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III.

Am Samstag, den 14. November, stand der Kaiser wie gewöhnlich um halb sieben Uhr früh auf; er kleidete sich an, ging von Jegorytsch gestützt aus dem Schlafzimmer ins Toilettezimmer, setzte sich vor das kleine Tischchen mit dem runden Spiegel und ließ sich das Rasierzeug geben. Jegorytsch brachte ihm warmes Wasser, die Seifenschale und die Rasiermesser. Der Kaiser rasierte sich selbst. Die Hände zitterten ihm vor Schwäche, und er schnitt sich ins Kinn. Als er das Blut sah, erbleichte er, wankte und fiel vom Stuhl auf den Boden. Das Tischchen fiel um und der Spiegel zerbrach.

Jegorytsch, der etwas stürzen hörte, eilte herbei und sah den Kaiser bewußtlos auf dem Boden liegen. Er lief ins Arbeitszimmer, in den Saal, lief durch alle Zimmer und schrie:

»Zur Hilfe! Zur Hilfe! Der Kaiser stirbt!«

Das ganze Haus geriet in Aufruhr. Alle schrien und liefen wie wahnsinnig umher.

Wyllié eilte herbei. Als er am Kinn und am Hals des Kaisers Blut sah, glaubte er, daß dieser sich die Kehle durchschnitten habe. Er erschrak so sehr, daß er selbst beinahe ohnmächtig wurde.

Der Kaiser lag aber noch immer auf dem Boden, und niemand half ihm; alle stöhnten nur. Anissimow bekreuzigte sich und schluchzte. Der Leibarzt der Kaiserin, der alte Stoffregen, bemühte sich, eine Flasche mit Kölnischem Wasser zu entkorken, und konnte mit ihr nicht fertig werden. Wolkonskij stand in Unterhosen und Schlafrock in der Türe, vor Schreck erstarrt, und versperrte den Durchgang. Als die Kaiserin ins Zimmer trat, mußte sie ihn zurückstoßen. Sie war soeben aus dem Bette gesprungen und hatte nicht Zeit gehabt, sich halbwegs anzukleiden; die Nachthaube saß ihr schief auf dem Kopf. Als sie den Kaiser erblickte, glaubte sie, daß er sterbe. Doch sie verlor nicht den Kopf wie die anderen. Ihr Gesicht drückte plötzlich Ruhe und große Entschlossenheit aus. Sie befahl, ihn aufzuheben und ins Schlafzimmer zu tragen.

Man legte ihn auf sein schmales Feldbett, auf dem er immer schlief. Als Wyllié ihm den Seifenschaum vom Kinn abwischte, sah er, daß das Blut aus einer ganz unbedeutenden Schramme kam, die er sich beim Rasieren beigebracht hatte. Er beruhigte sich sofort und beruhigte auch die Kaiserin: es sei eine gewöhnliche Ohnmacht, die bald vergehen werde. Der Kaiser kam auch bald wieder zu sich.

»Was war es, Lise?« fragte er, die Augen öffnend.

»Es war nichts, mein Freund. Sie fielen in Ohnmacht und wir brachten Sie ins Bett.«

»Habe ich euch erschreckt? Wie dumm ... wozu?« Er wußte offenbar gar nicht, was er sprach. »Und wo ist er

»Wer?«

Der Kaiser gab keine Antwort und blickte sich um. Er kam wohl erst jetzt ganz zum Bewußtsein.

»Geht, geht alle hinaus. Sagen Sie ihnen, Lise, daß sie alle hinausgehen. Ich will niemand sehen. Ich will schlafen.«

Er schloß die Augen und wurde wieder bewußtlos. Dieser Zustand hielt den ganzen Tag an. Er hatte starkes Fieber. Er atmete schwer, stöhnte und klagte über unerträgliche Kopfschmerzen, besonders in der linken Schläfe. Die Haut im Nacken und hinter den Ohren war ganz rot; sein Gesicht zuckte wie im Krampfe; er konnte nur mit Mühe schlucken.

Die Ärzte fürchteten, daß es eine Gehirnentzündung sei. Sie wollten ihm hinter den Ohren Blutegel ansetzen; er wehrte sich dagegen und schrie:

»Laßt mich, laßt mich, quält mich nicht, um Gotteswillen!«

Am gleichen Abend traten die Ärzte im Audienzsaal in Gegenwart der Kaiserin und des Fürsten Wolkonskij zu einem Konsilium zusammen.

