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II.

In der folgenden Nacht schlief die Kaiserin sehr schlecht. Sie hatte Kopfweh, es war ihr zu heiß, und im Halbschlummer schien es ihr, als ob irgendwo Riesenhände einen Riesenteppich ausklopften. Es waren aber die Kanonenschüsse von der Peter-Pauls-Festung, die das Steigen des Wassers ankündigten.

Als am Morgen der Kamin eingeheizt wurde, füllte sich das Zimmer mit Rauch.

»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß die Ofen nicht in Ordnung sind,« sagte sie geärgert zur diensthabenden Hofdame Walujewa.

»Nein, Majestät, die Ofen sind in Ordnung; es ist nur der Wind.«

»Ja, der Wind ... der Wind, der in Ihrem Kopfe weht, Fräulein! Ich habe ja noch vorgestern befohlen, es dem Heizer zu sagen.«

»Majestät haben es nicht mir, sondern Mademoiselle Ssablukowa befohlen.«

»Das ist ganz gleich. Sie finden immer eine Ausrede.«

»Es ist wirklich nicht meine Schuld, Majestät! Was auch geschieht, für alles werde ich verantwortlich gemacht ...« Fräulein Walujewa war im Begriff zu weinen, und ihr unschönes und unkluges Vogelgesicht erschien noch häßlicher. »Madame Pitt, Fürstin Wolkonskaja, Mademoiselle Ssablukowa – alle stehen in großer Gunst ... Nur ich allein bin die Unglückliche und muß immer und überall die Verantwortung tragen! Ich weiß es ja, daß Majestät mir nicht gewogen sind ...«

Solche Auftritte wiederholten sich jeden Tag. Die Hofdamen zankten sich, waren aufeinander eifersüchtig und quälten sie. Sie hatte schon längst beschlossen, diesen ewigen Reibereien ein Ende zu machen.

Als sie jetzt die weinende Walujewa vor sich sah, wollte sie auffahren, sie anschreien, mit den Füßen stampfen und sie wegjagen.

Sie beherrschte sich aber und sagte kalt und gehässig:

»Hören Sie mal, Walujewa, ich weiß, daß Sie sich aufs Weinen verstehen. Ich will es aber nicht länger dulden! Wenn Ihnen mein Charakter unangenehm ist, so verlassen Sie, bitte, Ihren Posten; niemand hält Sie zurück. Bin ich nun gut, oder schlecht, jedenfalls werde ich mich Ihretwegen nicht ändern. Die anderen können doch alle recht gut mit mir auskommen ... Gehen Sie und lassen Sie sofort den Heizer kommen.«

Walujewa verließ noch immer weinend das Zimmer.

Der Heizer kam, untersuchte den Kamin, und bestätigte, daß alles in Ordnung sei und daß der Wind das Heizen unmöglich mache; der Sturm sei so stark, daß er die Schornsteine zu zerbrechen drohe.

Die Kaiserin begab sich in ihr Arbeitszimmer, das noch vom vergangenen Abend geheizt war. Sie zitterte vor Kälte und hüllte sich in ein warmes Tuch; doch sie überwand mit gewohnter Willensanstrengung den Schüttelfrost, trank Tee und nahm die Geschäfte der patriotischen Gesellschaft vor. Sie las die eingelaufenen Schriftstücke, von denen sie die einen unterschrieb und die anderen zur Seite legte, um sie später mit ihrem Sekretär Longinow durchzunehmen.

Sie mußte wieder an den Auftritt mit Walujewa denken. Sie schämte sich: warum hatte sie das arme Mädchen gekränkt? War es denn ihre Schuld, daß sie so dumm war? Und waren denn die anderen besser? Hat denn die Kaiserinmutter nicht recht, wenn sie immer über den schlechten Charakter ihrer Schwiegertochter klagt? Sie ist immer schlechter Laune und darum auch krank.

Sie wollte schon die Walujewa kommen lassen, um sich mit ihr zu versöhnen. Diese kam aber selbst hereingestürzt:

»Majestät, sehen Sie nur, was ist denn das?«

Die Kaiserin blickte zum Fenster hinaus und traute ihren Augen nicht: das Wasser in der Newa war so hoch gestiegen, daß es beinahe die Quaimauer berührte. Die riesengroßen bleigrauen und schwarzen schweren Wellen bäumten sich wie böse Ungeheuer, die man gegen das Fell streichelt. Der Wasserstaub, der wie eine Dampfwolke emporstieg, ließ aus die ungeheure Stärke des Windes schließen.

