Sie, Lise, es ist wirklich nichts Ernstes,« sagte er, ihren Gedanken erratend; er lächelte ihr zu, und sie vergaß sich wieder, schmiegte sich an ihn und schloß die Augen mit seligem Lächeln; sie durfte nicht unglücklich sein: sie hatte ja ihn an ihrer Seite, alles war gut, und sollte für alle Ewigkeit so bleiben.

»Ja, warum stehen wir? Setzen Sie sich doch!« Sie hatte plötzlich bemerkt, daß es ihm schwer fiel, zu stehen. »Setzen Sie sich aufs Sofa. Legen Sie sich etwas hin; soll ich Ihnen ein Kissen bringen? Haben Sie Fieber? Hüllen Sie sich in diesen Schal. Es macht nichts, daß er so schäbig aussieht, niemand wird es sehen. Es ist der Schal meiner armen Amalie; er ist schäbig und komisch, ich liebe ihn aber doch: er ist so warm und lieb. Ich nenne ihn auch immer ›mein liebes Tantchen‹. Ich hülle mich immer in ihn, wenn ich Fieber habe, wollen Sie Tee?«

Sie wußte selbst nicht, was sie sprach. Sie fühlte nur, daß sie nicht schweigen durfte.

»Ja, eine Tasse heißen Tee mit Zitrone ...,« sagte er mit weinerlicher Stimme wie ein krankes Kind; in seinen Augen blitzte es plötzlich so seltsam auf. Was war es? Nein, nichts, nichts; nur nicht schweigen, nur nicht denken.

»Nun, erzählen Sie mir doch, wie Sie sich erkältet haben? Wann und wo haben Sie es sich geholt? Doch die Wahrheit, die reine Wahrheit!«

Er erzählte ihr dasselbe, was er schon Wolkonskij erzählt hatte, stellte aber das Ganze noch harmloser hin; er bemühte sich, den Bericht über die Erkrankung möglichst abzukürzen und das Gespräch aus andere Dinge zu bringen.

»Ja, Lise, was wollte ich noch sagen ... Ja, Oreanda: wissen Sie, ich habe das Gut gekauft.«

Er holte aus der Tasche den Plan eines kleinen Landhauses, das nur für sie beide bestimmt war, und breitete ihn vor ihr aus dem Tische aus. Er erklärte ihr:

»Die Zimmer sind klein, vielleicht noch kleiner als die hiesigen; sie sind aber gemütlich, weiß und hell; wir haben dort auch eine große Terrasse mit Säulen und eine Freitreppe, die zum Meere führt. Alles ist im griechischen Geschmack und paßt gut zu der Landschaft. Die Landschaft ist aber ein wahres Paradies! Zypressen, Lorbeer, immergrüne Myrten am blauen Meere, am Gestade des blauen Meeres, wie es in den Märchen heißt. Jetzt, im November, blühen dort noch Rosen.«

Er nahm aus seinem Marschroutenbuch eine getrocknete Teerose heraus und reichte sie ihr.

»Riechen Sie nur: die duftet noch jetzt. Und diese Stille, diese Einsamkeit! Wie schön werden wir es dort beide haben!«

Er schwieg und fügte mit stiller Trauer hinzu:

»Ich habe ja einmal gehofft, daß wir dort zu dritt glücklich sein werden. Die arme Sofotschka! Ja, bald ...«

Er hätte beinahe die Worte der sterbenden Sophie wiederholt: »Bald werden wir zusammen sein.«

Er blickte die Kaiserin stumm an, und wieder blitzte etwas in seinen Augen auf. Sie bekam Angst. Sie wollte etwas sagen, das Schweigen brechen, sie konnte es aber nicht mehr; sie fühlte nur, wie das Glück aus ihrem Herzen entschwand, wie das Wasser aus einem gesprungenen Glas.

Fürst Wolkonskij trat ins Zimmer und meldete den Leibarzt Wyllié.

»Was hast du wieder angestellt, mein Lieber! Ich habe dir ja gesagt, daß ich ihn nicht sehen will. Ich habe ihn und seine Arzneien wirklich satt,« flüsterte der Kaiser. »Nun ist wohl nichts mehr zu machen, er soll nur kommen.«

Wyllié küßte der Kaiserin die Hand und fragte den Kaiser nach seinem Befinden.

»Es geht mir ausgezeichnet, mein Freund. Ich habe Tee getrunken und mich erwärmt. Ich habe jetzt, wie mir scheint, keinen Schüttelfrost mehr, höchstens etwas Fieber.«

Wyllié fühlte ihm den Puls und sagte nichts.

»Sei so gut, Jakow Wassiljewitsch, beruhige sie doch und sage ihr, daß es nur eine Kleinigkeit ist. Sie will es mir nicht glauben.«

»Gewiß ist es eine Kleinigkeit, und doch müssen Sie etwas dagegen tun, Majestät. Sie wollen keine Arzneien einnehmen ...«

»Ich weiß es, mein Lieber, ich weiß es ... Komm mal her,« rief er den Fürsten Wolkonskij zu sich heran. »Was glaubst du, ist das?« Er zeigte ihm den Plan.

»Es ist ein Haus.«

»Wem gehört das Haus?«

»Ich weiß es nicht.«

»Dem General a. D. Alexander Pawlowitsch Romanow. Ich nehme ja bald meinen Abschied.«

»Ist es nicht zu früh, Majestät?«

»Gar nicht zu früh: ich bin ja 25 Jahre im Dienst, und selbst der gemeine Soldat bekommt nach dieser Frist den Abschied. Nimm auch du den Abschied, Freund; ich will dich bei mir als Bibliothekar anstellen.«

Sie sprachen ruhig und schienen alle heiter. Die Kaiserin empfand aber unheimliche Angst vor dieser Ruhe: sie fühlte, daß das gesprungene Glas immer leerer wurde.

Wyllié sah auf die Uhr und sagte, daß der Kaiser zu Bett gehen müsse.

»Ich wußte ja, daß du mich fortjagen wirst. Und ich fühle mich gerade jetzt so wohl. Also gut, sofort; ich will mich nur noch von ihr verabschieden ...«

Wyllié und Wolkonskij verließen das Zimmer.

»Nun, Lise, haben Sie sich etwas beruhigt?« fragte der Kaiser, sich erhebend.

Sie wollte etwas sagen und konnte es wieder nicht.

»Was haben Sie nur, Lise? So geht es nicht. Wir machen einander nervös: bald sind Sie krank, und ich bin außer mir, bald bin ich krank, und Sie sind außer sich. Es ist genau so wie mit dem Bären und der Ziege bei dem Spielzeug; kennen Sie es? Man zieht nach rechts, und der Bär fällt über die Ziege; man zieht nach links, und die Siege fällt über den Bären ...«

»Nein, es ist ja wirklich nichts ... Ich war aber so glücklich ...« Sie kam nicht weiter; Tränen erstickten ihre Stimme.

»Und jetzt sind Sie unglücklich?«

Er umarmte sie und küßte sie so zärtlich, daß sie vor Glück kaum atmen konnte: das gesprungene Glas füllte sich wieder bis an den Rand.

