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III.

»Meine liebe Sofa, ich werde Sie heute, trotz meines Versprechens, nicht besuchen können. Der Trauergottesdienst hat mich sehr ermüdet; mit meinem kranken Bein geht es zwar besser, doch spüre ich noch immer ab und zu Schmerzen. Stoffregen sagte mir, daß Sie wieder krank sind. Er meint, daß Sie sich nicht genügend schonen. Wenn Sie nur wüßten, welchen Kummer Sie mir damit bereiten! Ich bitte Sie, mein Kind, alle Vorschriften der Ärzte peinlich genau zu befolgen: in diesem Klima kann jede Unvorsichtigkeit die schlimmsten Folgen nach sich ziehen. Seien Sie doch gescheit, gehorchen Sie den Ärzten und lassen Sie sich geduldig behandeln. Sobald ich wieder einmal einen freien Augenblick habe, will ich Sie besuchen, und ich hoffe, daß ich Sie gesund wiedersehe. Kaiserin Elisabeth sendet Ihnen viele Küsse. Das Medaillon mit ihrem Bildnis ist bald fertig; ich werde es Ihnen selbst überbringen. Der Herr und seine heilige Mutter seien Ihnen gnädig.

St.-Petersburg, d. 11. März 1824.

Ihr Papa.«

 

Die alte Kinderfrau Wassilissa Prokofjewna überbrachte Sophie diesen französisch geschriebenen Brief des Kaisers. Als Sophie ihn gelesen hatte, brach sie beinahe in Tränen aus. Sie schämte sich aber vor der Alten.

»Gut, jetzt kannst du gehen,« sagte sie, mit Mühe die Tränen zurückhaltend.

»Belieben Fräulein die Medizin zu nehmen.«

Prokofjewna griff kurz entschlossen nach der Medizinflasche und einem Löffel.

»Nein, jetzt nicht. Ich werde es schon selbst einnehmen. Geh.«

»Gestern haben Sie auch keine eingenommen. Und jetzt wollen Sie wieder nicht.«

»Geh, Alte, du bist abscheulich! ... Geh, wenn ich es dir sage! Geh! ...« schrie Sophie die Kinderfrau an. In ihrer Stimme zitterten die Tränen kindlichen Eigensinns, kindlicher Kränkung.

Die Alte ging aber nicht. Sie füllte den Löffel mit der Medizin und fuhr fort zu brummen:

»Der Doktor sagte doch, daß Sie sie pünktlich einnehmen sollen. Sie haben es auch dem Papa versprochen, und der Mama ... was tun Sie aber?«

Sie hielt den vollen Löffel dem Mädchen vor den Mund.

»Belieben Sie es sofort einzunehmen.«

Der Löffel zitterte in ihren alten Händen und drohte die Flüssigkeit zu verschütten. Beim bloßen Gedanken an die trüb-gelbe dickflüssige Medizin mit dem ihr so gut bekannten abscheulichen Geschmack, dem Geschmack ihrer Krankheit, fühlte Sophie Übelkeit. Das über sie gebeugte Gesicht der Alten mit dem eingefallenen Mund und den unzähligen Runzeln, dieses ihr von der frühesten Kindheit her vertraute und von ihr so zärtlich geliebte Gesicht erschien ihr plötzlich ebenso verhaßt und ekelhaft wie die Medizin. Sie glaubte, daß nicht die Krankheit der wahre Grund ihrer Leiden sei, sondern die Alte, Mama, der Arzt, Schuwalow und alle die Menschen, die ihr keine Ruhe ließen und sie immerfort quälten. Sie stieß die Hand der Alten haßerfüllt von sich. Der Löffel fiel zu Boden, die Medizin ergoß sich auf den Teppich.

