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III.

Gleich nach der Überschwemmung setzte ein starker Frost ein. In den vom Wasser verschonten Häusern konnte man der Kälte wegen nicht wohnen. Die durchnäßten Mauern waren von einer Eiskruste bedeckt; man konnte nicht heizen, denn die Öfen waren vom Wasser zerstört; man konnte auch das Wasser nicht auspumpen, denn es war eingefroren. Die Menschen gingen ohne Kleider, ohne Obdach und ohne Nahrungsmittel zugrunde. Doch das Wasser der Newa begann wieder zu steigen und drohte mit neuem Unglück. Die unglückliche Stadt schien von Gott dem Untergange geweiht.

Der Kaiser besuchte die Stadtteile, die von der Überschwemmung am meisten gelitten hatten: Kolomna, die Wassiliewskij-Insel, die Hafengegend und die Eisenwerke.

»Ich habe manche blutige Schlacht miterlebt, doch habe ich nichts Grausigeres gesehen,« sagte er zu seinem Gefolge.

Einmal besuchte er die Kirche auf dem Smolensker Friedhofe. Das ganze Innere der Kirche war von Särgen mit Leichen der Ertrunkenen gefüllt. Er brach in Tränen aus, und das ganze Volk weinte mit ihm.

Es wurde ein eigenes Komitee zur Unterstützung der von der Überschwemmung geschädigten Bevölkerung gegründet. Verschiedene empfindsame Anekdoten wurden verbreitet. Eine arme alte Frau hätte bei der Verteilung von warmer Kleidung den ihr angebotenen Pelzmantel zurückgewiesen und gesagt: »Ich habe meinen Pelzmantel gerettet; wollen Sie mir, bitte, nur Strümpfe verabfolgen.« Der tugendsame Beamte Iwanow soll zahlreiche Arme auf eigene Rechnung bestattet haben. Ins Haus eines alten Junggesellen soll ein neugeborenes Kind in einer Zuckerkiste hereingeschwommen sein, das der Junggeselle an Kindes Statt aufnahm.

Es wurden auch lustige Anekdoten erzählt. Eine Katze, die eben geworfen hatte, hätte ihre Jungen gerade auf jene Treppenstufe gebracht, bei der das Wasser haltmachte. In den Keller der Öffentlichen Bibliothek wäre eine Seeforelle hineingeschwommen, und der Bibliothekar Iwan Andrejewitsch Krylow hätte den Fisch gefangen, gebraten und verzehrt. Ein zugereister Gutsbesitzer glaubte, er sei wahnsinnig geworden, als er in seinem Hofe den Polizeimeister Tschichatschow auf einem Boote herumfahren sah. Eine Gräfin Tolstaja war wegen der Überschwemmung so sehr gegen Peter I. aufgebracht, daß sie im Vorbeifahren vor seinem Denkmal die Zunge ausstreckte.

Die Zeitungszensur hatte die Veröffentlichung jeglicher Nachrichten über die Überschwemmung verboten, und so wurde in Moskau erzählt, daß das Wasser bis über die Turmspitze des Admiralitätsgebäudes gestiegen sei. Im gemeinen Volke wurde die Ansicht laut, daß der Herr die Hauptstadt für die Militärischen Siedlungen und für die Greueltaten der Gutsbesitzer bestraft hätte.

P. Theodosius Lewizkij predigte, daß die Überschwemmung »kein einfaches und blindes Elementarereignis sei, sondern eine gerechte Strafe Gottes, die uns für unsere Taten treffe, denn die Regierung zeige keinerlei Neigung zur Reue.« P. Theodosius wurde eines Nachts von zwei Feldjägern geholt, in einen Wagen gesetzt und irgendwohin weggeführt; später erfuhr man, daß er ins Kloster von Konewetz auf dem Ladogasee verbannt worden war.

Endlich trat die Newa wieder in ihre Ufer. Dort, wo eben erst die Fluten der Überschwemmung brausten, breiteten sich jetzt Schneefelder, auf denen Schlitten knirschten, Kinder Schlittschuhe liefen, Straßenverkäufer lustig im Froste tänzelten und Finnen auf ihren mit zottigen Pferden bespannten Schlitten Eis führten, das in der Sonne grünlich schimmerte.

Die Straßen waren mit großen Schneehaufen bedeckt; statt der polternden Droschken sah man jetzt nur lautlose Schlitten; alles war still, gleichsam ausgestorben und nur hie und da knirschte unter den Schritten vereinzelter Fußgänger der Schnee, und die Stimmen klangen im Freien wie im Zimmer.