»Lieber! Lieber!« Sie schmiegte sich an ihn und weinte. Gott belohne Sie für Ihre ... für Ihre Freundschaft!«

Sie wagte nicht zu sagen: für Ihre Liebe.

»Gott segne Sie,« sie wollte ihn zum Abschied bekreuzigen.

»Nein, Lise, später. Kommen Sie noch zu mir, wenn ich im Bett bin.«

Er ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich an den Tisch und sah die eingelaufene Post durch. Er fand einen Bericht von General Kleinmichel: »Beschreibung des Verbrechens von Grusino.«

Der Kopf schmerzte ihm, und es war ihm finster vor den Augen; es war wohl ein neuer Fieberanfall. Er konnte nicht fortlaufend lesen und sah den Bericht nur flüchtig durch.

»Laut Geständnis des Mörders fiel die Verstorbene hin und fing an zu schreien; in diesem Augenblicke schnitt er ihr vollständig die Kehle durch, so daß der Kopf nur noch an einem Halswirbel hängen blieb.«

Zum Schlusse hieß es: »Es kann jetzt noch nicht die Rede davon sein, daß der Graf sich mit den laufenden Geschäften befaßt; ich bin aber fest davon überzeugt, daß er noch zu seiner gewohnten Tätigkeit zurückkehren wird. Es handelt sich jetzt nur darum, daß man ihn irgendwie in seiner Häuslichkeit tröstet und beruhigt.«

Der Kaiser lächelte und sagte sich: Wie kann man ihn beruhigen? Vielleicht ihm eine neue Dirne verschaffen? Nein, eine ähnliche wird sich wohl nicht finden lassen: P. Photius nannte ja dieses Tier in Menschengestalt »die Märtyrerin«; und doch hatte sie einmal einem Dienstmädchen, das ihr das Haar schlecht frisierte, mit einer glühenden Brennschere das Gesicht verstümmelt.

Er konnte nicht weiter lesen; es wurde ihm übel; es schien ihm, daß die Übelkeit von Kleinmichels Bericht kam.

Er fand auch einen Brief von Araktschejew vor; er entsiegelte ihn und sah ihn durch.

»Ach, mein Väterchen, wie gerne möchte ich zu Ihnen nach Taganrog eilen, denn mein sehnlichster Wunsch ist jetzt, meinen Wohltäter wiederzusehen; die Schmerzen in der Brust sind aber so heftig, daß ich mich nicht entschließen kann, bei dieser Witterung die weite Reise zu unternehmen; ich fürchte, daß ich sie nicht überstehen würde. Ich umarme Ihre Knie und küsse Ihre Hände.«

Er lächelte wieder: wie würde er Araktschejew empfangen, wenn er tatsächlich nach Taganrog käme? Wofür sollte er ihm übrigens zürnen? »Wohin Sie gehen, da geht er auch hin; was Sie tun, das tut auch er; er selbst existiert gar nicht: er ist nur Ihr Schatten.« – »Ja, er ist mein Schatten. Als die Sonne hochstand, lag der Schatten zu meinen Füßen; und jetzt, da die Sonne untergeht, ist der Schatten ins Unermeßliche gewachsen.« Ein riesiger Schatten, ein lächerliches Schreckbild. »Die militärischen Siedlungen sind das größte Unrecht, das ein wütender Tyrann ersinnen konnte.« Er dachte an die Anzeige Allilujews und an die Klage des Volkes: »Schütze, o Kaiser, dein christliches Volk vor Araktschejew!« Er wollte ein Reich Gottes auf Erden schaffen und hatte das Reich Araktschejews, das Reich des Tieres, geschaffen. Ja, dafür verdiente er mindestens den Tod! Sie hatten recht.

Der Kopf schwindelte ihm und es wurde ihm finster vor den Augen. Er fürchtete, ohnmächtig zu werden. Er schleppte sich zum Sofa und legte sich hin. Er schloß die Augen. Er schlief nicht, doch sah er wie im Traum die Poststraße bei der Station Wassiljewka, 25 Werst vor Orechow, wo er vorgestern vorbeigefahren war; hier begegnete ihm der Feldjäger Maskow mit Depeschen aus Petersburg und Taganrog; der Kaiser befahl ihm, seinem Wagen zu folgen, denn er wollte ihn von der nächsten Station aus mit einem Briefe zur Kaiserin schicken; er setzte sich in den Wagen und fuhr weiter. Die Straße machte an dieser Stelle eine scharfe und steile Biegung zum Fluß. Er passierte auch glücklich die Brücke und fuhr im Schritt das gegenüberliegende Ufer hinauf. Auch Maskow setzte sich in seine Troika, sagte dem Kutscher »Los!« und schwang über ihn den Säbel mit der Bravour, die allen Feldjägern eigen ist: er hatte wohl auf der Station zu viel getrunken. Der Kutscher trieb die Pferde an. Die Troika raste den Berg hinunter; vor der Brücke konnte der Kutscher die Pferde nicht mehr anhalten, der Wagen geriet auf einen Erdhügel und Maskow flog hinaus. Er überschlug sich einmal in der Luft und fiel mit dem Kopf gegen einen Stein. Als der Kaiser dies sah, schrie er vor Schreck auf und befahl Tarassow, sofort zum Verunglückten zu eilen. Auf der nächsten Station meldete ihm Tarassow, daß Maskow auf der Stelle infolge der Gehirnerschütterung tot war; sein Schädel war zerschmettert. Der Kaiser hatte schon früher etwas Fieber gehabt, doch bei der Meldung Tarassows wurde es so stark, daß ihm die Zähne klapperten. »Wie wäre es,« dachte sich der Kaiser, »wenn ich Maskow mit einem Brief an die Kaiserin vorausgeschickt hätte? Und wenn es im Briefe hieße: ›Je vous envoye Maskow et je le suis de près?‹ Das hätte ja ebenso ausgesehen wie neulich die Kerzen am hellichten Tage ...«

Als er jetzt auf dem Sofa mit geschlossenen Augen lag, sah er, wie Maskow aus dem wagen fiel, und hörte, wie sein Schädel krachte. »Daher diese Kopfschmerzen! Von diesem Krachen tut mir der Kopf weh. Wie ekelhaft! Ich will lieber aufstehen.«

Er stand auf, ging zum Tisch und wühlte wieder in den Papieren. Er suchte lange. Endlich fand er, was er suchte: es war ein anonymer Brief, eine von den vielen unsinnigen Anzeigen, mit denen man ihn in der letzten Zeit überschüttete. Er kannte den Brief beinahe auswendig; er sollte ihn lieber nicht lesen; doch er konnte sich nicht enthalten.

 

»Kaiserliche Majestät! In der heiligen Schrift, und zwar im 82. Psalm heißt es von den irdischen Königen und Herrschern: ›Ihr seid Götter und allzumal Kinder des Höchsten. Aber Ihr werdet sterben wie Menschen.‹ – Majestät! Ihre Untertanen wissen, daß Sie, obwohl Sie der große Selbstherrscher sind, sich nie als einen irdischen Gott anbeten lassen und es sogar durch einen Erlaß an den heiligen Synod verboten haben; denn Sie denken immer an Ihre Sterbestunde.