»Er weiß selbst nicht, was er sagt und was er tut. Man muß Gewalt anwenden; sonst wüßte ich kein Mittel,« sagte Wyllié.

»Es gibt doch noch ein Mittel,« entgegnete Wolkonskij.

»Und das wäre?«

»Man muß Seiner Majestät vorschlagen, zu beichten und zu kommunizieren; der Beichtvater muß ihn dabei überreden, seinen Widerstand gegen die Ärzte aufzugeben.«

Alle blickten fragend auf die Kaiserin.

»Sie glauben, Wyllié ...« begann sie und kam nicht weiter.

»Ja, wenn Majestät wollten ...«

»Sofort?«

»Je schneller, um so besser.«

Ihr Gesicht wurde wieder ebenso ruhig und entschlossen wie am Morgen. Sie bekreuzigte sich, ging ins Krankenzimmer und setzte sich zu ihm auf den Bettrand. Er sah sie gespannt an:

»Was haben Sie, Lise?«

»Ich möchte Sie um etwas bitten,« sagte sie französisch. »Da Sie alle ärztlichen Mittel zurückweisen, werden Sie sich vielleicht doch zu einem Mittel entschließen, das ich Ihnen vorschlagen will.«

»Und das wäre?«

»Beichte und Kommunion.«

Er wußte zwar, daß er starb, doch er erstaunte:

»Steht es denn so schlecht mit mir?«

»Nein, mein Freund,« erwiderte sie, und ihr Gesicht schien noch ruhiger. »Doch jeder Christ greift bei schwerer Krankheit zu diesem Mittel ...«

»Rufen Sie Wyllié,« sagte der Kaiser.

Wyllié kam.

»Bin ich denn wirklich so krank, daß ich kommunizieren muß? Sage mir die reine Wahrheit, fürchte dich nicht.«

»Ich kann es nicht verhehlen, Majestät, daß Ihr Zustand höchst bedenklich ist.«

»Gut, der Geistliche soll kommen.«

Man schickte nach dem Dompropst P. Alexej Fedotow; es war derselbe, der bei der Namenstagsfeier beim Stadthauptmann Dunajew prophezeit hatte: »Einen Dreck werdet ihr bekommen!«

P. Alexej war ein arger Trinker; am vergangenen Tage hatte er vier Hochzeiten bei Kaufleuten mitgemacht und war ordentlich betrunken. Als man ihn zum Kaiser holen wollte, konnte ihn die Frau nur mit großer Mühe wecken. Als er endlich erwachte und begriff, wohin man ihn berief, erschrak er so sehr, daß ihn beinahe der Schlag traf. Er goß sich einen Kübel kaltes Wasser auf den Kopf, kam einigermaßen zur Besinnung und eilte ins Palais.

Um diese Zeit hatte der Kranke einen starken Schweißausbruch, der ihn so sehr schwächte, daß die Ärzte mit der Kommunion noch etwas warten wollten.

Um fünf Uhr früh fragte er:

»Wo ist der Geistliche?«

Man führte P. Alexej zu ihm herein.

»Betrachten Sie mich als einen gewöhnlichen Christen und vergessen Sie ganz meine Majestät,« sagte ihm der Kaiser, was er allen seinen Beichtvätern zu sagen pflegte.

Er begann zu beichten.

Er hatte früher so oft an diesen Augenblick gedacht und sich immer vorzustellen versucht, was er bei dieser letzten Beichte empfinden werde; der Augenblick war aber da, und er spürte nichts. Er sprach von dem Schrecklichsten, Geheimsten und Beschämendsten, was in seinem Leben war, betrachtete dabei den ehrwürdigen grauen Bart des Geistlichen und sah, wie sorgfältig er gekämmt war; er sah sein aufgedunsenes Gesicht mit den kleinen, sonst immer so lustigen und verschmitzten und jetzt so erschrockenen Augen, und sagte sich: »Nein, er wird meine Majestät nicht vergessen.« Er bemerkte auch, daß die dunkelviolette, seidene Soutane falsch zugehakt war: der oberste Haken blieb ohne Öse; der Geistliche hatte sich wohl in großer Hast angekleidet. Er sah seine Nase mit den rotblauen Äderchen und sagte sich: »Wahrscheinlich ist er ein Säufer.« Und dann erschrak er wieder: »Mein Gott! Was denke ich in einem solchen Augenblick?! ...« Er wollte sich entsetzen, spürte aber nichts als Langeweile und das Verlangen, die Sache schneller zu erledigen.