Petersburg glich nun einem von Schneestürmen gänzlich verwehten stillen Dorf. Es entschlief, wie ein Kind in der Wiege unter einer weißen Decke, wie ein Toter im Sarge unter einem weißen Bahrtuch. Diese, zugleich an eine Wiege und an ein Grab gemahnende Stille wirkte unheimlich süß und einschläfernd.

Die Kaiserin war krank. Sie hatte sich während der Überschwemmung erkältet und konnte sich nicht wieder erholen. Die Ärzte fürchteten, daß es die Schwindsucht sei. »Es ist die gleiche Krankheit wie bei Sophie,« sagte sich der Kaiser. »Es sind zwei müdegehetzte Pferde: das eine ist gefallen, und das andere muß auch bald fallen.«

Er verbrachte bei der Kranken ganze Tage. Die Ärzte hatten ihr das Sprechen verboten, denn sie bekam davon heftige Hustenanfälle. Er sprach zu ihr, und sie gab ihre Antworten schriftlich.

Das Gespräch von der Geheimen Gesellschaft, das sie am Vorabend der Überschwemmung abgebrochen hatten, wurde nicht wieder erneuert. So oft sie ihn aber mit ihren scheuen Augen, mit den Augen eines müdegehetzten Pferdes anblickte, erriet sie seine Gedanken. Und beide schwiegen. Es war still im Zimmer, es war still auf der Straße, es war still wie in einer Wiege, wie in einem Grabe.

Er vernachlässigte alle seine Geschäfte: sie erschienen ihm nichtig, als ob er während der Überschwemmung die Ohnmacht seiner Macht eingesehen hätte. Er gab sich jetzt vollständig jener schrecklichen tödlichen Langeweile hin, gegen die er früher angekämpft hatte. Er glich einem Schwimmenden, den die Kräfte verlassen, und der von der Strömung in einen Abgrund getrieben wird.

Der neue Minister für Volksaufklärung, Alexander Ssemjonowitsch Schischkow war über achtzig Jahre alt. Sein Haar war schneeweiß, die Augen eingefallen, das Gesicht leichenblaß; sein Kopf zitterte beständig, und seine Lippen schmatzten. Als er einmal beim Kaiser zu einem Vortrag erschien, zitterten seine Hände so sehr vor Schwäche, daß er sein Portefeuille nicht aufmachen konnte. Der Kaiser kam ihm zur Hilfe, schloß eigenhändig das Portefeuille auf, nahm die Papiere heraus und las sie selbst.

Schischkow war in politischen Dingen ein Fanatiker. Das von ihm verfaßte neue Zensurgesetz nannte man »gußeisern«, ihn selbst – »den Lichtlöscher« und sein Ministerium – »das Ministerium für Volksverfinsterung«.

Seine Berichte waren eher Denunziationen.

»Der sogenannte Zeitgeist ist ein Geist der Gottlosigkeit, ein Geist der Revolution, ein Geist, der Mord und Vernichtung verbreitet, die Staatsgewalt untergräbt, das Gesetz verstummen läßt, die Throne erschüttert und blutige Gewalttätigkeit heraufbeschwört. Diese Gefahr ist schrecklicher als die einer Feuersbrunst oder einer Überschwemmung ...«

So lallte er, bis er merkte, daß ihm der Kaiser gar nicht zuhörte. Dann machte er eine Pause, ließ den Kopf sinken und begann mit weinerlicher Stimme:

»Allergnädigster Kaiser, ich bin alt und gebrechlich, und es fällt mir schwer, diese Bürde zu tragen; ich fühle, daß ich unter ihr bald zusammenbrechen muß ... Der Zeitgeist hat überall die Oberhand gewonnen: im Senat, im Reichsrat, in der Gesellschaft und selbst bei Hofe findet dieser Geist Schutz und Zuflucht. Was kann ich dagegen tun? Ich kann doch nicht mit dem Kopf die Mauern einrennen ... Gott hat bisher Rußland beschützt, ich glaube aber, daß seine Hand jetzt schwer auf unserem Lande lastet. Es wird ein großes Unglück kommen! Ein großes Unglück! ...«

So krächzte er täglich wie ein Rabe, und bei diesem Krächzen erschienen die finsteren Wintertage noch finsterer und die Wiegen- oder Grabesstille noch einschläfernder.