Majestät, als Ihr Untertan und als aufrichtiger, wenn auch geheimer Freund und Sohn meines Vaterlandes, beschwöre ich Sie beim Namen des Höchsten, denken Sie an diese Stunde; denken Sie an sie öfter als sonst, denn diese Stunde naht, und die höllischen Pläne Ihrer Feinde gehen bereits in Erfüllung.«

 

Bis zu dieser Stelle war der Brief russisch geschrieben; dann folgte in schlechtem Französisch:

 

»Die Mörder überlegten sich lange, welche Waffe sie wählen sollten: Kugel, Dolch oder Gift; endlich entschlossen sie sich für das letztere. Es ist vielleicht zu spät, vielleicht fließt das Gift bereits in Ihren Adern. Wenn es aber noch nicht zu spät ist, so nehmen Sie sich in acht vor allen Menschen, die Sie umgeben: vor Ihrem Kammerdiener, vor Ihrem Koch, vor Ihrem Leibarzt; trauen Sie niemand; alle sind Verräter, alle sind bestochen; Sie sind von gedungenen Mördern umgeben. Das Brot, das Sie essen, ist vergiftet; das Wasser, das Sie trinken, ist vergiftet; die Luft, die Sie atmen, ist vergiftet; die Arzneien, die man Ihnen gibt, sind vergiftet. Bevor Sie etwas essen oder trinken, zwingen Sie doch die Leute, die Ihnen Speise oder Trank reichen, selbst davon zu kosten. Denken Sie daran bei Tag und bei Nacht, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute; vergessen Sie nicht, daß das Gift überall enthalten sein kann. Menschen sterben ja oft an den geringfügigsten Ursachen: Ofendunst, mangelhaft verzinntes Kupfergeschirr, Glassplitter, die irgendwie ins Brot geraten sind, – alles kann die Ursache sein. Man wird Sie töten, man wird Sie mit einem langsam wirkenden Gift vergiften und hinterdrein sagen, daß sie eines natürlichen Todes gestorben sind.

Diesen Brief diktiert mir mein aufrichtiges und in treuer Untertanenliebe flammendes Herz, nachdem es von den höllischen Anschlägen erfahren hat. Gott helfe Ihnen!

Ein reuiger Verbrecher und von nun an

Ihr ewig treuer Untertan.«

 

Ja, er sollte ihn lieber nicht lesen. Es war so dumm, so ekelhaft, so abstoßend, plötzlich fiel ihm etwas ein, und er erstaunte: er hatte diesen Brief doch verbrannt? Hatte er ihn auch wirklich verbrannt? Ja, gewiß, er wußte es ja noch ganz genau: nachdem er ihn erhalten, fand er am nächsten Morgen beim Frühstück im Brote ein kleines Steinchen. Er ließ sofort Dibitsch kommen, zeigte ihm das Brot und befahl ihm, festzustellen, wie das Steinchen hineingeraten sein konnte. Er sagte ihm noch: »Ich möchte nicht gerne Wolkonskij damit betrauen, denn er ist ein altes Weib und wird es nicht ordentlich machen können.« Dibitsch rief Wyllié herbei und zeigte ihm das Brot; Wyllié erklärte, daß es ein ganz harmloses Steinchen sei; und der Bäcker sagte zu seiner Entschuldigung, das Steinchen sei aus Versehen in den Teig hineingeraten. Der Kaiser wollte zuerst Dibitsch die Anzeige, die er erhalten, zeigen; doch er schämte sich und fürchtete, es zu tun: er fürchtete nicht, daß die Anzeige begründet sein könnte, sondern, daß Dibitsch ihr glauben würde. Er ging dann sofort in sein Arbeitszimmer und verbrannte den Brief.

Wieso bekam er ihn jetzt wieder in die Hand? »Werde ich verrückt?«

Er wendete den Brief nach allen Seiten, betastete ihn, betrachtete ihn, als ob er hoffe, daß er von selbst verschwinden würde. Doch nein, er verschwand nicht. Er führte ihn an die Kerze, er wollte aber nicht brennen. Er warf ihn auf den Fußboden, – er fiel nicht; er klebte an seinen Händen, als ob er mit Leim bestrichen wäre. Und die Kerzen brannten ebenso trüb wie damals am Tage, und der schwarzgelbe Nebel füllte wieder das Zimmer. Und jemand stand hinter seinem Rücken. Er wandte sich nicht um, denn er wußte, wer es war: der kleine kahle Greis mit den weißen Augenbrauen und Wimpern, mit den blauen Augen »eines Kälbchens«, wie er sie auch an sich selbst im Spiegel sehen konnte, der heimatlose Vagabund Fjodor Kusmitsch.

Er schrie auf, kam zur Besinnung und sah, daß er noch immer auf dem Sofa lag; er begriff, daß er gar nicht aufgestanden war und daß das Ganze nur ein Fiebertraum gewesen war.

Die Türe ging auf, die Kaiserin trat ein.

»Sind Sie noch nicht im Bett?«

»Nein, Lise, ich warte auf Sie.«

»Ich habe geklopft, haben Sie es nicht gehört?«

»Nein, ich bin wie taub. Wenn ich Fieber habe, bin ich immer schwerhörig. Sie wissen noch, im vorigen Jahre, als ich die Entzündung am Beine hatte, war ich ja auch taub. As dief as pots. Geben Sie mir einen Kuß. Ich werde mich gleich hinlegen. Mir ist jetzt wieder wohl, ganz wohl ...« Er lächelte so aufrichtig, daß sie ihm beinahe glaubte. »Beunruhigen Sie sich nicht, meine Liebe. Gute Nacht!«

Sie bekreuzigte und küßte ihn.

Als sie fort war, klopfte Jegorytsch. Er klopfte lange, der Kaiser hörte es aber nicht. Schließlich kam er ohne Antwort bekommen zu haben ins Zimmer.

»Befehlen Majestät, Ihnen beim Auskleiden zu helfen?«

»Auskleiden? Ja ... nein, später. Ich werde läuten.«

Jegorytsch ging zum Tisch und putzte die Kerzen.

»Weißt du, Jegorytsch, ich bin ja schwer krank,« sagte der Kaiser.

»Majestät müssen sich behandeln lassen.«

– Er weiß immer, was ich muß, – dachte sich der Kaiser; doch die Ruhe Jegorytschs berührte ihn angenehm.

»Nein, mein Lieber, es ist wohl zu spät ...« sagte er nach einer Pause. »Kannst du dich noch auf die Kerzen besinnen?«

»Was für Kerzen?«

»Du hast es mir ja selbst gesagt: wenn Kerzen am Tage brennen, bedeutet es, daß es im Hause bald eine Leiche geben wird.«

»Gott behüte, Majestät!« stammelte Jegorytsch erbleichend und sich bekreuzigend.

»Was hast du nur, Narr? Darf ich denn gar nicht mehr scherzen? Ich werde dich gewiß überleben. Geh.«

Jegorytsch ging hinaus, sich noch immer bekreuzigend; er war leichenblaß: er liebte seinen Kaiser.