Als die Beichte zu Ende war, kamen alle ins Zimmer zurück, und der Kaiser kommunizierte.

Alle gratulierten ihm. Er sah die feierlichen Gesichter und fühlte, daß er etwas sagen müsse, um den Anstand zu wahren. Er blickte sich um, und als seine Augen die Kaiserin trafen, sagte er deutlich, russisch, damit es alle verstehen konnten:

»Ich fühlte mich noch nie so getröstet wie jetzt. Ich danke Ihnen, meine Liebe.«

– Das ist doch alles? – fragte er sich. – Nein, ich wollte noch etwas ... –

P. Alexej kniete vor ihm nieder; in der einen Hand hielt er den Kelch, in der anderen das Kreuz. Der Kaiser sah ihn bestürzt an.

»Was ist das? Was fällt Ihnen ein? Stehen Sie doch auf, stehen Sie sofort auf! Darf man denn mit dem Kelche in der Hand knien?«

Wenn Geistliche vor ihm niederknieten, empörte er sich jedesmal über die Blasphemie. Er hatte es ihnen oft verboten; und gerade in einem solchen Augenblicke mußte er es wieder sehen.

»Sie haben Ihre Seele geheilt, Majestät; im Namen der ganzen Kirche und des ganzen Volkes flehe ich Sie an: tun Sie auch etwas für die Heilung Ihres Körpers,« sprach P. Alexej die ihm offenbar von jemand anderem beigebrachten Worte nach.

»Stehen Sie auf, stehen Sie sofort auf,« wiederholte der Kaiser angeekelt.

Doch P. Alexej wollte nicht aufstehen.

»Weisen Sie die Hilfe der Ärzte nicht zurück, Majestät. Lassen Sie sich Blutegel ansetzen ...«

»Nein, nein, lassen Sie mich!« begann der Kaiser. Er winkte gleichgültig mit der Hand und sagte: »Gut, tut, was ihr wollt ...«

Der Beichtvater zog sich zurück, und die Ärzte gingen ans Werk. Sie setzten ihm 35 Blutegel auf den Nacken und hinter den Ohren; auf Arme und Hüften – Senfpflaster; auf den Kopf – kalte Umschläge; man setzte ihm auch ein Klystier und gab ihm noch innere Mittel ein. Man arbeitete zwei Stunden an ihm herum. Er ließ sich alles gefallen. Als die Ärzte fertig waren, war er so müde und schwach, daß er wieder die Besinnung verlor.

In einer späten Nachtstunde ging der diensthabende Leibarzt Tarassow aus dem Krankenzimmer, um Wyllié nach etwas zu fragen; beim Kranken blieb nur der Kammerdiener Anissimow zurück. Der Kaiser kam zu sich und befahl Anissimow, die Senfpflaster zu entfernen.

»Die Ärzte wollen es nicht haben, Majestät. Sie müssen sich noch ein wenig gedulden ...«

»Du kannst dich selbst gedulden!« schrie ihn der Kaiser erbost an und begann selbst die Senfpflaster herunterzureißen.

Jegorytsch half ihm dabei. Der Kaiser wurde wieder bewußtlos, machte plötzlich die Augen auf und sagte mit veränderter Stimme:

»Jegorytsch, wo ist er?«

»Wen meinen Majestät?«

»Kusmitsch, Fjodor Kusmitsch, kennst du ihn denn nicht?« flüsterte der Kaiser, »Auf dem Markte gibt es so einen alten Pilger: er irrt auf den Landstraßen herum und sammelt Geld zur Erbauung von Kirchen; Fjodor Kusmitsch heißt er. Geh einmal schnell hin und erfahre, wo er ist. Doch sofort, sonst wird es zu spät. Ich muß mit ihm sprechen. Tue es um Gottes willen, Jegorytsch! Daß es nur niemand erfährt, hörst du? Wenn es, Gott behüte, Dibitsch erfährt, wird er ihn zu Tode peitschen lassen: er wird sagen, es sei ein Vagabund ohne Ausweispapiere ...«

Jegorytsch war leichenblaß und bekreuzigte sich in einem fort; er sah, daß der Kaiser phantasierte; es schien ihm aber, daß seine Worte doch einen Sinn haben mußten, und daß in diesem Phantasieren doch nicht alles Phantasie war.