Auf dem Quai drängten sich zahllose Menschen. Die Kinder lachten, sprangen und vergnügten sich beim Anblick des Wassers, das durch die Gitter der Kanäle gleich Springbrunnen emporschlug und den Straßendamm überschwemmte.

Plötzlich begannen alle zu laufen. Der Quai wurde in einem Augenblick leer, hier und dort schlugen die Wellen über die Granitmauern wie über die Wandung eines überfüllten Wasserbehälters. Nach einigen weiteren Augenblicken verschwand die Straße unter dem Wasser, und die Wellen schlugen an die Mauern des Schlosses.

»Es ist eine Überschwemmung! Eine Überschwemmung!« schrie Walujewa so entsetzt, als ob das Wasser sofort ins Zimmer dringen würde.

Die Kaiserin empfand aber jene unbegreifliche Freude, die den Menschen oft beim Anblick einer nächtlichen Feuersbrunst, wenn der finstere Himmel mit blutrotem Schein bedeckt ist, überfällt. Sie hatte den Wunsch, daß das Wasser noch höher steige, alles überschwemme und vernichte und allem ein Ende mache.

Der Sekretär Longinow trat ein und berichtete von seinen Abenteuern: er wäre beinahe ertrunken, denn das Wasser sei in seine Equipage gedrungen, und so mußte er auf dem Sitz mit untergeschlagenen Beinen kauern; er hatte sich die Füße durchnäßt und hatte das Schuhwerk wechseln müssen; er zeigte lachend die fremden Schuhe, die ihm viel zu groß waren. Auch alle Damen lachten.

»Es ist ein schreckliches Unglück! Zwei Drittel der Stadt stehen unter Wasser,« schloß Longinow. »Ich habe ja immer gesagt, daß die Leute dort, wo solche Katastrophen möglich sind, nicht wohnen dürfen. Petersburg wird noch einmal vom Schicksal der Atlantis ereilt werden ...«

Man entsetzte sich, ächzte und seufzte:

»Die armen Leute! Dieses Unglück! Die vielen Opfer!«

Der Kaiserin schien es aber, daß sie sich alle freuten.

Es war wirklich lustig zu sehen, wie ein Feldjäger seinen Postwagen, dessen Räder das Wasser wie ein Mühlenrad schaufelten, anhalten mußte, denn das Wasser drohte den Wagen wie einen Nachen fortzutragen; der Feldjäger und der Kutscher stiegen aus, spannten die Pferde aus und ritten oder schwammen auf ihnen weiter, indem sie sich an den Ohren der Tiere festhielten. Es war lustig zu sehen, wie ein Bauer an einem Laternenpfahl emporkletterte; der hölzerne Pfahl schwankte im Sturme, der Bauer stürzte ab, verschwand im Wasser, tauchte dann wieder auf und lief oder schwamm weiter; es war klar, daß er bald ertrinken mußte. Auf dem Dach einer Hütte saß ein Hund und heulte jämmerlich mit erhobener Schnauze. Durch die Doppelfenster konnte man weder das Heulen des Sturmes, noch das Rauschen der Wellen, noch die Hilferufe hören; über der toten Wüste des Wassers schien ein totes Schweigen zu herrschen. Vom Winterpalais bis zur Festung brodelte, kochte und zischte ein schmutziger Strom, auf dem Barken, Kähne, Galeotten, Flöße, Zäune, Dächer, Schilderhäuschen, Fischbehälter, Balken, Bretter, Fässer, Warenballen, Tierkadaver und Kreuze von den Gräbern eines weggeschwemmten Friedhofs umhertrieben.

Es waren sechs Grad über Null, doch das Barometer war wie bei einem Sommergewitter gefallen.

Alles lag in jenem finsteren Licht, in dem ein Mensch unmittelbar vor einer Ohnmacht die Dinge sieht. Es war wie der Jüngste Tag. Zuweilen blickte die Sonne durch die Wolken wie das Gesicht eines Toten durch ein Sargtuch aus Gaze, und dann glich alles noch mehr dem Weltuntergang.