Der Kaiser stand aber auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Obwohl der Schüttelfrost immer stärker wurde, und jeder Schritt, den er machte, schmerzhaft in seinem Kopfe widerhallte, fürchtete er, sich hinzulegen, um nicht wieder so schrecklich zu träumen. Er mußte sich ja auch etwas überlegen, etwas endgültig beschließen. Was hatte er? Ja, er war krank, vielleicht lebensgefährlich krank. Was fürchtete er aber? Den Tod? Nein, nicht den Tod. Er glaubte auch nicht, daß er sterben werde. Er wollte Jegorytsch doch nur auf die Probe stellen und staunte, daß dieser es ihm so leicht glaubte. Nein, er fürchtete nicht den Tod, sondern etwas, was noch schrecklicher als der Tod war. »Das Brot, das Sie essen, ist vergiftet; das Wasser, das Sie trinken, ist vergiftet; die Arzneien, die man Ihnen gibt, sind vergiftet.« Hatte er, übrigens, diese Anzeige auch wirklich bekommen? Ja, gewiß, das war kein Traum: das wußte er auch jetzt ganz genau, daß er den Brief verbrannt hatte, nachdem er im Brot ein Steinchen gefunden. Hatte er aber der Anzeige wirklich Glauben geschenkt und glaubte er noch jetzt an sie? Nicht umsonst war das Papier im Traume an seinen Fingern kleben geblieben; nun klebte es an seiner Seele, wie ekelhaft!

Er blieb stehen und betrachtete seine Finger; die Nägel waren vor Fieberfrost ganz blau geworben; vielleicht hatte es auch eine andere Ursache; er beleckte mit der Zunge den Gaumen: ja, er hatte noch immer den merkwürdigen metallischen Geschmack im Munde, Übelkeit und faules Aufstoßen. Er hatte auch die langsam saugenden Leibschmerzen, ganz wie damals in Bachtschissaraj, als er den verdorbenen Sirup getrunken hatte, »Vielleicht ist es schon zu spät; vielleicht fließt das Gift bereits in Ihren Adern ...« Er wurde wütend. War er denn schon wirklich so weit? Das Steinchen im Brot, der verdorbene Syrup, – das war ja heller Wahnsinn!

Ja, gewiß war er vergiftet. Wie langsam, wie langsam wirkte das Gift! Er hatte sich damit noch in der schrecklichen Nacht vom 11. März vergiftet. Das wußten sie auch. Sie hatten recht, und darin lag ihre Stärke, damit konnten sie ihn aus der Ferne töten. Es gibt ja auch solch eine Zauberei: man formt ein Männchen aus Wachs und durchsticht ihm das Herz mit einer Nadel; der Feind geht dann zugrunde. Ja, in seinen Adern floß Gift: dieses Gift war die Furcht, wovor? Wenn es noch eine Furcht vor etwas wäre! Er hatte aber schon längst eingesehen, daß seine Furcht viel schrecklicher als das Allerschrecklichste war. Es war nicht die Furcht vor irgend etwas, sondern jene nackte, grundlose, sinnlose, gemeine tierische Furcht, vor der die Eingeweide kalt werden und sich umdrehen, von der der Schüttelfrost kommt. Es war die Furcht vor der Furcht. Zwei Spiegel stehen einander gegenüber, jeder spiegelt sich im anderen, und sie vertiefen sich beide bis in die Unendlichkeit. Und das Licht des Bewußtseins ist wie das Licht einer Kerze zwischen den beiden Spiegeln: es wird trübe, versinkt in der unendlichen Tiefe und erlischt, und dann kommt Finsternis, Finsternis und Wahnsinn ...

Plötzlich fiel ihm ein, wie sein Bruder Konstantin als Kind im Spiele einen Hund tötete, indem er ihm ein Stück Brot, in dem eine Nadel steckte, zu schlucken gab. »Ein Hund verdient ja auch einen Hundetod!« spottete er ruhig und verächtlich. Und in dieser tiefen Verachtung versank alles: Schmerz, Scham und Furcht.

Er läutete dem Kammerdiener, kleidete sich mit seiner Hilfe schnell aus und legte sich zu Bett. Die Nacht verbrachte er schlaflos, gegen Morgen schwitzte er am ganzen Körper und schlief endlich ein.

Als er erwachte, hatte er fast kein Fieber. Er war nur sehr schwach und gelb; »gelb wie eine Zitrone«, scherzte er, als er sich im Spiegel sah. Er kleidete sich an, wusch sich und rasierte sich wie immer. Dann ging er ins Arbeitszimmer und wärmte sich am Kamm. Wolkonskij las ihm indessen die eingelaufenen Papiere vor; der Kaiser bat wiederholt, lauter zu sprechen: er war wieder ganz taub. »As dief as pots«, scherzte er wieder.

Den ganzen Tag blieb er auf den Beinen und in Uniform. Gegen Mittag bekam er wieder Fieber. Wyllié wollte ihm etwas eingeben, er sagte aber, daß er die Arznei erst abends einnehmen werde. Als Wyllié noch immer darauf bestand, schrie er ihn an:

»Gehen Sie fort!«

Zu Mittag speiste er mit der Kaiserin. Zuerst gab es eine Graupensuppe. Er aß etwas davon und sagte:

»Ich habe doch mehr Appetit, als ich glaubte.«

Dann reichte man ein Zitronengelee. Er versuchte es und verzog das Gesicht:

»Es schmeckt so sonderbar! Versuchen Sie.«

»Ist es Ihnen zu sauer?«

»Nein, der Geschmack kommt mir so eigentümlich metallisch vor. Schmecken Sie es denn nicht?«

Er ließ den maître d'hôtel Miller kommen und befahl ihm, vom Gelee zu kosten.

»Es ist nicht das erstemal, daß ich diesen metallischen Beigeschmack merke. Sag' mir, mein Lieber, ist das Kochgeschirr auch ordentlich verzinnt?«

Nach dem Essen lag er im Halbschlummer auf dem Sofa. Die Kaiserin saß mit einem Buch an seiner Seite. Wyllié brachte die Rebe wieder auf die Arznei.

»Morgen«, sagte der Kaiser.

»Sie haben versprochen, sie noch heute einzunehmen.«

»Du bist wirklich sonderbar, mein Bester! Was soll ich mit dir tun? Wenn ich sie jetzt einnehme, werde ich nachts nicht schlafen können.«

»Sie werden schlafen können. Bis zum Abend wirkt das Mittel.«

Die Kaiserin warf ihm einen flehenden Blick zu.

»Sie glauben, Lise? ...«

»Ja, ich bitte Sie darum.«

»Gut, gib das Zeug her.«

Wyllié ging hinaus, um das Mittel zu bereiten, und brachte nach einer halben Stunde acht Pillen.