»Nun, was fürchtest du denn?« fuhr der Kaiser fort. »Ich sage dir ja: er ist ein Mann Gottes, ein Heiliger. Viel, viel besser als wir beide. Wenn doch dieser auf den Thron käme! Wahrlich, ein Gesalbter Gottes! Er wird es aber nie wollen; was ist ihm der Thron? Er ist auch ohne Kaiserreich Kaiser! Ein Bettler und dabei ein Zar. Und wenn ihn jemand mit Knuten züchtigen ließe?! Einen Zaren mit Knuten! Das wäre ja dasselbe, wie wenn man mich peitschen ließe. Er sieht mir ja auch ähnlich. Die Ähnlichkeit ist nicht sehr groß, doch fällt sie immerhin auf. Er hat weiße Augenbrauen und Wimpern, eine kleine Glatze, blaue Augen wie bei einem Kälbchen, wie ich sie auch an mir selbst im Spiegel sehe. Als ich mich neulich rasierte und vom Stuhle fiel, weißt du, wen ich damals im Spiegel sah? – Ihn, Fjodor Kusmitsch, wirklich! Erzähle es aber niemand, mein Lieber, ich sage es dir unter strenger Verschwiegenheit ...«

»Majestät! Majestät!« stammelte Jegorytsch entsetzt.

Der Kaiser wollte noch etwas sagen, richtete sich auf, fiel aber gleich in die Kissen zurück und schloß erschöpft die Augen. Nach einer Weile öffnete er sie wieder und blickte Jegorytsch erstaunt an.

»Was gibt's? Was siehst du mich so an? Was habe ich eben gesagt?«

»Ich weiß nicht, Majestät, von irgendeinem Fjodor Kusmitsch ...«

»Unsinn! Ich habe wohl phantasiert? Was hörst du auch zu, Dummkopf! Geh hinaus und rufe Tarassow.«

Er phantasierte die ganze Nacht, stöhnte und warf sich nach allen Seiten. Er fragte nach Sophie, als ob sie am Leben wäre, und nach dem Fürsten Valerian Michailowitsch Golitzin, ob er bald käme.

Gegen Morgen stand es mit ihm so schlecht, daß alle glaubten, es sei das Ende. Seit vier Tagen hatte er keine Nahrung zu sich genommen, denn es war ihm ununterbrochen übel; er nahm nur einige Löffel Zitroneneis zu sich. Er sprach fast nichts, wenn aber die Kaiserin zu ihm kam, lächelte er ihr zu, nahm ihre Hand, küßte sie und drückte sie sich an die Stirne oder ans Herz.

»Sie sind müde? Warum gehen Sie nicht aus?« fragte er sie einmal um zwei Uhr nachts: er unterschied wohl nicht mehr die Tage von den Nächten.

Manchmal faltete er die Hände und flüsterte Gebete.

Am Dienstag, den 17. November, setzten ihm die Ärzte ein Spanischfliegenpflaster auf den Nacken. Er schrie vor Schmerz; als er nicht mehr schreien konnte, begann er zu stöhnen. Er stöhnte ununterbrochen und eintönig:

»Oh – oh – oh – oh!«

Seine Stimme kam der Kaiserin fremd vor; in diesem Stöhnen war etwas, was an das Heulen eines Hundes erinnerte. Sie hielt sich die Ohren zu und stürzte aus dem Zimmer. Sie hörte es aber auch durch die Wände hindurch und lief in den Garten.

Es war ein heiterer Morgen. Am blauen Himmel strahlte die Sonne, auf dem blauen Meere schimmerte ein weißes Segel. Die Luft war still, klar und durchsichtig wie Kristall. Sie sah auf alles voller Erstaunen. Der Widerspruch zwischen diesem heiteren Morgen und jenem furchtbaren, unmenschlichen Stöhnen war zu schrecklich. Sie hob die Augen gen Himmel und dachte an die Worte: Bittet, so wird euch gegeben. – »Ich bitte, bitte, bitte! Tue es, tue es, tue es!« Sie betete nicht, sie forderte.