Das Fieber der Kaiserin war vergangen. Sie fühlte sich so rüstig, stark und wohl wie in ihrer Kindheit bei einem ausgelassenen Spiele. Sie glaubte, daß, wenn das Wasser wieder sänke und in seine Ufer träte, alles wieder seinen alten Gang nehmen würde: die gleiche Langeweile, der häßliche und banale Alltag, die dummen Auftritte mit der Walujewa, die faden Gespräche mit der Kaiserinmutter und die Geschäfte der patriotischen Gesellschaft. Irgend etwas tat ihr leid; ein Schüttelfrost überlief ihren Körper, und ihre Knie wankten; und sie fühlte sich wieder krank, schwach und alt.

»Nun, Nikolai Michailowitsch, wir haben heute viel zu erledigen,« sagte sie zu dem Sekretär.

Er las ihr seinen Bericht vor, sie hörte ihm zu und gab sich Mühe, nicht mehr an die Überschwemmung zu denken.

Walujewa rief plötzlich wieder:

»Sehen Sie nur, sehen Sie nur, Majestät! Das Wasser ist schon hier! ...«

Und wieder empfand sie dasselbe Gefühl grenzenloser Freude.

»Wir wollen ins Eckzimmer gehen, dort sieht man es besser,« schlug die Kaiserin vor.

Im Korridor hörten sie verzweifelte Schreie:

»Sie sind ertrunken! Sie sind ertrunken! Die lieben Kinderchen sind ertrunken! ...«

Es war die achtzigjährige Witwe eines Kammerlakaien, Stepanida Petrowna Goljaschkina, die inmitten einer Schar von hofbediensteten weinte. Als sie die Kaiserin sah, fiel sie ihr zu Füßen und rief:

»Euere Majestät! Kaiserin! Mütterchen! Erbarmen! Befehlen Majestät ein Boot fertigzumachen! ...«

Sie konnte nicht vernünftig sprechen. Die anderen erklärten der Kaiserin, daß eine Tochter der Alten mit ihrem Manne, einem Gerichtsschreiber, im Stadtteil Tschekuschi auf der Wassiliewskij-Insel dicht am Newaufer wohnten die ganze Gegend war wohl überschwemmt; der Vater begab sich jeden Morgen in die Kanzlei und die Mutter zum Einkaufen; die armen Leute konnten sich keinen Dienstboten halten und sperrten daher, so oft sie das Haus verließen, die beiden Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, in der Wohnung ein. Die Großmutter fürchtete für das Leben ihrer Enkelkinder.

»Kann man nicht ein Boot hinschicken?« wandte sich die Kaiserin an Longinow.

»Bemühen Sie sich nicht, Majestät,« sagte ein alter würdiger Kammerlakai. »Die Alte weiß selbst nicht, was sie spricht. Sie hat wohl vor Angst den Verstand verloren. Wo soll man ein Boot hernehmen? Wer wird sie hinüberfahren? Alle Boote sind ja längst unterwegs ... Beruhige dich, Petrowna! Vielleicht sind sie noch am Leben. Du mußt für sie beten. Komm, Alte. Belästige die Kaiserin nicht.«

Man führte die Alte fort, doch man hörte sie noch lange schreien. In diesem einen Schrei vereinigten sich gleichsam die zahllosen Schreie der Ertrinkenden, und die Kaiserin begriff erst jetzt, was eigentlich vorging.

»Gehen Sie, Nikolai Michailowitsch, erfahren Sie, wo der Kaiser ist.«

Longinow wollte etwas entgegnen, doch sie schrie ihn an:

»Gehen Sie, gehen Sie und tun Sie, was ich Ihnen befehle!«

Sie begab sich ins Eckzimmer und sah zum Fenster hinaus.

Auf der Newa, gegenüber dem Admiralitätsquai ging eben eine der Barken, auf denen die Isaaksbrücke ruhte, unter. Das Wasser hatte die Brücke hochgehoben und in Stücke gerissen; die einzelnen Teile trieben nun in allen Himmelsrichtungen. Auf der untergehenden Barke liefen die Menschen wie die Ameisen herum. Die Kaiserin erkannte das diensthabende Boot mit achtzehn Ruderern der Gardeequipagedivision, das der Barke zu Hilfe eilte; das Boot stand gewöhnlich auf der Newa vor dem Schlosse. Sie sah durch den weißlichen Nebel hindurch, wie das Boot von den Wellen wie eine Nußschale umhergetrieben wurde. Es konnte jeden Augenblick kentern und untergehen. Wenn aber der Kaiser auf diesem Boote war?