»Was ist das?«

»Sechs Gran Kalomel und eine halbe Drachme Jalappenwurzel. Das Abführmittel, das Sie gewöhnlich zu nehmen pflegen.«

»Kalomel ist doch Quecksilber?«

»Ja, versüßtes Quecksilber.«

»Gift?«

»Alle Arzneien sind Gifte, Majestät. Nach dem russischen Sprichworts treibt ein Holz das andere ...«

»Ein Keil treibt den anderen?«

»Das ist es eben: ein Gift wird durch ein anderes Gift herausgetrieben; das Gift der Krankheit durch das Gift der Arznei.«

Er nahm die Pillen ein und begab sich aus sein Zimmer. Den Abend verbrachte er wieder mit der Kaiserin. Sie waren beide in guter Laune, oder schienen es zu sein, und unterhielten sich von den neuesten Klatschgeschichten von Taganrog. Sie sprachen von der Gerichtspräsidentengattin Uljana Andrejewna, die man erwischt hatte, als sie mit dem Fernrohr vom Dachboden aus ins Palais hinüberguckte; sie gedachten auch der Petersburger Überschwemmung, die sich morgen, am 7. November, zum ersten Male jährte. »So Gott will, wird dieses Jahr glücklicher sein!«

Er stand plötzlich auf und bat sie, hinauszugehen.

»Was haben Sie?«

»Nichts. Ich glaube, das Mittel wirkt.«

Es wirkte auch wirklich sehr prompt; er fühlte sich erleichtert, auch das Fieber nahm ab.

»Nun sehen Sie es selbst, Lise: das Ganze ist gar nicht der Rebe wert und wird bald von selbst vergehen.«

»Gott sei Dank! Und Sie wollten die Pillen nicht einnehmen!«

Am nächsten Tag gestand er ihr aber, daß er sie gar nicht darum hinausgeschickt hatte, weil das Mittel wirkte, sondern weil ihn plötzlich ein so schweres Unlustgefühl überfallen hatte, daß er gar nicht wußte, was er mit sich anfangen sollte; er wollte nicht, daß ihn irgend jemand in diesem Zustand sähe.

Er war nach Taganrog an einem Donnerstag zurückgekehrt; am Freitag, Sonnabend und Sonntag war er noch immer krank: in seinem Zustand trat weder Besserung noch Verschlimmerung ein; oder er fühlte sich bald besser, und bald wieder schlechter, wenn man ihn aber fragte, wie er sich fühle, antwortete er immer dasselbe:

»Gut, sehr gut!«

Er änderte nichts an seiner gewohnten Lebensweise. Ganze Tage verbrachte er in Uniform und auf den Beinen; wenn aber das Fieber doch zur stark wurde, legte er sich aufs Sofa und hüllte sich in eine Bettdecke oder einen alten Pelzmantel. Zur gewohnten Stunde stand er morgens auf, ging abends zu Bett und aß zu Mittag und zu Abend. Wenn er sich an den Tisch setzte, um ein Glas Brot- oder Apfelwasser mit Johannisbeersyrup zu trinken, bekreuzigte er sich, als ob es eine richtige Mahlzeit wäre; er trank und lobte das Wasser:

»Ein wunderbar erfrischendes Getränk! Wolkonskij hat es mir gegeben; er hat es von seiner Schwester, und diese von jemand, den sie auf einer Reise kennen gelernt hat. Man sagt, daß es bei Gallensucht besser als alle Arzneien sei.«

Wyllié blickte er immer wütend an. Wenn ihm dieser das unschuldigste Abführmittel reichte, schwieg er, verzog das Gesicht oder fertigte ihn mit einem Scherze ab.

»Ach, Jakow Wassiljewitsch, dich habe ich ordentlich satt!«

Oder er wurde zornig:

»Lassen Sie mich doch in Ruhe! Sehen Sie denn nicht, daß ich von Ihren Arzneien krank bin? Wenn ich etwas einnehme, wird es mir gleich schlechter.«

Er befaßte sich auch mit den laufenden Geschäften, oder stellte sich so, als ob er es täte.

»Sie sollten weniger Papiere lesen, Majestät, es schadet Ihnen nur,« sagte Wolkonskij.

»Ich wäre froh, wenn ich es lassen könnte, mein Freund, was soll ich aber tun? Es ist eben meine Gewohnheit; wenn ich eine Zeitlang nichts tue, spüre ich gleich eine entsetzliche Leere im Kopf. Wenn ich in Pension gehe, werde ich wohl ganze Bibliotheken verschlingen; sonst werde ich vor Langeweile noch verrückt.«

Er schickte die Kaiserin täglich zur gewohnten Stunde spazieren.

»Warum sind Sie heute nicht ausgegangen? Das Wetter ist doch prächtig. Sie müssen viel an der Luft sein.«

Sie wagte ihm aber nicht zu gestehen, daß sie sich fürchtete, ihn allein zu lassen. Wenn sie einige Stunden nicht bei ihm gewesen, und dann wieder sein Gesicht sah, stach sie die Angst ins Herz; doch so stumpf, daß es nicht sehr weh tat: so stechen Herbstfliegen. Dann erwachte wieder die Hoffnung; Angst und Hoffnung wechselten miteinander ab, wie in einer windstillen Sommernacht kalte und warme Luftströmungen. Doch auch in der Angst spürte sie ihr Glück, jenes eigentümliche Wohlgefühl, das sie immer während seiner Krankheit empfand: als ob er ein kleiner Junge wäre, und sie ihn bemuttere.

Sie brachte ihm Zeitungen und Zeitschriften. Er liebte besonders die Modezeitschriften: er verstand ziemlich viel von Damenmoden. Sie sahen sich zusammen die Bilder an und spielten mit den Muscheln, die sie einst am Strande vor der Quarantäne gesammelt hatten.

»Sie bringen mir immer neue Spielsachen, mein liebes Mamachen!« scherzte er.

Wenn er sich etwas besser fühlte, plauderte er, scherzte und machte Pläne, wie sie in Oreanda leben würden; oder er erzählte ihr die neuesten Taganroger Anekdoten: von den kalmückischen Fürsten, die beim Oberst Fredericks zum ersten Male in ihrem Leben ein Klavier zu hören bekamen; sie waren anfangs erschrocken, gerieten aber dann in solches Entzücken, daß alle, die es sahen, lachen mußten; vom Kreisarzt, dem Franzosen Meunier, einem großen Aufschneider, der irgendeinen persischen Orden mit grüner Schärpe trug und behauptete, den Schah und seinen ganzen Harem behandelt zu haben: »et peut-être on verra un jour un Schah de ma façon«.

Das Gespräch kam einmal auf Byron; die Kaiserin las gerade die letzten Gesänge des Don Juan, in denen der Dichter recht verächtlich vom russischen Zaren spricht.

»Sein Genie gleicht dem Glanze eines unheilbringenden Meteors,« sagte der Kaiser. »Die Poesie eines Byron rief einen Sand und einen Louvel ins Leben. Ihn rühmen, heißt ein Mordwerkzeug, das zum Verderben der Menschheit erfunden ist, rühmen. Eine solche Anwendung des Talents verdient nicht die Ehre, die man einem Genie schuldig ist, und hat keinen Wert, besonders bei christlichen Völkern ...«

Sie widersprach ihm und behauptete, daß Byron zwar ein verirrter, doch kein schlechter Mensch sei.