Als sie ins Haus zurückkehrte, war das Stöhnen verstummt. Im Audienzsaal traf sie Wyllié, der etwas mit den beiden diensthabenden Ärzten Tarassow und Dobbert besprach. Sie lauschte ihrem Gespräche, Wyllié sagte:

»Ich glaube, das Spanischfliegenpflaster beginnt zu wirken. Seht zu, daß er es nicht herunterreißt wie neulich die Senfpflaster. Im äußersten Falle müßte man ...«

Er schloß im Flüsterton. Sie hörte es nicht, doch sie verstand. »Man wird ihm wohl wie einem verrückten die Arme binden. Nein, nein, ich will lieber selbst ...«

Sie ging zu ihm hinein. Sein Gesicht hatte den gleichen Ausdruck wie bei einem Kinde, das man schwer gekränkt hat und das eben aufgehört hat, zu weinen. Als er sie erkannte, lächelte er ihr wie immer zu.

»Est-ce que cela ne vous fatiguera pas, chère amie?"

Die Stores an den Fenstern waren heruntergelassen. Er sah hin und sagte:

»Zieht doch die Stores auf.«

Man zog sie sofort auf. Das Zimmer wurde von Sonnenlicht überflutet.

»Wie schön das Wetter ist,« sagte er laut und deutlich, beinahe mit seiner gewöhnlichen Stimme.

Er führte die Hand an den Nacken. Die Kaiserin hielt sie zurück.

»Was ist das?« fragte er. »Warum tut es so weh?«

»Es ist ein Spanischfliegenpflaster, es soll das Blut wegziehen.«

Er hob wieder die Hand, und sie hielt sie wieder zurück; und das wiederholte sich mehrere Male. Sie flehte ihn an, liebkoste ihn, kämpfte mit ihm. In diesem liebevollen Kampfe war etwas, was an ihre ersten Liebkosungen erinnerte:

Gott Amor wollte Psychen einst
Im Spiele fangen ...

Er erkannte Jegorytsch und lächelte ihm zu.

»Du bist wohl müde, mein Lieber? Geh, ruhe dich aus.«

»Es macht nichts, Majestät, wenn es nur Ihnen besser geht ...«

»Es geht mir auch besser, siehst du es denn nicht?«

»Gott sei Dank!« Jegorytsch bekreuzigte sich. »Die Krankheit geht zurück, er wird bald gesund werden!« flüsterte er der Kaiserin mit solcher Überzeugung zu, daß auch sie plötzlich daran glaubte.

Sie betete: »Tue es! Tue es! Tue es!« Und sie wußte, daß es schon in Erfüllung ging.

»Liebes Mütterchen,« schrieb sie an diesem Tage der Kaiserinmutter Maria Fjodorowna, »heute trat in seinem Befinden eine sichtbare Besserung ein, tausend Dank dem Höchsten! Mein Gott, was für Augenblicke habe ich durchgemacht! Ich kann mir auch Ihre Unruhe vorstellen. Sie bekommen ja täglich ärztliche Berichte und werden folglich wissen, wie es mit ihm gestern und heute nacht stand. Heute sagt aber auch Wyllié, daß sein Zustand befriedigend sei. Ich bin ganz außer mir und kann Ihnen nichts mehr sagen. Beten Sie mit uns.«

Um fünf Uhr nachmittags saß sie bei ihm und hielt seine Hand. Sie wollte sich nicht eingestehen, daß seine Hand glühte: er hatte wieder Fieber. Er verlor einige Male das Bewußtsein und sprach mit großer Mühe:

» Ne pourrait-on pas, dites-moi un peu?« Und dann fuhr er russisch fort:

»Geben Sie mir ...«

Man reichte ihm Tee, Limonade, Eis; seinen Augen konnte man aber ablesen, daß es immer nicht das Richtige war. Schließlich winkte er Wolkonskij zu sich heran und sagte:

»Mach mir ...«

»Was befehlen Majestät?«

Der Kaiser blickte ihn an und sagte:

»Mundwasser.«

Wolkonskij bereitete das Mundwasser, obwohl er wußte, daß der Kranke zu schwach war, um sich den Mund spülen zu können. Auch war er wieder bewußtlos.