Der Kriegsminister Tatischtschew, der Justizminister Lobanow und der Minister des Innern Lanskoj waren ebensolche gebrechliche, Gespenstern gleichende Greise.

»Diese Greise entscheiden jetzt über das Schicksal Rußlands,« sagte sich der Kaiser. »Mit Jünglingen habe ich begonnen, und mit Greisen ende ich!«

Im Volke schwirrten indessen Gerüchte über unheilverkündende Zeichen und Erscheinungen. Bald begannen die Kirchenglocken von selbst ein Totengeläute, bald erschien auf dem Dache des Schlosses nachts ein unbekannter, jämmerlich schreiender Vogel, bald kamen die abenteuerlichsten Mißgeburten zur Welt: ein Kind mit einem Fischschwanz und ein Kalb mit einem Menschenkopf.

Ende Februar begann das Tauwetter. Der Schnee schmolz und wurde dunkel, von den Dächern tropfte es, und in den Dachrinnen lösten sich hie und da Eisklumpen und erschreckten mit ihrem Gepolter die Passanten. Die Pferdehufe platschten im stinkenden Straßenkot. Die Menschen starben am Sumpffieber wie die Fliegen. Schwarzgelbe Nebel schleppten sich über die Straßen hin, und endlich trat aus den Nebeln ein lächerliches Schreckbild – ein gehörnter Pope hervor.

Zuerst erschien er in der Dreifaltigkeitskirche, wo er während einer Messe seine Schnauze aus der heiligen Pforte herausstreckte und wie ein Bock meckerte; dann sah man ihn auch in der Kirche des Nikola Morskoj und endlich auch in der Kasanschen Kathedrale. Das Volk sammelte sich auf dem Platze vor der Kathedrale. Der Polizeimeister Tschichatschow versuchte das Volk zu überreden, den Platz zu räumen; die Leute blieben aber stehen und drängten gegen das Portal. Die Kathedrale war versperrt und wurde von Polizei bewacht, und die Geistlichkeit ließ sich nicht sehen; dies bestärkte noch den Glauben, daß der gehörnte Pope in der Kirche versteckt gehalten werde. Man erzählte sich, daß der Metropolit einen Bittgottesdienst abhalte, damit der Pope begnadigt und von seinen Hörnern erlöst werde.

Im schwarzgelben Nebel, im finsteren Tageslichte schien alles so gespensterhaft, daß man auch dieses Gespenst für Fleisch und Blut halten konnte. Wer weiß, wie weit es noch gekommen wäre, wenn nicht jemand das Gerücht losgelassen hätte, daß der Pope durch einen unterirdischen Gang fortgebracht worden sei.

Am nächsten Tag versammelten sich aber noch viel mehr Leute vor dem Alexander Newskij-Kloster. Viele hatten bereits den Popen mit eigenen Augen gesehen; die einen behaupteten, er gleiche Araktschejew, die anderen – er gleiche Photius. Die Mönche versperrten die Tore des Klosters; die Volksmenge lärmte und verlangte, daß man sie aufsperre.

»Worauf warten wir denn noch, Brüder? Machen wir uns doch selbst das Tor auf! Baut eine Leiter!« schrie jemand.

In diesem Augenblick erschienen aber vor dem Kloster Soldaten, und die Leute stoben auseinander. Am Abend wurde bekannt, daß, während die Dienstboten vom Hause weggelaufen waren, um sich den gehörnten Popen anzusehen, die meisten Wohnungen in dieser Gegend von Dieben ausgeplündert worden waren.

Der Pope verschwand aus Petersburg, erschien aber dafür in anderen Städten des russischen Reiches.

Als der Minister Schischkow und später der Oberpolizeimeister Gladkow es dem Kaiser mit einer solchen Miene meldeten, als ob mindestens eine Revolution im Anzuge sei, geriet dieser außer sich, nannte Gladkow ein altes Waschweib und beauftragte Araktschejew mit der Untersuchung.

Wie sich herausstellte, war der gehörnte Pope durchaus kein leeres Hirngespinst. In einem entfernten Dorfe in der Ukraina hatte ein Geistlicher einen Bock geschlachtet und sich dessen Fell samt Hörner angezogen, um so, als Teufel verkleidet, »irgendeinen tollen Streich zu verüben«. Das klebrige Fell blieb an seinem Körper haften; der Pope glaubte, es sei ihm angewachsen und heulte vor Entsetzen auf. Das Volk lief zusammen. Auch die Obrigkeit erfuhr von der Sache. Eine Untersuchung wurde eingeleitet, und die Geschichte kam vor den Synod. Aus dem Synod kam aber das Gerücht in die Stadt.