»Übrigens gibt es ja jetzt auch bei uns Nachahmer von Byron,« bemerkte er. » Ihr Puschkin ...«

»Ja, mein Puschkin! Warum lieben Sie ihn nicht? Er ist die Ehre Rußlands, er ist der größte Ruhm Ihrer Regierung ...«

»Lassen Sie es, meine Liebe. Gott möge mich vor solcher Ehre bewahren! Er hat ganz Rußland mit seinen empörenden Versen überschwemmt. Dieser Mensch ist zu allem fähig. Man sagt, daß er seinen leiblichen Vater beinahe umgebracht hat ...«

»Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr! Gemeine Verleumdung! Wie können Sie es nur sagen? Sie wissen es ja selbst, Schukowskij hat Ihnen alles erzählt! ...« schrie sie auf. Plötzlich erschrak sie: – Was tue ich? Ich schreie einen Kranken an! – Sie erschrak und freute sich zugleich: folglich war er doch nicht so sehr krank.

Wenn er sich aber schlecht fühlte, ging er in sein Arbeitszimmer und versteckte sich vor ihr; oder er legte sich aufs Sofa, bat sie zu lesen und auf ihn nicht zu achten. Sie stellte sich so, als ob sie läse, beobachtete ihn aber heimlich hinter dem Buche hervor; die Angst stach sie wieder ins Herz, stumpf wie eine Herbstfliege.

Einmal schlief er auf dem Sofa, und sie saß mit einem Buch an seiner Seite, plötzlich öffnete er die Augen, blickte mit einem Lächeln, das heiter schien, auf, schloß sie sofort wieder und schlief ein. Erst später, in der schwersten Stunde, begriff sie, was dieses Lächeln bedeutet hatte.

In der Nacht von Sonntag auf Montag schwitzte er so stark, daß man einige Male die Wäsche wechseln mußte. Am nächsten Tag war er fieberfrei. Wyllié triumphierte und erklärte, daß man die Krankheit für überstanden betrachten dürfe: wenn das Fieber noch wiederkehre, so werde es ein intermittierendes sein und dann bald gänzlich vergehen. »Febris gastrica biliosa« nannte er die Krankheit, und alle beruhigten sich dabei.

Der Kaiser verbot, nach Petersburg von seiner Krankheit zu berichten.

»Ich fürchte die Extraposten; daß man Mamachen nur nicht erschrickt!«

Die letzte Post wurde aufgehalten, und mit der nächsten, am Montag, als er sich besser fühlte, ließ er der Kaiserin Maria Fjodorowna und dem Thronfolger schreiben, daß er krank gewesen war und jetzt auf dem Wege zur Besserung sei; er beauftragte Dibitsch, einen Kurier nach dem Fürsten Valerian Michailowitsch Golitzin zu schicken.

»Es geht ihm Gott Lob viel besser,« schrieb die Kaiserin am gleichen Tage ihrer Mutter, der Herzogin von Baden. »So Gott will, wird die Krankheit, wenn Sie diesen Brief erhalten, ganz vorüber sein.«

Doch am Abend des gleichen Tages verschlimmerte sich sein Zustand wieder. Er beherrschte sich und begann die Anekdote von den Kalmücken zu erzählen; er hatte wohl vergessen, daß er sie ihr schon einmal erzählt hatte.

»Warum tragen Sie nicht Trauer um den König von Bayern?« fragte er ganz unvermittelt.

»Ich habe am Tage Ihrer Rückkehr die Trauerkleidung abgelegt, und hatte später keine Lust, sie wieder anzuziehen ...«

»Warum hatten Sie keine Lust?« fragte er sie mit dem gleichen Blick, mit dem er Jegorytsch nach den Kerzen gefragt hatte.

Sie errötete. Sie wußte selbst nicht, warum sie die Trauerkleidung nicht wieder angelegt hatte; erst jetzt, als er sie danach fragte, begriff sie, warum sie sie nicht anlegte.

»Ich werde von morgen ab wieder Trauer tragen,« sagte sie schnell.

»Nein, es ist ja ganz gleich ...«

Wyllié trat ins Zimmer; als er den Kranken anblickte, nahm sein Gesicht einen sehr ernsten Ausdruck an, und sie erriet, daß es schlecht mit ihm stand.

Die Nacht verbrachte er ohne Schlaf und hatte starkes Fieber. Am Morgen nahm er wieder sechs Abführpillen ein. Er bekam heftige Magenkrämpfe, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall; er wurde so schwach, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte.

Er lag auf dem Sofa, in seinen alten Mantel gehüllt, mit einer Flanellbinde auf dem Magen, mit geschlossenen Augen, und dachte, ob er noch einmal werde aufstehen müssen. Er dachte angestrengt nach und starrte auf das unbewegliche wie aus Erz gemeißelte Gesicht Napoleons, das im roten Nebel langsam vor den entzündeten Augenlidern auftauchte; es kam immer näher, und die feinen Lippen bewegten sich und schienen etwas zu sagen; er wußte, daß es etwas sehr Wichtiges und Notwendiges war, wovon seine Rettung oder sein Verderben abhing; er konnte aber kein Wort verstehen: er war »taub wie ein Topf«.

Plötzlich verschwand das Gesicht Napoleons, und an seiner Stelle erschien das Gesicht Jegorytschs. Er bewegte ebenso lautlos die Lippen.

Er kam zu sich und begriff, daß Jegorytsch wirklich vor ihm stand.

»Was willst du? Lauter, lauter! Warum flüstert ihr alle?«

»Es ist Oberst Nikolajew, Majestät. Befehlen Majestät, ihn vorzulassen?« schrie Jegorytsch.

Der Kaiser erinnerte sich, daß er gestern, als er sich besser fühlte, Nikolajew zu sich befohlen hatte. Jetzt fühlte er sich wieder zu schwach. Endlich sagte er zu Jegorytsch:

»Er soll kommen.«

Noch in den ersten Tagen seines Aufenthalts in Taganrog war ihm Oberst Nikolajew vom Leibgarde-Kosakenregiment, der Kommandeur der Taganroger Schloßwache aufgefallen: ihm gefiel sein Gesicht, das zwar weder besonders schön, noch besonders klug war, dafür aber große Ehrlichkeit, Offenheit und Güte ausdrückte. Als er sich dem Kaiser vorstellte und ihn nach Soldatenart begrüßte: »Ich wünsche Wohlergehen Euerer kaiserlichen Majestät!«, mußte dieser lächeln; er sagte sich: »ein braver Bursche!« Auch später, so oft er ihm begegnete, lächelte er ihm zu, und Nikolajew sah ihm immer ergeben, begeistert und verliebt in die Augen, was der Kaiser bei allen Menschen über alles schätzte.

Ende September erhielt er durch Araktjeschew einen Brief Sherwoods; dieser ersuchte, nach Charkow jemand Zuverlässigen zu schicken, um die endgültigen Maßregeln zur Aufdeckung der Verschwörung zu ergreifen. Der Kaiser beschloß, eben diesen Nikolajew hinzuschicken. Er schob es aber immer hinaus; als er bereits krank war, fürchtete er, den bereits festgesetzten Termin, den 15. November, zu verpassen, und dies quälte ihn. Daher empfing er ihn jetzt trotz seines Zustandes: man schrieb bereits den 10. November, es blieben also nur noch fünf Tage bis zum 15.