Er begann noch einige Male:

»Ne pourrait-on pas? Il faudrait ...«

Schließlich sagte er ganz leise:

»Renvoyer tout le monde? ...«

Im Zimmer war aber niemand außer der Kaiserin und Wolkonskij, der in der Ecke stand, so daß ihn der Kranke gar nicht sehen konnte.

»Bitte, bitte! ...« Er flehte so inständig, als ob man ihm das, was er haben wollte, verweigerte.

Plötzlich sagte er laut und deutlich, beinahe mit seiner gewöhnlichen Stimme:

»Ich will schlafen.«

Dies waren seine letzten Worte, die sie noch hören konnte. Die Kopfkissen waren hoch aufgerichtet, so daß er mehr saß als lag. Als er sagte: »Ich will schlafen«, ließ er den Kopf sinken und schloß die Augen; er versuchte, die Hände wie zu einem Gebet zu falten, konnte es aber nicht mehr: die Hände fielen kraftlos auf die Bettdecke herab. Er lächelte wieder wie am Anfang seiner Krankheit, als sie noch nicht wußte, was dieses Lächeln bedeutete; jetzt wußte sie es. Sein Gesicht war ruhig, strahlend und so schön, wie sie es bei ihm noch nie gesehen hatte. »Ein Engel, den man peinigt,« sagte sie sich, »wie kann ich ihn noch mehr lieben, wenn er nicht mehr ist? ...« Sie wollte eigentlich sagen: »Wenn er wieder gesund wird,« doch sie hatte jetzt zum ersten Male begriffen, daß er nie wieder gesund werden wird, daß es der Tod war.

Er schlug die Augen auf und blickte sie an; sie sah, daß er ihr noch etwas sagen wollte, und sie beugte sich über ihn.

»Es ist nicht schrecklich, Lise, es ist nicht schrecklich ...« flüsterte er so leise, daß sie es gar nicht verstand. Er wollte sagen: »Es ist nicht schrecklich, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen.« Er sah ihr aber an, daß er es gar nicht zu sagen brauchte und daß sie es schon von selbst begriffen hatte.

Um diese Zeit hatten Wolkonskij und Dibitsch im Audienzsaal eine Unterredung.

»Meine Lage ist sehr schwierig, Fürst: als Generalstabschef muß ich wissen, an wen ich mich im Falle des Ablebens Seiner Majestät zu wenden habe,« sagte Dibitsch.

»Ich glaube, an den Thronfolger Konstantin Pawlowitsch,« erwiderte Wolkonskij.

Von der Verzichtleistung Konstantins wußten sie beide nichts; doch es stiegen ihnen, wie auch allen, bei diesem Namen unklare Zweifel auf.

»Ja, an Konstantin Pawlowitsch,« fuhr Dibitsch fort, »Doch der letzte Wille Seiner Majestät ist uns immerhin unbekannt ...«

»Gehen Sie also hin und fragen Sie ihn ... Warum haben Sie, übrigens, nicht schon früher daran gedacht?« sagte Wolkonskij gereizt.

»Belieben sich Durchlaucht daran zu erinnern, daß ich schon mehreremal die Ehre hatte, es Eurer Durchlaucht zu sagen,« entgegnete Dibitsch ebenfalls gereizt.

»Warum haben Sie es nur mir gesagt und selbst nichts unternommen?«

»Ich hielt es für unpassend ...«

»Und Sie wollten, daß ich für Sie das Unpassende tue?«

Sie standen einander gegenüber wie zwei kampfbereite Hähne. Wolkonskij sah auf Dibitsch von oben herab, weil er es nicht anders konnte: Dibitschs Kopf reichte ihm kaum an die Schulter. Dibitsch war ein kleines dickes Männchen mit großem Kopf und krummen Beinen; wenn er in der Front marschierte, mußte er laufen, um nicht hinter den anderen zurückzubleiben; er bewegte sich plump und ungelenk wie eine Krabbe; er sah immer verschlafen aus, und an seiner Uniform war meistens etwas nicht in Ordnung; sein rotes Haar war zerzaust, sein Gesicht rot und aufgedunsen; man behauptete, daß er trinke. Das Äußere war aber trügerisch: er war unermüdlich, eifrig, hitzig, schlau und aufbrausend; nicht umsonst nannten ihn die Soldaten später im türkischen Feldzuge: »Samowar-Pascha.« Zugleich war er aber kaltblütig, raffiniert, klug und scharfsinnig. Dem Kaiser gab er in allen Dingen nach, und dieser hatte oft vor ihm Angst. Er pflegte zu sagen: »Dibitsch soll man nicht den Finger in den Mund legen.«