»Heilige Mutter Gottes!« stöhnte Prokofjewna auf. »Jetzt haben Sie alles auf den Teppich verschüttet! wenn es Filatytsch sieht ... Was soll man nur dazu sagen? So ein Kind! Auch mit Güte kann man bei ihr nichts ausrichten! Warten Sie nur, Fräulein, ich werde es schon dem Papa sagen ...«

Sophie fragte sich: welchem Papa? Die Alte hatte früher Dmitrij Ljwowitsch so genannt; jetzt nannte sie den Kaiser Papa und den früheren Papa Onkel, Exzellenz, oder einfach »der gnädige Herr«; wenn sie sich ab und zu versprach, errötete sie vor Scham. Ist denn Sophie ein kleines Kind? Weiß sie denn nicht alles? Warum sollte sie sich schämen? Sie hat eben zwei Papas und fertig.

Die Alte ging hinaus. Gott sei Dank, daß sie fort ist! Jetzt darf man ungestört nachdenken und weinen. Kaum hatte sie sich aber in den alten Schal der Kinderfrau gehüllt, sich's aus dem Sofa bequem gemacht und nachzudenken begonnen, als sie wieder die schleppenden Schritte hörte. Prokofjewna kam mit einem Handtuch. Krächzend und seufzend kniete sie nieder, wischte den Fußboden ab und versuchte dann wieder den Medizinlöffel zu füllen. Sophie sprang auf, entriß ihr die Flasche und warf sie in den Kamin. Das Glas zerbrach in Scherben, und die Medizin zischte auf den glühenden Kohlen. Dann schrie sie die Alte wütend an:

»Fort! Fort! Fort!«

»Wie Sie es befehlen, Sofia Dmitrijewna; wenn Sie aber wieder krank werden und liegen müssen, werden Sie es schon bereuen. Gott sei mein Zeuge: Sie haben gar kein Mitleid mit Ihrem Papa ...«

»Ich habe mit ihm kein Mitleid, und will krank werden, und will wieder liegen, und werde sterben, sterben, krepieren ... Meinetwegen ... So verdiene ich es auch. Laßt mich in Ruhe, laßt mich! ... Um Gottes willen, quält mich nicht mehr! ... Ich kann nicht mehr, ich kann nicht ... Geh! Geh! Geh!«

Sie vergrub ihr Gesicht in die Kissen und begann zu schluchzen, ihre hageren Schultern erbebten wie im Krampfe: es war ein neuer Hustenanfall.

Als sie sich beruhigte und ihr Gesicht von den Kissen erhob, war die Alte schon fort. Auf ihrem Taschentuch leuchtete ein bedeutungsvoller hellroter Fleck. Sie mußte ihn vor der Kinderfrau, vor Mama, vor Papa, vor dem Doktor und vor allen verheimlichen. Sonst hieß es gleich: Sie hustet wieder Blut, muß also schleunigst nach dem Süden. Sie würde jetzt aber lieber sterben, als verreisen.

Die Alte tat ihr leid. Warum hatte sie sie so schwer gekränkt? Sie weinte jetzt wohl irgendwo im Winkel. Sophie wollte zu ihr hingehen und sie um Vergebung bitten. Kaum hatte sie sich aber erhoben, als ihre Füße wankten und es ihr finster vor den Augen wurde. Vielleicht kam es nur daher, weil der Tag so trüb war? Draußen lag nasser Schnee, es war das nicht enden wollende märzliche Tauwetter.

Sie setzte sich wieder auf das Sofa, rückte möglichst nahe zum Feuer des Kamins, zog die Beine herauf, umschlang mit den Armen die Knie, schrumpfte zusammen, wurde ganz klein und hüllte sich ganz in das warme Tuch ein.