Als Nikolajew erschien, befahl ihm der Kaiser, die Türe abzuschließen und an seiner Seite Platz zu nehmen. Er erkundigte sich, wer seine Eltern seien, wo er seine Erziehung genossen, in welchen Regimentern er gedient und an welchen Feldzügen er teilgenommen habe. Je länger er mit ihm sprach, um so mehr gefiel ihm der Offizier.

»Ich will dich mit einer wichtigen Sache betrauen, Nikolajew.«

»Ich bin glücklich, Euerer Majestät dienen zu können!«

Der Kaiser schloß die Augen und fühlte plötzlich, daß er gar nicht sprechen konnte. Das Blut hämmerte in seinen Schläfen, und vor den Augen wurde es ihm so finster, daß er fürchtete, ohnmächtig zu werden. Er schwieg eine geraume Weile; schließlich begann er mit der gleichen Anstrengung, mit der ein tödlich Verwundeter den Stahl aus seiner Wunde zieht:

»In Rußland besteht eine politische Verschwörung.«

Und er erzählte alles, was Nikolajew von der Geheimen Gesellschaft zu wissen brauchte.

»Reise sofort nach Charkow. Du mußt dort unbedingt vor dem 15. eintreffen, um die Papiere abzufangen, die Fähnrich Wadkowskij mit dem Leutnant Grafen Nikolai Bulgari nach Petersburg geschickt hat. Unter diesen Papieren findest du ein Verzeichnis der Verschwörer. Was du weiter tun sollst, wird dir Sherwood sagen ...«

Er dachte nach und fügte hinzu:

»Alle Ratschläge und Erklärungen Sherwoods mußt du mit der größten Vorsicht aufnehmen ... Was wollte ich noch sagen? Ja. Paß auf, daß es niemand erfährt. Du sollst niemand ein Wort davon sagen, hörst du?«

»Zu Befehl, Majestät.«

Der Kaiser erhob sich und wankte. Nikolajew stützte ihn, und mit seiner Hilfe ging der Kaiser zum Tisch. Er entnahm der Schatulle eine Geldsumme, einen Reisepaß und einen Befehl des Generalstabschefs General Dibitsch für den Unteroffizier Sherwood. Alle diese Papiere lagen seit gestern bereit. Dibitschs Befehl lautete:

»Laut Ihres an den General der Artillerie Grafen Araktschejew gerichteten Schreibens vom 20. September begibt sich im allerhöchsten Auftrage Oberst Nikolajew vom Leibgarde-Kosakenregiment nach Charkow mit der Vollmacht Seiner Majestät, in die bewußte Angelegenheit einzugreifen.«

Er händigte ihm die Schriftstücke ein und legte sich wieder aufs Sofa.

»Hast du es verstanden?«

»Zu Befehl, ja, Majestät,« erwiderte Nikolajew. Er dachte eine Weile nach und fragte noch:

»Befehlen Majestät die Verschwörer zu verhaften?«

Der Kaiser gab ihm keine Antwort und schloß wieder die Augen. Er wußte, daß es genügte, nur das eine Wort »verhaften« auszusprechen, um allem ein Ende zu machen und den Stahl aus der Wunde herauszuziehen; dies eine Wort würde ihn retten und heilen. Er wußte es, und doch konnte er das Wort nicht aussprechen; er fühlte, wie sich der Stahl in der Wunde umdrehte, doch nicht herauskam.

»Befehlen Majestät die Verschwörer zu verhaften?« wiederholte Nikolajew die Frage; er glaubte, daß der Kaiser sie vorhin überhört habe.

Der Kaiser hob die Augenlider und blickte Nikolajew so an, daß dieser erschrak.

»Wie du willst. Ich verlasse mich ganz auf dich ...«

»Zu Befehl,« stammelte Nikolajew erbleichend.

»Also reise in Gottes Namen ... Nein, warte, gib mir die Hand.«

Nikolajew reichte ihm die Hand, und der Kaiser behielt sie lange in der seinen. Er blickte ihm lange schweigend in die Augen.

»Bist du ein treuer Diener?« fragte er schließlich.

»Zu Befehl, ja, Majestät!« antwortete Nikolajew, und seine Augen strahlten begeistert und verliebt. »Ich flehe Gott nur um das eine an: daß ich für Euere Majestät mein Leben lassen könnte!«

»Du bist wirklich ein braver Bursche! Ich danke dir, mein Lieber. Gott möge dir helfen. Komm her, ich will dich bekreuzigen.«

Nikolajew kniete vor ihm nieder und begann zu weinen. Der Kaiser umarmte ihn; auch ihm traten Tränen in die Augen. –

Am Abend lag er wieder auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer. Die Kaiserin saß wie immer an seiner Seite mit einem Buch in der Hand und beobachtete ihn wie immer verstohlen, ohne zu lesen.

»Warum sind Ihre Augen so rot, Lise?«

»Ich habe Kopfweh. Es kommt wohl vom Ofendunst: man hat den Ofen im Schlafzimmer zu früh geschlossen ...«

Sie wurde verlegen, denn sie konnte nicht lügen: sie hatte rote Augen, weil sie geweint hatte. Er blickte sie an und dachte: – Soll ich ihr vielleicht doch alles sagen? Nein, es ist zu spät. Warum soll ich sie noch damit quälen? Sie hat wieder die Augen des totgehetzten Pferdes, das damals mit blutigem Schaum auf den Lefzen auf der Landstraße verendete. Die Arme! Die Arme! –

»Geben Sie mir Ihre Hand.«

Er küßte ihr die Hand und lächelte.

»Beruhigen Sie sich, seien Sie doch vernünftig!«

Wyllié mischte etwas in einem Glase; dann reichte er es dem Kaiser.

»Was ist das?«

»Einige Tropfen acidum muriaticum. Majestät geruhen immer über einen schlechten Geschmack im Munde zu klagen. Das wird Ihnen helfen.«

Der Kaiser stieß seine Hand sanft zurück. Wyllié reichte ihm aber wieder das Glas.

»Geruhen Majestät, es auszutrinken.«

»Ich will nicht.«

»Ich bitte, trinken Sie es doch aus!«

»Ich will nicht! Geh fort!«

Wyllié hielt ihm noch immer das Glas vors Gesicht. Der Kaiser ergriff das Glas und warf es auf den Fußboden.

»Zum Teufel! Schert euch alle zum Teufel! Mörder! Mörder! Giftmischer!« schrie er außer sich. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut und erinnerte in diesem Augenblick an das Gesicht des Kaisers Paul I.

Die Kaiserin lief hinaus. Wyllié ging auf die Seite und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Jegorytsch kroch auf allen Vieren herum und sammelte die Glassplitter auf.