Kaum war der Pope verschwunden, als ein neues Wunder geschah: die Turmspitze der Peter-Pauls-Festung erstrahlte täglich in rotem Lichte. Anfangs glaubte man, es sei der Widerschein des Abendrots. Doch das Licht war auch bei bewölktem Himmel sichtbar. Der Kaiser hatte es mit eigenen Augen gesehen; die leuchtende Spitze glich der Schneide eines blutigen, im Himmel hängenden Messers. Die Ursache der Erscheinung wurde erst nach langer Zeit aufgedeckt: auf einem Bauplatz in der Nähe der Festung befanden sich Kalköfen, deren Licht, von Zäunen und Brettern verdeckt, gerade auf die Turmspitze fiel.

Der Direktor der Geheimpolizei v. Fock überschüttete den Kaiser mit Anzeigen.

Am hellichten Tage sagte irgend jemand zu irgend jemand auf dem Newskij: »Bald kommt die Revolution!« Ein Geheimpolizist wollte den Verbrecher verhaften, doch dieser verschwand in der Menge. In einer anderen Anzeige wurde vorgeschlagen, sämtliche Kirchtürme der Stadt nachts von Soldaten bewachen zu lassen, »um zu verhindern, daß irgend jemand Sturm läuten und ein Zeichen zum Ausbruch der Revolution geben könne«. In den grammatikalischen Tabellen, die der Schriftsteller Gretsch für den Unterricht von Soldaten verfaßt hatte, wurden mehrere empörende Beispiele gefunden: »Die Kaiserin ist eine Wachtel. Wo die Macht ist, dort verstummt das Gesetz. Wider die Gewalt läßt sich nichts tun. Dem Wasser kann selbst der Zar nicht Halt gebieten.« Diese Tabellen wurden verboten, und Gretsch kam unter Polizeiaufsicht.

Als aber der Kaiser erfuhr, daß auch Araktschejew unter Polizeiaufsicht stand, glaubte er, daß v. Fock verrückt geworden sei. Er wollte zuerst böse werden, gab es aber auf und sagte: »Tut was ihr wollt.«

Niemand wagte es, mit ihm über die Geheime Gesellschaft zu sprechen; ihm schien es aber, daß alle von ihr wußten, seine Untätigkeit mit seiner Furcht vor der Gesellschaft erklärten und ihn auslachten.

»Sein Argwohn brachte ihn oft zur Raserei,« berichtete später Maria Antonowna Naryschkina. »So oft er jemand auf der Straße lachen hörte oder jemand von seiner Umgebung lächeln sah, bildete er sich ein, daß man über ihn lache.«

Eines Abends trank er in Gesellschaft Maria Antonownas und ihrer Cousine, einer zugereisten jungen Polin, Tee; der Kaiser schenkte eine Tasse für die Hausfrau und eine andere für ihre Cousine ein. Maria Antonowna flüsterte ihr ins Ohr:

»Wenn Sie nach Hause zurückkommen, werden Sie doch sicher darauf stolz sein, daß Ihnen der Kaiser Tee eingeschenkt hat.«

»Gewiß,« erwiderte jene.

Der Kaiser war schwerhörig und hörte nicht, was sie sagten; er sah aber, daß sie lächelten, und wurde sofort düster. Als der Gast gegangen war, sagte er zu Maria Antonowna:

»Sie sehen, ich erscheine allen lächerlich. Auch Sie, auch Sie, meine alte Freundin, der ich so viele Jahre vertraut habe, auch Sie können sich nicht des Lachens enthalten! Sagen Sie mir um Gottes willen, was ist denn an mir so lächerlich? ...«

Die Generaladjutanten Kisseljow, Orlow und Kutusow standen einmal am Fenster, erzählten sich Witze und lachten. Plötzlich kam der Kaiser. Sie unterbrachen ihre Unterhaltung, doch auf ihren Gesichtern blieb noch das Lächeln. Der Kaiser blickte sie an und ging stumm vorbei. Nach einigen Minuten ließ er Kisseljow zu sich ins Arbeitszimmer kommen. Der Kaiser stand vor dem Spiegel und betrachtete sich von allen Seiten.