Dibitsch und Wolkonskij haßten einander; der eine war russischer Fürst, Aristokrat vom Kopf bis zu den Füßen; der andere – ein Emporkömmling, der Sohn eines armen Korporals aus Preußisch-Schlesien, und war nach Rußland, wie es hieß, zu Fuß mit einem Ranzen auf dem Rücken, gekommen. Dibitsch nannte den Fürsten »alte Galosche«, und dieser nannte ihn »Araktschejews Kreatur« und »Schlangenbrut«. Wie sehr er auch Dibitsch verachtete, ahnte er doch in der Tiefe seiner Seele, daß die Zukunft nicht ihm, dem russischen Fürsten, sondern diesem preußischen Emporkömmling gehörte.

»Was wollen Sie eigentlich von mir, Exzellenz?« fragte endlich Wolkonskij, sich nur mit Mühe beherrschend.

»Wollen Sie nicht die Güte haben, Fürst, es Ihrer Majestät der Kaiserin zu melden?«

»Nein, ergebenster Diener! Wollen Sie es nur selbst tun.«

Die stahlgrauen Äuglein Dibitschs flammten vor Zorn, sein Gesicht wurde rot, der »Samowar« kochte.

»Ganz wie Sie wollen, Fürst, doch wenn etwas passiert, ist es nicht meine Schuld. Als ich mich an Euere Durchlaucht wandte, glaubte ich, daß man in einem solchen Augenblick alles Persönliche vergessen und nur an seine Pflicht gegen den Zaren und das Vaterland denken müsse. Offenbar habe ich mich getäuscht ... Ich habe die Ehre!«

»Warten Sie noch,« hielt ihn Wolkonskij zurück. »Wollen wir es so machen: wir begeben uns zusammen ins Krankenzimmer, und Sie werden es in meiner Gegenwart der Kaiserin melden.«

Dibitsch dachte nach und stimmte zu. Sie gingen beide hinein. Der Kranke war bewußtlos. Die Kaiserin kniete vor ihm, den Kopf an den Bettrand gedrückt und das Gesicht mit den Händen bedeckend. Als sie eintraten, stand sie auf; sie sah, daß sie ihr etwas sagen wollten, und ging auf sie zu.

Sie konnte anfangs gar nicht verstehen, was ihr Dibitsch sagte:

»Gott allein kann dem Kaiser helfen und ihn erretten; doch das Wohl und die Sicherheit Rußlands verlangen, daß wir für alle Fälle die nötigen Maßnahmen ergreifen. Ich bitte Ihre Majestät, mir zu sagen, an wen wir uns im Falle einer Katastrophe zu wenden haben?«

Endlich begriff sie es. Sie fühlte sich so beleidigt, daß sie mit den Füßen stampfen, ihn anschreien und aus dem Zimmer jagen wollte: es war ihr, als ob er noch am lebenden Kaiser Maß für einen Sarg nehmen wollte.

»Selbstredend an den Thronfolger Konstantin Pawlowitsch,« sagte sie ganz gedankenlos, nur um ihn schneller abzufertigen. Als sie den Namen Konstantins aussprach, stiegen auch ihr dunkle Zweifel auf; sie konnte jetzt aber gar nicht daran denken: dies alles erschien ihr viel zu nichtig.

»Zu Befehl, Majestät,« sagte Dibitsch. Er wollte noch etwas sagen, sie ließ ihn aber nicht zu Worte kommen.

»Ich bitte Sie, General, lassen Sie mich jetzt.«

Sie ging wieder zum Kranken. Dibitsch stand noch immer da, blickte den Kaiser erwartungsvoll an, und es schien ihm, daß auch der Kaiser ihn anblicke. »Soll ich ihn nicht selbst fragen?« ging es ihm durch den Kopf; er ließ es aber sein und ging hinaus.