Longinow war verschwunden. Sollte sie nicht noch die Walujewa auf die Suche schicken? Nein, diese war zu dumm und konnte nichts ausrichten.

Ein junger Offizier lief durchs Zimmer. Er war ganz durchnäßt und kam wohl direkt aus dem Wasser. Sein liebenswürdiges und einfaches Gesicht, das an das eines Bauernjungen erinnerte, war vor Kälte ganz blau geworden; seine Augen drückten aber das gleiche freudige Grauen aus, das auch die Kaiserin vorhin empfunden. Als er sie sah, blieb er stehen und machte Front.

»Wissen Sie nicht, wo der Kaiser ist?«

»Ich weiß es nicht, Majestät,« erwiderte er zähneklappernd und versuchte zu lächeln. »Die einen sagen, daß er hier im Schlosse sei, die anderen, daß er sich mit dem Generaladjutanten Benkendorf auf dem Boote befinde.«

»Es ist gut, Sie können gehen.«

Er lief weiter, auf dem Parkett Wasserlachen zurücklassend.

Endlich kam Longinow zurück.

»Niemand weiß etwas. Es ist zum Verzweifeln! Ich konnte nichts erfahren. Alle haben den Kopf verloren und rennen wie wahnsinnig herum ...«

»Nikolai Michailowitsch, so geht es nicht! ...« rief sie schluchzend. »Mein Gott! Mein Gott! ... So will ich ihn selbst suchen, wenn ihr es nicht könnt ...«

»Majestät ...«

»Kommen Sie mit!«

Alle drei – die Kaiserin, Walujewa und Longinow – liefen durch die Korridore. Unterwegs begegnete ihnen der Kammerdiener Melnikow. Auch er wußte nicht, wo der Kaiser war.

»Wir suchen selbst nach ihm. Ihre Majestät, Kaiserin Maria Fjodorowna, sind außer sich, wir können ihn nirgends finden!« sagte Melnikow, sich auf die Schenkel schlagend, mit einem so dummen Gesicht, als ob er eine verloren gegangene Nadel suche.

»Dieser Dummkopf!« rief die Kaiserin französisch und rannte weiter.

Der Generaladjutant Fürst Menschikow berichtete, daß man den Kaiser unten an der Kommandantenstiege gesehen habe, und das beruhigte sie ein wenig. Um dorthin zu gelangen, mußte man eine Menge Zimmer passieren.

Das Schloß glich einem aufgewühlten Ameisenhaufen. Die Leute liefen planlos hin und her, eilten, warfen sich nach allen Seiten, stießen zusammen, zankten, schrien, schimpften und verstanden einander nicht.

Der Kaiserin war es, als ob sie dies alles schon einmal in einem Traum erlebt hätte: sie war ebenso über unendliche Stiegen gelaufen, hatte den Kaiser gesucht und ihn nicht gefunden; sie wird ihn wohl auch nie finden.

Soldaten trugen aus den überschwemmten Zimmern vergoldete, mit Seide bezogene Möbelstücke, Bilder, Vasen, Lüster, Spiegel, Küchengeschirr und verschiedene Habseligkeiten des Hofgesindes in die oberen Stockwerke hinauf. Ein Riese mit gutmütigem Gesicht schleppte, wie ein Atlas unter der Bürde gebeugt, auf seinem Rücken einen großen eisenbeschlagenen Koffer, auf dem noch eine Bettstelle mit einem durchnäßten Federbett ruhte; in den Zähnen hielt er einen Käfig mit einem Zeisig.

Einer der Korridore war unpassierbar; man hörte wiehern und Getrampel von Pferdehufen; Longinow trat auf Pferdemist: der Korridor war in einen Pferdestall verwandelt worden. Es waren die Pferde der Großfürstin Maria Pawlowna, die auf dem Schloßplatz gestanden hatten; man hatte sie ausgespannt und ins erste Stockwerk gebracht, um sie vor dem Wasser zu retten.

Auf der steilen und finsteren Treppe rief jemand, der die Kaiserin nicht erkannte, mit roher Stimme:

»Wo wollt ihr denn hin? Es geht nicht weiter: hier steht alles unter Wasser!«

Es schien ihr, daß die unsichtbaren Wellen miteinander tuschelten und etwas Unheildrohendes verabredeten; es war genau so, wie in ihrem Traume.

Man trug etwas, das in weiße Tücher gehüllt war, vorbei.

»Was ist das?« fragte die Kaiserin.