»Worüber habt ihr gelacht? Was ist an mir so lächerlich?«

Kisseljow war starr und stotterte, daß er die Frage des Kaisers nicht verstehe.

»Laß es, Pawel Dmitrijewitsch,« fuhr der Kaiser freundlich fort, »ich habe ja selbst gesehen, daß ihr über mich gelacht habt. Sag mir doch die Wahrheit, ich bitte dich darum: ist vielleicht hinten an meiner Uniform etwas nicht in Ordnung?«

Zuweilen hatte er einen häßlichen Traum: er sah sich auf einem Ball oder im Audienzsaal in voller Uniform mit dem Bande des Andreas-Ordens, doch ohne Hose; alle Blicke waren auf ihn gerichtet, und er fühlte sich für alle Ewigkeit blamiert. Das gleiche Gefühl hatte er jetzt im Wachen.

Nicht nur alle Menschengesichter, sondern auch alle Gegenstände schienen jetzt über ihn zu lachen. Aus dem abendlichen Nebel, der am Himmel vorbeizog, blickte ihn eine lächerliche Erscheinung – der gehörnte Pope an; im Sommergarten krächzten die Raben ebenso unheimlich, wie in der schrecklichen Nacht des 11. März, als sie von den Bataillonen des Ssemjonowschen Regiments aufgescheucht wurden; beim dunkelroten winterlichen Abendrot spiegelten sich die roten Mauern des Michailowschen Schlosses im schwarzen Wasser des Kanals wie in Blut.

Vor den Petersburger Nebeln und Gespenstern floh er nach Zarskoje Ssjelo.

In der Einsamkeit fühlte er sich etwas erleichtert. Im Winter bewohnte er nur drei kleine Zimmer des Pfarrgebäudes – ein Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer und ein Speisezimmer, die sehr einfach, beinahe ärmlich ausgestattet waren. Er fühlte sich so, als ob er bereits auf die Krone verzichtet hätte und im Ruhestand lebte.

Eines Nachmittags saß er allein im Arbeitszimmer vor dem Kamin. Der Tag war grau, doch aus den Wolken lugte ab und zu die Sonne hervor; das Feuer im Kamin war blaß und durchsichtig; auf den gefrorenen Fensterscheiben funkelten diamantene Farnkrautranken. Draußen hoben sich bereifte Bäume weiß vom schiefergrauen Himmel ab. Im schneeverwehten Parke war alles licht, weiß und still, als ob er sich tausend Meilen von einer Stadt entfernt befände. Es war still wie im Grabe, wie in der Wiege.

Er dachte an das bevorstehende Gespräch mit dem Fürsten Valerian Golitzin.

Er erinnerte sich noch an das Versprechen, das er Sophie gegeben hatte; er erinnerte sich auch an das Gesicht des Fürsten Valerian in jenem unvergeßlichen Augenblick am Sarge Sophies, als er plötzlich fühlte, daß die Liebe zu der Verstorbenen sie beide vereinige, und daß dieser Feind der ihm einzig notwendige und verwandte Mensch sei. An jenem Tage wäre es ihm ein Leichtes gewesen, sich dem Fürsten zu nähern und mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen. Je mehr er aber später an die Zusammenkunft dachte, um so unmöglicher erschien sie ihm. Monate vergingen. Er schob es immer hinaus. Golitzin wartete und hatte beinahe jede Hoffnung aufgegeben; er wollte abreisen und bat um Urlaub. Der Kaiser wollte ihm aber den Urlaub nicht geben; er war bereits davon überzeugt, daß die Begegnung für sie beide gleich erniedrigend, drückend und unnatürlich sein mußte, und dazu noch entsetzlich lächerlich; das Lächerliche verfolgte ihn jetzt auf Schritt und Tritt, und er fürchtete es über alles.

Und doch mußte er ununterbrochen hartnäckig und gierig an die Begegnung denken; der Gedanke quälte ihn, doch er wühlte mit Wollust in seiner Wunde. Er malte sich dieses Gespräch mit allen Einzelheiten aus; er bereitete seine Fragen und die Antworten, die ihm Golitzin geben würde, vor; die Fragen und die Antworten rezitierte er zuweilen laut, wie ein Schauspieler, der vor dem Spiegel seine Rolle einstudiert.