Sie las den Brief noch einmal. Die Stelle, wo von der Kaiserin Elisabeth die Rede war, drückte sie an ihre Lippen. Sie dachte an ihre wenigen, gleichsam verbotenen und verliebten Begegnungen mit der Kaiserin, bald in der Kirche, bald bei einem Spaziergange auf dem Quai, im Sommergarten oder aus der Krestowskij-Insel; sie dachte an ihr müdes, beinahe greisenhaftes, aber immer noch schönes Gesicht, das mädchenhaft und gar nicht frauenhaft war; an den frischen Duft, der nicht ihren Kleidern, sondern ihrem ganzen Wesen, wie einer Blüte zu entströmen schien; an die heimlichen, gleichsam verbotenen Küsse und Liebkosungen, die sie austauschten; an die warmen Spuren der Küsse und Tränen auf ihrem Gesicht; an die scheuen Blicke, die die Kaiserin um sich warf, als ob sie fürchtete, in Gesellschaft des Mädchens gesehen zu werden; an ihr wahnsinniges, gieriges, leidenschaftliches Flüstern: »Mein liebes Kind, liebst du mich auch ein klein wenig?«, an ihre eigenen, gleichfalls leidenschaftlich und gierig hingeflüsterten Worte: »Ich liebe dich, Mama! ... Mama! ... Mamachen! ...« und an das Glück, das sie dabei empfand und das sonst nur in Träumen vorkommt. Sie war damals noch ein Kind und verstand die ganze Bedeutung ihrer Worte nicht; später hatte sie sie begriffen. Ja, sie hat eine zweite, wirkliche Mutter, wie sie auch einen zweiten, wirklichen Vater hat. Sie hat zwei Mütter und zwei Väter. Sie weiß aber zugleich, daß es nur eine wirkliche Mutter geben kann. Wie ist es also? ... Nein, nein, nur nicht nachdenken. Es ist zu schrecklich.

Sie spürte wieder Hustenreiz, doch sie bezwang sich: sie fürchtete, daß wieder Blut kommen könnte. Wenn es aber zu viel Blutflecken gibt, kann sie sie unmöglich alle verbergen. Sie dachte an ihren Liebling, das kleine Äffchen Tinjka, das den Petersburger Winter nicht vertragen konnte, sich erkältete, lange Zeit hustete und vor Kälte zitternd tagelang unbeweglich in der Nähe des Feuers kauerte; mit unglücklichen Kinderaugen schaute das Tier alle an, gab ab und zu seltsame Triller von sich und starb schließlich an der Schwindsucht.

Den Namen Tinjka hatte dem Affen die Kinderfrau gegeben, weil er Sophies französischen Erzieherin, Madame d'Attigni ähnlich sah; die Kinderfrau hatte ursprünglich die Französin so genannt und dann den Namen auf das Äffchen übertragen; sie haßte beide, wie den Affen, der einem Teufel, so auch die Französin, die einer Hexe ähnlich sah. Man erzählte sich, daß Madame d'Attigni in ihrer frühesten Jugend, in den Tagen der großen Revolution, das Amt einer Oberpriesterin beim Geheimorden von Avignon bekleidet hätte; dieser Orden war vom polnischen Grafen Thaddäus Hrabjanka, dem bekannten Adepten der schwarzen Magie, begründet worden. Durch die Vermittlung dieses Grafen kam Madame d'Attigni, die große Mutter der Götter, Hekate, Diana, Königin des Himmels und der Erde und Zeitgenossin des Chaos, wie sie von den Adepten genannt wurde, später als Gouvernante zu den Naryschkins. Sie starb in hohem Alter, vor dem Tode wurde sie ganz kindisch, schrumpfte zusammen, trocknete ein und sah dem Affen noch ähnlicher.

Sophie träumte in ihrem Fieber von der Tinjka; es war die Französin und das Äffchen zur gleichen Zeit. Sie sprang im Zimmer umher, schnalzte mit der Zunge, trillerte und sprach: »Ich bin Hekate, ich bin Diana, ich bin die große Mutter der Götter!« Dann sprang sie Sophie auf die Brust und begann sie zu würgen. Es träumte ihr noch, wie Großpapa Krylow ein kleines Mädchen mit Ruten peitschte und sie anschrie: »Lecke sofort das Blut vom Boden auf!«; das Mädchen kroch auf allen Vieren auf dem Boden umher, schrumpfte zusammen, verwandelte sich in Tinjka und leckte mit der Zunge das Blut auf. Dann sah sie eine Menge kleiner schwarzer Geschöpfe – Halbhunde und Halbaffen, die an den dicken weißen Brüsten Nenilas, der Viehmagd von Pokrowskoje, sogen. Tinjka kroch zu ihr unter das Tuch und kitzelte ihr mit ihrer kalten Pfote den Hals, so daß sie von neuem Hustenreiz spürte.