»Eine Ertrunkene,« entgegneten die Träger, »vielleicht gelingt es uns noch, sie mit Gottes Hilfe ins Leben zu bringen.«

Walujewa schrie entsetzt auf und schien einer Ohnmacht nahe: sie fürchtete Leichen über alles.

Als sie bei der Kommandantenstiege anlangten, wurde ihnen gesagt, daß der Kaiser soeben hier gewesen sei und sich in die Eremitage begeben habe, wo ein großes Schiff von der Millionaja gestrandet sei. Sie mußten wieder die gleichen Stiegen hinauflaufen; unterwegs rief ihnen aber jemand zu, daß der Kaiser sich überhaupt nicht mehr im Schlosse befinde: er sei soeben mit dem Ruderboot fortgefahren.

Als sie durch ihre eigenen Gemächer lief, bemerkte sie den zum Frühstück gedeckten Tisch und wunderte sich, daß man noch überhaupt ans Essen denken könnte. Longinow nahm aber noch rasch ein Brötchen und etwas Käse mit und frühstückte im Laufen.

In den großen Paradesälen war noch alles ruhig. Draußen vor den Fenstern ging die Welt unter, doch in einem der Säle saßen am Fenster zwei alte Kammerherren und unterhielten sich gemütlich über das neue Ballett »Zephir und Flora«.

Als sie die Kaiserin bemerkten, neigten sie ehrerbietig ihre kahlen Köpfe.

Der Anblick dieser ruhigen Gesichter gab ihr einigen Trost; doch sie mußte sofort denken: »Diese Leute werden die gleichen Gesichter auch beim wirklichen Weltuntergang bewahren.«

Im blauen Salon standen die Großfürstin Alexandra Fjodorowna und die Hofdame Pljuskowa auf einem Sofa und rafften sich die Röcke.

»Au! Au!« winselte die Hofdame. »Ich habe sie selbst gesehen, kaiserliche Hoheit, es sind ihrer so viele! Sie klettern schon die Mauer herauf.«

»Was gibt es?« fragte die Kaiserin.

»Es sind Ratten, Majestät, wütende Ratten! Eine hat mich beinahe am Bein gebissen ...«

Auch die Walujewa schrie auf und sprang aufs Sofa. Sie fürchtete Ratten nicht weniger als Leichen.

»Sie kommen von unten her, aus den Kellern und unterirdischen Gewölben,« lallte ein buckliger, runzliger und gleichsam verschimmelter Greis, der einer Kellerassel glich; es war der ehemalige Kammerfurier Isotow. »Bei der Überschwemmung des Jahres 1777 gab es im Schlosse so viele Ratten und Mäuse, daß die in Gott ruhende Kaiserin Jekaterina Alexejewna eigenhändig die Mausefallen aufstellen mußte.«

»Können Sie sich denn noch an jene Überschwemmung erinnern?« fragte die Kaiserin, die sich krampfhaft auf etwas besinnen wollte.

»Zu Befehl, Majestät. Auch an die vom 18. November 1755, an die vom 25. August 1762, an die vom 20. November 1764, – ich kann mich gut an alle Überschwemmungen erinnern. Ich selbst wäre beinahe ertrunken, auch mein Vater und mein Großvater. Daher fürchte ich auch das Wasser: vor dem Feuer kann man fliehen, doch wohin soll man vor dem Wasser fliehen?«

Er schwieg eine Weile und lallte dann weiter vor sich hin:

»Alte Leute erzählen: auf der Petersburger Seite, in der Nähe der Dreifaltigkeitskirche stand einst eine riesengroße Erle; etwa zehn Jahre vor der Erbauung der Stadt gab es hier eine solche Überschwemmung, daß die Erle mit dem Wipfel im Wasser verschwand. Um jene Zeit kam die Prophezeiung auf: Wenn das Hochwasser wieder diese Erle bedeckt, so wird die Stadt Sankt Petersburg verschwinden, und diese Stätte wird leer bleiben. Als aber Seine Majestät Kaiser Peter I. davon erfuhr, ließ er die Erle fällen und die Leute, die die Prophezeiung verbreiteten, erbarmungslos hinrichten. Jene Worte sind aber wahr, wie es auch in der Schrift heißt: ›Und sie achteten's nicht, bis die Sündflut kam, und nahm sie alle dahin ...‹«

Mit ahnungsvollem Grauen hörten ihm alle zu, und die Prophezeiung erschien allen glaubwürdig: wo jetzt Petersburg lag, sollte sich einst ein unendlicher Wasserspiegel mit zwei, wie die Masten versunkener Schiffe, hervorragenden Turmspitzen – der des Admiralitätsgebäudes und der der Peter-Pauls-Festung – ausbreiten.