Zuerst würde er von Sophie sprechen:

»Wenn ich mit Ihnen, Fürst, spreche, so tu ich es nur, um ihren letzten Willen zu erfüllen. Wenn Sie sie geliebt haben, so können Sie nicht mein Feind sein; sie hat es mir gesagt, und ich weiß, daß es wirklich so ist. Ich bitte Sie in ihrem Namen, zu mir nicht wie ein Untertan zu seinem Kaiser, sondern wie ein Mensch zu einem Menschen, wie ein Sohn zu seinem Vater zu sprechen. Ich glaube, daß sie uns zuhört, und ich möchte, daß auch Sie daran glauben ...«

Hier würde er eine Pause machen und dem Fürsten Valerian in die Augen blicken. Jener würde aber diesen Blick nicht ertragen können und die Augen niederschlagen.

»Ich weiß, Golitzin,« würde er fortfahren: »daß Sie ein Mitglied der Geheimen Gesellschaft sind, und ich weiß auch, daß diese Gesellschaft die Beschränkung der Autokratie und die Erkämpfung einer Verfassung zum Ziele hat. Wissen Sie denn nicht, daß auch ich die gleichen Ziele verfolge? ...«

An dieser Stelle würde er milde lächeln.

»Ihr wollt meine Feinde sein, ihr seid aber meine Freunde, meine Kinder, meine Brut, mein Fleisch und Blut. Ich habe euch ins Leben gerufen, und ohne mich könntet ihr nicht sein. Ich war und bin immer der Ansicht, daß die Freiheit die herrlichste Gottesgabe ist. Was trennt uns denn? Warum sind wir Feinde?«

»Wollen Majestät die Wahrheit erfahren?«

»Ja, Golitzin, nur die reine Wahrheit.«

»Majestät wissen selbst, daß die Geheime Gesellschaft erst damals gegründet wurde, als man jede Hoffnung, daß die Krone selbst dem russischen Volke Freiheiten verleihen werde, fallen lassen mußte ...«

Hätte jetzt jemand in das Zimmer hineingeblickt, so müßte er glauben, daß der Kaiser verrückt geworden sei. Vor ihm stand ein leerer Sessel, und er sprach mit jemand Unsichtbarem, der auf diesem Sessel saß. Er glaubte, daß er nur flüsterte; in der Tat sprach er aber so laut, daß man es im Nebenzimmer hören konnte; er bewegte die Hände, nickte mit dem Kopf und wechselte die Stimme; bald lächelte er und bald wurde er finster, ganz wie ein Schauspieler vor einem Spiegel.

»Bin ich denn, Golitzin, ganz allein an allem schuld? Solche Menschen wie ich gibt es in Rußland höchstens hundert; uns stehen aber Millionen gegenüber. Als ich und Speranskij mit den ersten Reformen begannen, wurde er als ein Verräter betrachtet, und ich mußte ihn den Leuten zum Opfer bringen ...«

– Es war zwar nicht ganz so, wie ich es sage, aber annähernd stimmt es doch, – dachte er sich. – Über Speranskij muß ich doch unbedingt etwas sagen. –

»Wissen Sie, Golitzin, was mir damals Karamsin schrieb? Ich weiß es noch heute auswendig: ›Eine der wichtigsten Ursachen der Unzufriedenheit der Russen mit der Regierung ist ihre übertriebene Neigung zu den Reformen, die das Reich erschüttern, deren wohltätige Wirkungen aber höchst zweifelhaft sind.‹ Wenn Karamsin, der aufgeklärteste Mensch seiner Zeit, so urteilte, was darf man denn dann von den anderen verlangen? Es wäre wirklich ein noch nie dagewesenes Schauspiel: der Kaiser will seinem Volke die Freiheit verleihen, das Volk will sie aber nicht annehmen! Man kann ja wirklich nicht Sklaven von heute auf morgen frei machen. Ein einzelner Mensch kann hier nichts ausrichten. Ich bin aber allein. Ich habe keine Gehilfen. Bei wem soll ich Hilfe suchen? Ich sehe um mich nichts als Betrug. Können denn wir Fürsten alles wissen, was bei uns vorgeht? Beim bloßen Gedanken daran stehen mir die Haare zu Berge! Im Militär, in der Verwaltung, in der Kirche – überall herrschen Mißstände. Was soll man tun? Der Mensch kann nicht alles zugleich machen. Versetzen Sie sich doch auch in meine Lage. Überlegen Sie sich, was Sie tun wollen, bereuen Sie Ihre verbrecherischen Absichten, und ich werde Ihre Reue mit väterlicher Liebe hinnehmen. Vor allen Dingen müssen Sie aber einsehen, daß ich das gleiche anstrebe wie Sie. Wollen wir uns also verbünden und mit vereinten Kräften zum Wohle des Vaterlandes wirken! ...«