Sie erwachte und schlug mit Anstrengung die Augen auf. Sie begriff, daß es ein Fiebertraum war. Wird sie denn wieder schwer erkranken, wie im vorigen Jahre den ganzen Winter über liegen müssen und ihre »wirkliche Mama« nicht mehr sehen können? Nein, Unsinn, man soll sich nicht so gehen lassen. Jetzt ist ihr wieder warm, der Fieberanfall ist vorbei. Unter dem Tuche ist es zu heiß, zu schwül. Sie warf das Tuch ab, stand auf und trat ans Fenster.

Das große Spiegelglasfenster im halbrunden Erker ging auf die Fontanka hinaus. Sie blickte nach den beiden Richtungen – zur Simeon-Brücke und zum Newskij-Prospekt: vielleicht wird doch noch der ihr so gut bekannte dunkelblaue Wagen mit dem bärtigen Kutscher Ilja aus dem Bocke auftauchen? Neulich hatte ja Papa auch abgeschrieben, war aber schließlich doch gekommen.

Der Wagen kam nicht. Eine Leichenprozession zog vorbei, auf dem einfachen kleinen Sarg aus rohen Fichtenbrettern lag statt der üblichen Brokatdecke Schnee. Dem Sarge folgte ein kleines, altes, kahlköpfiges und rotnasiges Männchen in viel zu kurzer, geflickter Beamtenuniform, die auf ihm wie ein Sack hing; aus Kummer oder Trunkenheit wankte er wie berauscht hin und her; ein kleines Mädchen, wohl die Schwester des Verstorbenen, führte ihn an der Hand. Der Leichenwagen wurde auf der schlechten Fahrstraße hin und hergeworfen, und der kleine Sarg drohte in den Straßenkot zu fallen.

Der Himmel war schmutziggelb mit dunkelgrauen Flecken, wie der Bauch einer Spinne. Vom Himmel sickerte etwas Nasses und Kaltes: ein eisiger Regen, oder nasser Schnee; die Luft schien zu eitern. Die schreckliche schwarze Stadt erschien beim Tauwetter wie eine Leiche, von der man das Totenhemd heruntergezerrt hat. Der schmutziggelbe stickige Nebel drang wie Leichengeruch durch das Fenster ins Zimmer, schnürte die Kehle zusammen und bedrückte die Brust so schwer, daß man kaum atmen konnte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Fontanka ragte über der Fassade eines öffentlichen Gebäudes, – des Katharinen-Institutes – ein Doppeladler mit weit ausgestreckten Schwingen. Über dem schwarzen Straßenschmutze, über der schwarzen nackten Leiche von Petersburg schwebte er unheilverkündend und voll sinnloser Würde.

Wieder schwankten ihre Füße, wieder wurde es ihr finster vor den Augen. Sie lehnte sich an den Sockel einer Büste. Es war eine Kopie nach der Thorwaldsenschen Marmorbüste des Kaisers Alexander I.

Als der schwarze Nebel vor ihren Augen sich verzogen hatte, blickte sie auf den Marmor. Er gefiel ihr nicht. Das ihr so vertraute Gesicht erschien auf der Büste fremd. Es erinnerte an die römischen Kaiserbildnisse, die sie in Museen gesehen hatte: an Trajanus, Antonius, Marcus Aurelius; in den Zügen lag die gleiche traurige und demütige, gleichsam abendliche Abgeklärtheit und Güte. Rundliche rasierte Wangen mit kleinen Grübchen; eine kurze, stumpfe, eigensinnige Nase; eine kahle steile Stirne; eine strenge, beinahe grausame Falte auf der Stirne; ein erstarrtes freundliches Lächeln auf den fein geschwungenen, etwas eingefallenen, beinahe weibischen Lippen.