Plötzlich fiel der Kaiserin auch die andere vergessene Prophezeiung ein: das Jahr 1777 war das Geburtsjahr des Kaisers; damals gab es eine große Überschwemmung, und die gleiche Überschwemmung sollte sich auch in seinem Todesjahre wiederholen.

Die Kaiserinmutter kam ins Zimmer gestürzt:

»Lise! Lise! Wo ist er? Wo ist der Kaiser? ...«

»Ich weiß es nicht, Mamachen. Ich suche selbst ...«

»Herr Jesu! Was ist denn das? ... Der arme Nixe ist im Anitschkin-Palais und weiß nicht, wo wir sind und was mit uns vorgeht. Vielleicht denkt er, daß wir alle ertrunken sind ... Es ist auch niemand da, den man hinschicken könnte. Niemand hört mehr auf uns, wir sind von allen verlassen ... Warum steht ihr alle so da? Wir wollen zu ihm eilen!«

Alle rannten weiter. Nur der alte Isotow blieb zurück. Er lallte wie geistesabwesend:

»Diese Stätte wird leer bleiben ... wird leer bleiben ...«

Als sie durch die Säle, die an der Seite des Schloßplatzes lagen, liefen, hörten sie das Klirren zerbrochener Fensterscheiben. Mehrere Türen fielen krachend ins Schloß, und durch alle Räume pfiff und heulte ein rasender Windstoß.

Der Sturm war so stark, daß die von den Dächern gerissenen Eisenbleche, wie Papierblätter zusammengerollt, in der Luft herumflogen. Ein solches Blech traf eine Fensterscheibe und zertrümmerte sie.

Die Kaiserinmutter blieb stehen, schrie auf und lief zurück. Alle folgten ihr bis auf die Kaiserin; niemand bemerkte, daß sie allein zurückblieb. Eine vom Wind aufgeblähte Portiere hüllte sie ein und warf sie beinahe um. Im nächsten Zimmer sah sie das eingeschlagene Fenster, von dem noch immer Splitter fielen. Der mit Wasserstaub geschwängerte Wind drang hinein. Im Brausen der so nahen Wellen und im Heulen des Sturmes glaubte sie die Schreie der Ertrinkenden zu vernehmen.

Sie blickte um sich und sah sich von allen verlassen; sie fiel fast besinnungslos in einen Sessel und schloß die Augen.

Als sie wieder zur Besinnung kam, sah sie den Grafen Miloradowitsch, den Generalgouverneur von Petersburg vor sich stehen. Er sprach etwas, sie hörte ihn aber nicht.

»Wo ist der Kaiser?« fragte sie ohne jede Hoffnung, ganz mechanisch.

»Er ist nebenan, im Weißen Saal, Majestät. Soll ich Majestät hingeleiten?«

»Ich bitte Sie, Graf, um etwas Wasser.«

In der Suche nach Wasser wollte er ins nächste Zimmer laufen.

»Nein, es ist nicht nötig,« hielt sie ihn zurück. »Wollen wir gehen.«

»Bei dem vielen Wasser kann ich unmöglich ein Glas Wasser verschaffen!« scherzte er. Er machte eine elegante Verbeugung, ließ die Sporen klirren und bot ihr wie auf einem Ball den Arm.

Er tänzelte immer und gehörte zu jenen Leuten, die sich ewig entzückt im Spiegel betrachten.

Wie es oft in Augenblicken großer Verwirrung vorkommt, mußte die Kaiserin an eine dumme Anekdote denken: der Graf liebte die Mazurka sehr und übte diesen Tanz oft allein in seinem Arbeitszimmer; einmal kam er so in Ekstase, daß er mit dem Kopf den Spiegel einrannte, sich dabei verletzte und lange Zeit einen Verband auf der Stirne tragen mußte.

Während er sie weiter geleitete, sprach er mit ihr von der Sündflut so leichtsinnig, als ob es sich um einen Regenschauer während eines Ausfluges mit Damen handelte.