Er wußte noch nicht genau, was er weiter sagen würde; er fühlte aber, daß es sehr rührend sein würde. Golitzin würde dem nicht widerstehen können, in Tränen ausbrechen und ihm zu Füßen fallen. Dann würden auch die anderen zu ihm kommen und ihre Schuld bekennen. Er würde ihnen vergeben, wie ein Vater seinen verirrten Söhnen vergibt; wenn er auch jemand hinrichten lassen würde, so würde es doch niemand bei dem großen allgemeinen Jubel bemerken. Wenn sie ihm aber mißtrauen und sagen würden, daß er dies alles nur aus Angst vorbringe, daß er ein Doppelspiel spiele und sie alle in eine Falle locken wolle, um die Verschwörung mit einem Streiche zu vernichten? Wenn ihnen die Worte Napoleons: »Alexander ist fein wie eine Nadel, scharf wie ein Rasiermesser und falsch wie der Schaum des Meeres; wenn er Frauenkleider anlegen würde, so wäre das listige Weib fertig« einfallen? Oder die Worte der Großmutter: »Herr Alexander ist von Natur aus ein Schauspieler und ein großer Meister schöner Gebärden«? Auch jetzt übte er vor dem Spiegel schöne Gebärden. Nun war es aber zu spät. Der Spiegel war zerbrochen. Niemand ging mehr in die Falle. Es konnte nur noch eine neue Schande, eine neue Blamage geben, »Vielleicht ist hinten an meiner Uniform etwas nicht in Ordnung?«

Er ist das Opfer, und sie sind die Mörder; oder sie sind die Opfer, und er ist der Henker: dies konnte mit keinerlei Worten verschleiert werden. Hier waren nicht Worte, sondern Handlungen notwendig. Die Verbrecher mußten hingerichtet werden. »Man muß es und man darf es nicht, man darf es nicht und doch muß man es« – so hieß es wieder wie am 11. März. Er konnte nichts beschließen, nichts unternehmen, keinen Finger rühren. Er fühlte sich wie in der Lethargie: er sah alles, er wußte alles, und doch konnte er nicht durch ein Zeichen zu verstehen geben, daß er noch lebe, und daß man ihn nicht lebendig begraben solle.

»Sie lachen mich alle aus! Sie lachen mich alle aus!«

Der Kammerdiener Anissimow hatte schon längst aus dem Nebenzimmer gehört, daß der Kaiser mit jemand sprach. Vielleicht war jemand durch die andere Türe eingetreten? Er ging zur Türe und horchte am Schlüsselloch. Als der Kaiser sagte: »Sie lachen mich aus!«, verstand er: »Anissimow!« Er öffnete die Türe und trat ein.

»Was willst du?«

»Majestät riefen mich.«

»Hinaus!« schrie der Kaiser zornig. Er sprang auf und stampfte mit den Füßen.

Nach einigen Minuten ging er in Mantel und Mütze die Treppe hinunter.

Unten stand ein Wachtposten. »Lacht auch er?« dachte der Kaiser. Er blieb vor ihm stehen und fragte ihn:

»Was hast du?«

»Ich wünsche Euerer kaiserlichen Majestät Wohlergehen!« schrie jener, die Augen weit aufgesperrt, so laut und eifrig, daß der Kaiser sich sofort erleichtert fühlte.

»Wie heißt du?«

»Iwan Ochramejenko, Majestät.«

»Gut, Iwan; geh zu deinem Kompagniechef und sage ihm, daß ich dich zum Unteroffizier befördere.«

– Ganz wie der Vater, – sagte er sich, – der Apfel fällt nicht weit vom Baume. –

Er trat in den Park hinaus.

Die Wege, auf denen er zu spazieren pflegte, wurden mehrere Werst weit vom Schnee gesäubert und mit gelbem Sand bestreut. Er ging durch die Allee alter verschneiter Tannen, am Ufer des Großen Teiches.

Es schneite zuerst vereinzelte Schneekristalle, dann große Flocken; der zwar noch nicht nasse, doch bereits weiche und klebrige Schnee ließ auf baldiges Tauwetter schließen; er schien gleichsam warm und schwül.