Sie richtete ihren Blick auf das Bildnis der Kaiserin Katharina, das im gleichen Zimmer hing, und verglich die beiden. Ja, Großmutter und Enkel hatten das gleiche Lächeln; beide Gesichter zeigten den gleichen Widerspruch zwischen dem übertrieben freundlichen Lächeln der Lippen und der grausamen Falte auf der Stirne.

Sie dachte daran, wie sie sich als Kind, wenn sie den Vater lange Zeit nicht gesehen hatte und sich nach ihm sehnte, in dieses Zimmer stahl, auf einen Stuhl kletterte und mit geschlossenen Augen den kalten Marmor so lange küßte, bis er warm wurde und so ihren Kuß erwiderte.

So drückte sie auch jetzt ihre glühende Wange an den Marmor. Sie riß sich aber sofort wieder los, als ob sie ihr Gesicht an das einer Leiche geschmiegt hätte; ein Schüttelfrost überlief sie. Im gelblichen Tageslichte rief der gelbliche Marmorkopf den Eindruck eines Leichenkopfes hervor. Die unheimliche Puppe starrte sie mit blinden weißen Augen an und lächelte ihr zweideutig zu.

Sophie schloß die Augen und versuchte, sich sein wirkliches lebendiges Gesicht vorzustellen. Doch wollte es ihr nicht gelingen. Es tat ihr sehr weh, und sie glaubte, daß sie gleich sterben müßte, wenn sie ihn nicht sofort vor sich erblicken würde.

Unten vor dem Tore rasselte ein Wagen. »Papa! Papa!« Sie stürzte zum Fenster. Es war aber nur Schuwalows Wagen. Sie sah ihn ins Haus eintreten. Kommt er denn wirklich her, zu ihr? Sie horchte. Ferne Türen wurden auf und zugeschlagen, und sie schloß, daß der Besuch nicht ihr, sondern der Mama galt. Gott sei Dank!

Sie sah wieder zum Fenster hinaus, sie hoffte noch immer. Unten polterten mehrere Metzgerwagen vorbei, die wohl eben vom Schlachthause kamen. Unter den nassen Bastdecken lugten blutige ausgeweidete Rümpfe hervor. Sie glaubte den Geruch von rohem Fleisch zu spüren und rote warme Bluttropfen in den schwarzen Straßenkot fallen zu sehen.

Sie schloß die Augen, um es nicht zu sehen. Schleppenden Schrittes ging sie wieder zum Sofa am Kamin und ließ sich erschöpft nieder. Sie hielt die Augen geöffnet, damit die Fiebervisionen nicht wieder anfingen, und starrte unverwandt durch die offene Türe in den anstoßenden weißen Saal, in dem gestern das Konzert stattgefunden hatte. Der Türe gegenüber befand sich der große Spiegel, in dem sich das Jugendbildnis des Kaisers spiegelte. Aus der geheimnisvollen dunklen und glatten Tiefe des Spiegels lächelte ihr, wie durch tiefes Wasser blickend, der blondgelockte, blauäugige Knabe mit dem gleichen ewigen zweideutigen Lächeln entgegen.

Ja, sie hatte sich vorgenommen, an etwas zu denken. Was war es noch? Richtig, an Schuwalow und Fürst Valerian. Warum ist der unbegreifliche, überflüssige und fremde Graf Andrej, und nicht der ihr so nahe stehende und verwandte Walitschka – ihr Bräutigam? Sie war sehr dumm, als sie ihm ihr Jawort gab: damals hatte sie ja noch nichts gewußt. Heute weiß sie aber, was es heißt, verheiratet zu sein.