»Alle schreien: es ist entsetzlich! Es ist entsetzlich! Ich sage aber: meine Herren, wie können wir, alte Soldaten, die wir schon im Blute geschwommen sind, uns vor dem Wasser fürchten? ...«

Sie gelangten in den Weißen Saal.

Vor der Glastüre, die auf die Newa hinausging, saß der Kaiser, tief gebückt, den Kopf auf den vor ihm stehenden Tisch gesenkt, mit niedergeschlagenen Augen, wie ein Mensch, der sehr müde ist und schlafen will.

Bei Beginn der Überschwemmung tat er sehr geschäftig, lief viel herum und erteilte Befehle. Als sich niemand entschließen wollte, mit dem Ruderboot zur Brücke hinauszufahren, wollte er es selbst tun; Benkendorf ließ es aber nicht zu: er zog auf der Stelle seinen Rock aus, watete durch das Wasser, das ihm bis an den Hals reichte, zum Boot und fuhr davon. Ihm folgten andere, und niemand kehrte zurück. Alle Wege waren abgeschnitten. Das Schloß stand wie ein Fels oder wie ein Schiff mitten in der Wüste eines Ozeans. Und der Kaiser begriff, daß hier nichts zu machen sei.

Er merkte nicht, daß die Kaiserin in den Saal trat. Sie wagte nicht, sich ihm zu nähern, und betrachtete ihn von weitem. Im trüben Licht erschien sein Gesicht leichenblaß. Jener Ausdruck von Demut und schwerfälliger Ergebenheit, den Sophie an ihm wahrgenommen hatte, der Ausdruck des »weißen Kälbchens«, trat jetzt deutlicher als je hervor; er war wie ein stummes Lamm, wie ein wehrloses Opfertier. Wie gestern, als die Kaiserin die Rede auf die Geheime Gesellschaft brachte, so sah er auch jetzt wie ein Mensch aus, der den Verstand verliert, sich dessen wohl bewußt ist und fürchtet, daß es auch die anderen merken können.

Ihre Sorge von vorhin erschien ihr nun grundlos und dumm: hier im sicheren Zimmer war sie um ihn mehr besorgt, als wenn er sich in den rasenden Wellen befände. Jetzt zweifelte sie nicht mehr daran, daß er ihr gestern nicht alles gesagt, daß er die Hauptsache verschwiegen habe.

Der Oberpolizeimeister Gladkow erstattete dem Kaiser Bericht über die Vorgänge in der Stadt.

Auf der Petersburger Seite, im Wyborgschen Stadtteil und in der Kolomna-Vorstadt, wo fast alle Häuser aus Holz waren, hatte das Wasser ganze Straßen weggeschwemmt. Im Galeerenhafen stand das Wasser 16 Fuß hoch; dort war fast alles vernichtet.

Der Kaiser hörte zu, doch schien er kein Wort davon zu verstehen.

Alle fünf Minuten kamen Flügeladjutanten und meldeten, daß das Wasser immer zunehme.

Elf Fuß, zweiundeinhalb Zoll. Sechs Zoll. Acht. Neun. Zehnundeinhalb.

Das Wasser stand bereits um zwei Fuß und vier Zoll höher als bei der Überschwemmung des Jahres 1777. So hoch hatte es seit der Erbauung der Stadt noch nie gestanden.

Es war drei Uhr nachmittags.

»Wenn der Wind noch zwei Stunden anhält, ist die Stadt verloren,« sagte jemand.

Der Kaiser hörte diese Worte, hob den Kopf und bekreuzigte sich; alle folgten unwillkürlich seinem Beispiel. In der Schar der Hofbediensteten, die etwas abseits stand, stöhnte jemand auf:

»Der Herr hat uns für unsere Sünden bestraft!«

»Nicht für eure Sünden, sondern für die meinigen,« sagte der Kaiser ganz leise vor sich hin und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

»Lise, Sie sind hier? Ich habe Sie gar nicht bemerkt,« sagte er, als er endlich die Kaiserin gewahrte. Er ging auf sie zu. »Was ist mit Ihnen?«

»Es ist nichts. Ich bin nur etwas müde. Bin überall herumgelaufen, habe Sie gesucht ...«

»Warum denn? Sie sind wirklich leichtsinnig! Es zieht aus allen Türen und Fenstern, und Sie sind schon ohnehin erkältet.«

Er zupfte an ihr liebevoll den Mantel zurecht, den sie sich irgendwo im Laufen umgeworfen hatte. Beim bloßen Gedanken, daß er in einem solchen Augenblick um sie besorgt sein konnte, errötete sie wie ein verliebtes junges Mädchen.