Seit fünf Nächten hatte im Palais kein Mensch ein Auge zugedrückt. Wyllié war krank vor Müdigkeit, Wolkonskij fiel einige Male in Ohnmacht. Jegorytsch hielt sich kaum auf den Beinen. Die Kaiserin allein schien rüstig: sie, die immer krank und schwach gewesen war, war jetzt stärker als alle.

In den Fenstern wurde es hell, in den Fenstern wurde es dunkel; die Lampen wurden angezündet, die Lampen wurden ausgelöscht; für ihn gab es aber keine Zeit mehr.

Der Kaiser fühlte immer ihre Gegenwart; er konnte nicht mehr sprechen, doch wenn er lautlos die Lippen bewegte, wußte sie gleich, was er wollte: sie legte ihm ihre Hand auf die Stirne oder aufs Herz und hielt sie stundenlang in dieser Lage. Einmal fühlte sie auf ihrer Wange zwei schwache Zuckungen seiner Lippen: dies war sein letzter Kuß.

Ein anderes Mal erkannte er Wolkonskij und lächelte ihm zu; als dieser ihm die Hände zu küssen begann, bedeutete er ihm mit den Augen, daß er es nicht haben wolle.

Von Minute zu Minute erwartete man das Ende. Am Mittwoch, dem 18. November, bekam er morgens wieder Krämpfe im Gesicht. Er atmete so schwer und heiser, daß man es aus dem Nebenzimmer hören konnte. Sein Gesicht schien leblos, die Nase hatte sich zugespitzt, die Augen waren eingefallen und vom Spinngewebe des Todes überzogen. Man dachte, es sei das Ende. Man rief den Geistlichen herbei, um die Sterbegebete zu lesen. Die Krämpfe hörten aber allmählich auf. Die Uhr schlug neun. Er sah auf die Uhr, und sein Blick schien wieder lebendig; dann erkannte er den diensthabenden Hofarzt Dobbert, den er sonst nie in seinem Zimmer gesehen hatte, und blickte ihn lange erstaunt an, als ob er fragen wollte, was er bei ihm zu suchen habe.

Plötzlich begannen alle wieder zu hoffen. Er konnte schon lange nicht mehr schlucken; um ihn etwas zu stärken, setzte man ihm zwei Klystiere mit Bouillon und Graupen.

Die Hoffnung währte jedoch nicht lange: um Mitternacht begann der Todeskampf.

Die Kaiserin hielt seinen Kopf in den Händen, benetzte sich ab und zu die Finger mit kaltem Wasser und strich dann über seine entzündeten Lippen, um sie etwas zu erfrischen. Er sog an ihren Fingern, und sie lächelte ihm zu, wie die Mutter ihrem Kinde, das sie stillt.

Der Todeskampf währte die ganze Nacht bis zum Morgen. Am Donnerstag, den 19. November, war das Wetter trüb. In allen Kirchen wurden Bittgottesdienste für den Kaiser abgehalten. Auf dem Platze vor dem Palais drängte sich das Volk.

Der Sterbende war bei vollem Bewußtsein. Er öffnete oft die Augen und blickte bald auf das kleine Kruzifix im goldenen Medaillon, das an der Wand hing und das ihm einst sein Vater geschenkt hatte, und bald auf die Kaiserin. Sein Atem ging immer schwächer; manchmal stockte er ganz, kam aber nach einigen Augenblicken wieder; endlich atmete er zum letzten Male Luft ein und atmete sie nicht wieder aus.

Wyllié fühlte ihm den Puls und warf der Kaiserin einen stummen Blick zu. Sie bekreuzigte sich. Die Uhr zeigte 10 Uhr 47 Minuten früh.

Alle weinten. Nur die Kaiserin nicht. Sie kniete nieder, verbeugte sich tief vor dem Verstorbenen, stand auf, drückte ihm die Augen zu und behielt die Finger lange auf seinen Lidern, damit sie sich nicht wieder öffneten; sie faltete sorgfältig ihr Taschentuch, band damit dem Toten die Unterkiefer fest, bekreuzigte ihn und küßte ihn auf die Stirne, wie sie es immer abends vor dem Schlafengehen zu tun pflegte; sie machte noch eine tiefe Verbeugung und verließ das Zimmer.


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