Im vorigen Jahr bei der Abreise aus Paris fiel ihr zufällig beim Packen der Koffer – Mama war gerade nicht zu Hause – ein kleines Pergamentbändchen mit Goldschnitt in die Hände; das Büchlein war in Antwerpen gedruckt und enthielt unanständige Abbildungen. Sie betrachtete die Bilder aufmerksam, staunend und erschauernd, begriff sie aber nicht. Und plötzlich ging ihr ein Licht auf, sie verstand alles, oder fast alles. Sie verstand auch, warum vor vielen Jahren, als sie einmal ohne anzuklopfen Mamas Zimmer betrat, der damalige Freund der Mama, der junge Generaladjutant Oscharowskij so erschrocken, feuerrot im Gesicht und mit zerzaustem Haar, einer Figur auf einem der unanständigen Bildchen sehr ähnlich, aufsprang, und Mama sie anscheinend grundlos anschrie und sogar schlug. Sie begriff auch, warum die anderen zahllosen Freunde ihrer Mama, und selbst ganz fremde Menschen, sie wie ihr eigenes Kind behandelten, sie auf den Schoß nahmen, abküßten und »mein Töchterchen« nannten; alle diese Liebkosungen flößten ihr aber nur Langeweile und Furcht ein. Sie erinnerte sich an eine Novelle, die sie in der alten Moskauer Zeitschrift: »Blätter für Liebende« gelesen hatte: Aglantin und Annuschka badeten gemeinsam wie Adonis und Venus in einem Bache; als Annuschka plötzlich in Tränen ausbrach, tröstete sie Aglantin mit den Worten: »Ich versichere dich, meine Freundin, daß das, was du Sünde nennst, nur ein natürlicher Genuß ist.«

Die Bilder im Antwerpener Bändchen, das Grauen und der Ekel vor Mama, vor Schuwalow, vor sich selbst und vor allen Menschen machten sie ganz krank. Walitschka allein erschien ihr vollkommen rein, und sie war überzeugt, daß er sie verstehen würde. »Ein natürlicher Genuß!« Wenn die Natur wirklich so ist, und wenn Gott sie so geschaffen hat, so will sie von der Natur und von Gott nichts wissen. Sie glaubte, daß dies der eigentliche Grund ihrer Leiden sei und daß sie daran, und nicht an ihrer Lungenkrankheit, sterben werde.

Im weißen Konzertsaal erklangen plötzlich Stimmen, die immer näher kamen: Mama und Schuwalow. Sophie sprang auf, um wegzulaufen, denn sie wollte die beiden jetzt nicht sehen. Plötzlich blieb sie aber starr stehen, die weit aufgerissenen Augen in die Tiefe des Spiegels gerichtet. Ist es wieder eine Fiebervision? Nein, sie sieht es zu deutlich: Schuwalow küßt Maria Antonowna, und beide haben den gleichen Gesichtsausdruck, den Mama und Oscharowskij hatten, als Sophie sie einmal überraschte. Ein unanständiges Bildchen: der Bräutigam mit der Mutter. Der blauäugige Knabe lächelte ihnen aber zweideutig zu.

Sophie stöhnte leise auf, streckte beide Arme vor sich hin, als ob sie sich vor einem Gespenst wehren wollte, und fiel wie leblos auf das Sofa. Alles wurde nebelig und schwamm vor ihren Blicken dahin. Auch sie selbst schwamm und versank in der Untiefe des Spiegels.

Sie kam für einen Augenblick zur Besinnung, erblickte über sich das Gesicht der Mutter und verlor wieder das Bewußtsein.

Als sie wieder und endgültig zur Besinnung kam, war die Mutter nicht mehr im Zimmer. Sie hörte die schlürfenden Schritte Prokofjewnas und irgendwo ganz in der Nähe eine wohlbekannte Stimme:

»Wo bleibt denn der Doktor?«

»Papa! Papa!«

Er wandte ihr sein erschrockenes bleiches Gesicht zu, stürzte zum Sofa, kniete nieder, beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirne.