»Dieses Unglück, Lise!« sagte er mit jenem traurigen und verschämten Lächeln, das während seiner letzten Krankheit oft auf seinen Lippen spielte. »Wissen Sie noch, wie es in der Schrift heißt: Es ist schrecklich, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen ...«

Er wollte noch etwas hinzufügen, doch fühlte er, daß er doch nicht von der Hauptsache sprechen würde; er wiederholte nur ganz leise:

»Es ist schrecklich, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen!«

Jemand wies auf die Newa. Alle stürzten zu den Fenstern. Ein Floß trieb vorbei; ihm folgte ein riesengroßer Heringsspeicher, den der Sturm irgendwo fortgerissen hatte; der Speicher konnte jeden Augenblick das Floß einholen und es in Stücke schlagen. Auf dem Floß standen viele Menschen; die einen knieten und schienen zu beten, während die anderen die Arme nach dem Ufer ausstreckten und wohl um Hilfe riefen.

Der Kaiser befahl, die Türe zu öffnen und trat auf den Balkon. Die Ertrinkenden hatten ihn vielleicht bemerkt. Er glaubte durch das Heulen des Sturmes ihre Schreie zu vernehmen. Der Speicher holte in diesem Augenblick das Floß ein, und die Menschen verschwanden in den Wellen. Der Kaiser bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Er kehrte ins Zimmer zurück, setzte sich wieder an den Tisch und senkte wie vorhin den Kopf. Tränen liefen ihm die Wangen hinab, doch er fühlte sie nicht.

* * *

Beim Beginn der Überschwemmung bekam der Flügeladjutant Oberst Hermann den Befehl, sich aus dem Schlosse in die Kolomna-Vorstadt, wo sich die Kaserne der Gardeflottenequipage befand, zu begeben, um die Rettungsboote in die verschiedenen Stadtteile zu verschicken. Er leistete den ganzen Tag über den Ertrinkenden Hilfe.

Als er müde und durchnäßt durch die Torgowaja-Straße fuhr, fiel es ihm ein, daß hier sein Freund der Fürst Odojewskij wohne, und er beschloß, bei ihm einzukehren, um etwas Tee zu sich zu nehmen. Als er ausgeruht hatte, schlug er dem Hausherrn und dem Fürsten Valerian Michailowitsch Golitzin, der zufällig bei Odojewskij zu Besuch war, vor, ihn auf seinem Boote zu begleiten.

Die Dämmerung brach früh an. Die Straßenlaternen konnten nicht angesteckt werden, und die überschwemmte Stadt verschwand ganz in der nächtlichen Finsternis. Man hatte den Eindruck, daß die letzte Nacht, der kein Morgen mehr folgt, angebrochen sei.

Durch die Offizierskaja-Straße, den Krjukow-Kanal und die Galernaja-Straße gelangten sie zum Senatsplatz.

Hier heulte der Sturm noch stärker, und über dem weißlich schimmernden Gischt ragte das Denkmal: der Riese auf dem ehernen Pferde mit ausgestrecktem Arm. Man konnte nicht begreifen, was diese Gebärde bedeutete: wollte er den Sturm bändigen, oder ihn heraufbeschwören?

Gleichzeitig erschien auf dem Platz von der anderen Seite das von Fackeln erleuchtete Ruderboot des Grafen Benkendorf: roter Widerschein und schwarzer Schatten huschten über den ehernen Reiter, er schien zum Leben erwacht und sich zu regen. Das Postament aus Granit lag unter Wasser; das schwarze Wasser erschien im Fackellicht rot wie Blut. Der eherne Reiter sprengte gleichsam über ein Meer von Blut dahin.

Golitzin blickte ihm ins Gesicht und plötzlich glaubte er im Brausen der Wellen und im Heulen des Sturmes die Rufe eines Volksaufstandes zu vernehmen.

Und er mußte daran denken, wie er vor einem halben Jahre an dieser selben Stelle mit Oberst Pestel über die Geheime Gesellschaft sprach und ihn fragte:

»Mit ihm, oder gegen ihn?«

Auch jetzt wie damals bekam er keine Antwort auf diese Frage.

Ein ahnungsvolles Grauen ergriff ihn, und es war ihm, als ob dies alles schon einmal gewesen wäre und auch immer so bleiben würde.


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