Der Kaiser fiel erschöpft in die Kissen zurück und blieb einige Minuten unbeweglich liegen; dann blickte er Wyllié an und sagte:

»Jakow Wassiljewitsch! ... Wo bist du denn, Jakow Wassiljewitsch? Komm einmal her. Zürne mir nicht. Wir wollen wieder Freunde sein. Siehst du denn nicht selbst, daß ich meine Gründe habe, mich so zu benehmen?«

»Was für Gründe, Majestät? Wenn Sie mir nicht vertrauen, berufen Sie doch einen anderen Arzt. Doch ich kann es nicht, ich kann nicht sehen, wie Sie sich selbst morden ...«

Er weinte. Der Kaiser sah ihn erstaunt an: er hatte ihn noch nie weinen sehen.

»Höre einmal, mein Freund. Ich weiß mindestens ebensogut wie du, was mir nützt und was mir schadet. Ich brauche jetzt nur Ruhe.«

Er schwieg eine Weile und fuhr französisch fort:

»Berücksichtigen Sie doch, bitte, meine zerrütteten Nerven. Reizen Sie mich nicht mit Ihren wirkungslosen Mitteln ...«

Wyllié gab keine Antwort und wurde nachdenklich.

»Ich habe dich wohl tot gequält, Jakow Wassiljewitsch,« sagte der Kaiser mit seinem alten herzlichen Lächeln zu ihm und drückte ihm die Hand. »Sage doch Tarassow, daß er dich ablöst. Geh, ruh' dich etwas aus.«

– Er traut mir nicht! – dachte sich Wyllié und fühlte sich anfangs verletzt; er konnte ihm aber nicht zürnen, denn er liebte ihn ebenso zärtlich wie Wolkonskij und Anissimow.

»Majestät, lassen Sie sich doch von irgend jemand anderem behandeln, von wem Sie wollen, doch hören Sie um Gottes willen auf den Arzt! Wenn Sie keine Arzneien wollen, kann man Sie ja auch zur Ader lassen ...«

»Zur Ader lassen?« wiederholte der Kaiser und blickte ihn mit einem seltsamen Lächeln an. »Fürchtest du dich denn nicht?«

»Was sollte ich denn fürchten? Es ist ja etwas ganz Gewöhnliches ...«

»Blut ist etwas Gewöhnliches?« fragte der Kaiser mit dem gleichen Lächeln. »Es ist doch schrecklich, Menschenblut zu sehen; ist es nicht noch schrecklicher, das Blut eines Zaren zu sehen? Oder ist es ganz gleich, ob Menschenblut oder Zarenblut? ... Ich weiß, mein Lieber, du bist ein Meister im Aderlassen. Das Werk lobt den Meister; doch es gibt Werke, die der Meister selbst fürchtet ... Nein, ich will kein Blut!«

Er faltete die Hände und flüsterte:

»Errette mich vom Blut, Gott, der du mein Gott und Heiland bist!«

Er blickte ihn wieder an.

»Welch ein Werk, mein Freund, welch ein schreckliches Werk!« sagte er so, daß Wyllié glaubte, er phantasiere; er ging leise hinaus und schickte Tarassow zu ihm hinein.

»Ich kann für nichts mehr stehen,« sagte Wyllié zu Wolkonskij. »Es steht mit ihm sehr schlecht, und man muß auf das Schlimmste gefaßt sein. Er will auf niemand hören. Er ist eigensinnig ...«

Er hätte beinahe die Worte Napoleons wiederholt: »eigensinnig wie ein Maulesel«.

»Er ist der mächtigste Selbstherrscher, doch die Krankheit ist noch mächtiger als er. Was hat er nur? Was hat er nur?« fügte er nachdenklich hinzu, »wenn ich nur wissen könnte, was er hat ...«

»Sie glauben, daß es nicht das Fieber ist?« fragte Wolkonskij.

»Nein, ich denke an etwas anderes,« entgegnete Wyllié: »es ist nicht die Krankheit, jedenfalls nicht die Krankheit allein.«

Wyllié und Wolkonskij führten dieses Gespräch im großen Audienzsaal, neben dem Arbeitszimmer des Kaisers. Im Saale war es finster, und in der finstersten Ecke stand die Kaiserin mit dem Gesicht zur Wand und weinte. Sie konnten sie nicht sehen. Sie lauschte dem Gespräch und hörte plötzlich zu weinen auf. Sie ging leise hinaus, warf sich in ihrem Zimmer aufs Sofa und vergrub das Gesicht in den Kissen. In ihr war alles erstarrt, versteinert, erstorben.

»Was hat er nur? Was kann es sein? Die Verschwörung, die Geheime Gesellschaft, das ist es wohl! Ich habe es aber ganz vergessen, ich habe nur an mich und nicht an ihn gedacht. Er stirbt daran, und ich kann nichts, nichts, nichts dagegen tun!«

Sie erinnerte sich plötzlich, wie glücklich sie in der letzten Nacht vor seiner Rückkehr aus der Krim gewesen war, als sie vor den Sternen kniete, weinte, betete und Gott dankte. Ja, Gott strafte sie jetzt dafür, daß sie ihn so sehr liebte. Warum aber gerade jetzt, da sie so glücklich war? Warum? Wofür?

Die nächsten drei Tage vom 11. bis zum 13. November blieb sein Zustand unverändert. Weder besser noch schlimmer. Die Krankheit spielte mit ihm wie eine Katze mit der Maus. Er stand noch immer jeden Morgen auf und machte Toilette, konnte aber nicht mehr herumgehen und verbrachte den größten Teil des Tages auf dem Sofa. Seine Kräfte nahmen sichtbar ab. Das Fieber hörte nicht auf. Es war kein intermittierendes Fieber, wie es die Ärzte erhofften, sondern ein kontinuierliches. Die Ärzte sprachen nicht mehr von Febris gastrica biliosa und fürchteten, daß er ein hitziges Fieber bekommen werde; am meisten beunruhigte sie seine ständige Schläfrigkeit. Sie erlaubten ihm nicht viel zu schlafen, und weckten ihn mehrere Male am Tage.

»Weckt mich doch nicht, laßt mich schlafen!« flehte er. »Laßt mich in Ruhe, laßt mich um Gottes willen in Ruhe! Ich brauche nichts als Ruhe. Mir ist so wohl, ich fühle mich so ruhig ...«

Und er schlief wieder ein.

– Es ist doch der Tod? – fragte er sich einmal. – Nun, wenn es auch der Tod ist, Gott sei Dank! –

Es war keine Angst, sondern eine Erlösung, eine letzte Befreiung; es war eine grenzenlose Hoffnung, jener geheimnisvolle Ruf, den er einst in den Schreien der Kraniche und im jähen Sturze des Kometen wahrgenommen hatte.

In einem der seltenen Augenblicke, da er bei vollem Bewußtsein war, rief er Dibitsch zu sich heran und fragte ihn:

»Hast du den Kurier nach dem Fürsten Valerian Golitzin abgeschickt?«

»Zu Befehl, ja, Majestät,« antwortete Dibitsch. Er wollte noch etwas sagen, doch der Kaiser schien so schwach, daß er es bleiben ließ und schweigend aus dem Zimmer ging.


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