»Gott sei Dank! Gott sei Dank! ...« Er bekreuzigte sich. »Sofotschka, mein Kind! Wie du mich erschreckt hast! ...«

Sie umschlang seinen Hals mit den Armen, schmiegte sich an ihn und umklammerte ihn wie eine Ertrinkende.

»Papa! Papa! Papa! Ich wußte ja, daß du kommen wirst! ... Mein Gott, wie sehnsüchtig habe ich dich erwartet! Du bist doch hier, bei mir, Papa? ... Du bist es? Du? ...«

Sie richtete sich halb auf und betrachtete und betastete ihn, als wollte sie sich überzeugen, daß sie wirklich ihn vor sich habe. Ja, es ist nicht die kalte tote Puppe, nicht der altrömische Imperator, – es ist ihr lebendiger, wirklicher, lieber, warmer, echter Papa. Sie starrte ihn an, berührte ihn mit den Fingern. Ja, da sind seine weichen rasierten Wangen mit den zwei Grübchen und den goldblonden Streifen des Backenbarts; da ist sein weiches, gespaltenes Kinn, seine glatte kahle Stirne mit den spärlichen nach oben gekämmten Resten blonder Locken; zwischen den buschigen Augenbrauen liegt die bekannte Falte, die aber gar nicht von Zorn, sondern von Trauer und Kummer zeugt; da sind seine traurigen, unglücklichen, kindlichen, durchsichtig blauen Augen und seine jugendlichen, schön geschwungenen Lippen, die gar nicht zweideutig, sondern bezaubernd schön, kindlich und hilflos lächeln. Da sind auch seine eingezogenen, etwas vornübergeneigten Schultern; da ist seine ganze, etwas korpulente Gestalt, die in der engen dunkelgrünen Chevaliergardenuniform mit den silbernen Achselstücken noch recht schlank erscheint, und da sind seine schlanken, gleichsam aus Stein gemeißelten Beine in spitzen Lackstiefeln. Ja, das ist ihr lieber, teurer, heißgeliebter Papa.

Mit halbgeschlossenen Augen und lächelnd schmiegte sie sich wieder an ihn heran.

»Nun siehst du es selbst, Kind: du solltest liegen bleiben, wie es der Doktor haben wollte, wenn du das Bett gehütet hättest, wäre nichts geschehen.«

»Mir fehlt ja nichts, Papa! Ich bin vollkommen gesund, habe nur ein klein wenig Fieber. Es ist bald vorbei.«

»Du bist krank, mein Kind! Du hustest, dein Kopf ist heiß, und deine Hände sind eiskalt. Sei gescheit, leg' dich gleich ins Bett; der Arzt muß jeden Augenblick kommen.«

»Wozu der Arzt?« sagte sie französisch, ab und zu russische Worte einfügend; sie sprach mit dem Vater fast immer diese Mischsprache. »Ich werde nicht krank sein, ich werde nicht mehr husten. Doch um Gottes willen, lassen Sie mich nicht allein! Ich kann nicht ohne Sie bleiben, wenn Sie nur wüßten, wie schrecklich, wie grauenvoll es ist! ...«

»Was denn? was ist denn geschehen? Sag es mir ...«

»Nein, fragen Sie mich nicht! Ich will nichts sagen ... Ich will nur immer, für alle Zeiten bei Ihnen, an Ihrer Seite bleiben. Und dann wird alles wieder gut und alle Schrecken werden verschwinden. Ich will niemanden sehen, nur Sie und Mama ... Nein, nein, nicht diese Mama; ich meine die andere, die wirkliche Mama ...«

Er glaubte, daß sie phantasiere; als er ihr aber ins Gesicht sah, begriff er, daß sie es im vollen Bewußtsein sprach.