Er verließ die Allee, schlug einen schmalen Pfad durch das Dickicht ein und gelangte auf einen von hohen Bäumen eingefaßten kleinen Platz. Er ließ sich auf eine Bank nieder und sah lange dem Treiben der Schneeflocken zu. In der Dämmerluft huschte einförmig ein blendendes weißes Netz; vom Zusehen schwindelte ihm der Kopf.

»Ein Schwindelanfall ...« ging es ihm durch den Kopf, »Was ist es? Was wollte ich? ... Ja ...«

Cet esprit de vertige et d'erreur,
De la chute des rois funeste avant-coureur.

»Es ist der Schwindel, der dem Sturz der Könige vorangeht.«

Es waren Verse aus einer französischen Tragödie, die er mit Napoleon zu Erfurt gehört hatte.

»Auf solcher Höhe würde mir der Kopf schwindeln!« sagte er einst lachend vor der Vendôme-Säule, auf deren Spitze eine kleine bronzene Puppe, das Bild des siegreichen Cäsars stand. Und als später, nach der Einnahme von Paris die Besiegten zu Ehren des Siegers jene Puppe mit Stricken herunterzerrten, und die wilde Menge schrie: »Nieder mit Napoleon! Vivat Alexander!«, schwindelte ihm, dem Sieger, tatsächlich der Kopf. Jeder kommt an die Reihe: zuerst war es Napoleon, und jetzt wurde er, Alexander, unter allgemeinem Gelächter wie jene winzige Puppe heruntergezerrt.

Wie ging es weiter? Nach der Schlacht von Austerlitz lag er, von allen verlassen, in einer leeren Bauernhütte auf einem Strohlager und hatte so entsetzliche Leibschmerzen, daß der Leibarzt Wyllié für sein Leben fürchtete und ins österreichische Lager fuhr, um sich dort eine halbe Flasche Rotwein für seinen kaiserlichen Herrn zu erbetteln. Der Kaiser glaubte damals, daß diese Leibschmerzen von seiner Angst herrührten. Damals hatte bereits jenes schreckliche Lachen begonnen, das ihm jetzt den Verstand raubte.

Und was kam weiter? Was war das Lächerlichste, das Schrecklichste? Der 11. März und die Geheime Gesellschaft waren nur Schwären des Aussatzes; wo steckte aber der Aussatz selbst? Wo war die Wurzel von allem Übel? Er wußte wohl, wo sie war. Er wollte es nicht wissen, und er wußte es doch. Er hatte es ja selbst damals ausgesprochen, als man ihn gegen seinen Willen auf den blutbesudelten Thron schleppte, wie die Metzger ein Kalb, »ein weißes Kälbchen« zum Schlachten schleppen: »Dieser Ort ist verflucht; wer sich hinstellt, muß untergehen; alle, die vor mir hier standen, sind untergegangen; so werde auch ich untergehen.« Damals hatte er es noch gewußt, später vergaß er es, und jetzt fiel es ihm wieder ein. Es war aber zu spät: das arme Kälbchen war bereits mit Stricken gebunden und über seinem Nacken schwebte das Beil. Er hatte sich auf die verfluchte Stelle begeben und ist untergegangen. Er hätte damals noch fliehen sollen. Jetzt war es aber zu spät. Der Verzicht auf die Krone bedeutete den Verzicht auf das Leben. Alle Gedanken, die er sich darüber machte, waren nichts als schöne Gebärden, Übungen eines Schauspielers vor dem Spiegel, Lüge, Schande und Gelächter.

Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und wollte weinen, doch er konnte es nicht mehr.

Er stand auf, warf Mütze und Mantel ab, kniete nieder, faltete die Hände und hob die Augen gen Himmel; er wollte beten, doch er konnte es nicht. Zu wem sollte er beten? Und was sollte er erflehen? »Um autokratisch zu regieren, muß man ein Gott sein,« – das hatte er selbst gesagt, und auch die anderen hatten es ihm gesagt; sie haben auch wirklich ihn, den Menschen, zu Gott gemacht. Wenn aber ein Mensch Gott ist, so gibt es keinen Gott.

Er bedeckte wieder das Gesicht mit den Händen, stürzte sich in den Schnee und lag so lange Zeit unbeweglich, wie ein Toter.

Der Schnee fiel aber noch immer in der Dämmerluft und bedeckte den Toten mit einem Leichentuch.


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