»Was hast du, Sofa? Um Himmels willen! Darf man denn so von der Mutter sprechen? Gott wird dich dafür strafen ...«

»Sie ist nicht meine Mutter, nein! Soll mich nur Gott strafen! Ich kann nicht mehr, ich will nicht, ich kann nicht! ... Es ist zu schrecklich, zu häßlich ... Papa, lieber Papa, nimm mich von hier fort! Siehst du es denn nicht selbst, daß es über meine Kraft geht ...«

Schluchzend umarmte sie seinen Hals und klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende fest.

»Beruhige dich, Kind! Was hast du? Ich habe es dir ja versprochen: wenn ich den Abschied nehme, werde ich mit dir weit fortreisen, und dann bleiben wir für immer zusammen ...«

»Ja, Papa, das hast du mir versprochen! Weißt du es noch? Wann wird es aber so kommen, mein Gott? ...«

Sie blickte ihn unverwandt an. Sie merkte, daß er eben an etwas anderes dachte und daß seine Gedanken vielleicht nicht weniger schrecklich waren, als die ihrigen. Woran dachte er aber? Plötzlich erriet sie es: der 11. März ist der Todestag von Kaiser Paul I. Sie wußte, was dieser Tag für ihn bedeutete: sie wußte, daß der Großvater eines gewaltsamen Todes gestorben war, daß der Vater immer daran denken mußte, und daß ihn diese Erinnerungen quälten, obwohl er mit niemandem davon sprach. Wenn sie auch nicht alles wußte, so erriet sie doch Vieles. Sie wollte schon so oft mit ihm über diese Dinge sprechen, ihn fragen; sie fand aber nie den Mut. Auch jetzt wagte sie es nicht. Sie sagte nur laut vor sich hin:

»Der 11. März, der 11. März ...«

Er blickte sie ebenso unverwandt an, wie sie ihn; ein Schatten huschte über sein Gesicht; plötzlich erschien in seinen Zügen der gleiche zweideutige Ausdruck, wie ihn die Marmorbüste hatte: der Widerspruch zwischen der allzu strengen Falte auf der Stirne und dem allzu freundlichen Lächeln auf den Lippen.

»Sie waren heute in der Kirche, Papa ... das Totenamt ist lang und anstrengend ... es hat Sie wohl sehr ermüdet? ... Und jetzt noch mein Anfall ... Tut Ihnen auch noch das Bein weh? Es tut wohl weh, ja?«

»Nein, es ist nicht schlimm.«

»Warum sind Sie hergekommen? Wären Sie doch zu Hause geblieben ... Nein, nein, nein, es ist doch gut, daß du hergekommen bist! Mein Gott, wie gut es ist! Ohne dich wäre ich hier gestorben! ...«

Er fragte sie nicht mehr. Beide fühlten, daß es zwischen ihnen etwas gab, wovon man nicht sprechen durfte: es ist besser, einander ohne Worte zu verstehen und zu bemitleiden. Er war ebenso einsam und hilflos wie sie; auch er klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender.

Mit der einen Hand stützte er ihren Kopf, mit der andern streichelte er ihr Haar. Er wollte sie so beruhigen, einlullen.

Lächelnd schloß sie wieder die Augen, und ihr Atem ging immer leiser und leiser; sie wollte aber nicht einschlafen, denn sie fürchtete, ihn im Schlafe zu verlieren. Im Halbschlummer sah sie sich als dreizehnjähriges Mädchen im kurzen weißen Kleidchen am Teiche hinter den Treibhäusern auf dem Gute Pokrowskoje an der Seite ihres Bruders und Geliebten sitzen und das alte, schreckliche, liebe Märchen lesen:

Liebste, bleib an dieser Stätte!
Denn der Sarg ist unser Bette
Und das Totenhemd dein Kleid!
Tief im Grab ist Seligkeit ...

»Papa ... Walitschka ...« flüsterte sie halb im Schlafe.

Den lieben Vater und den geliebten Bruder konnte sie nicht mehr auseinanderhalten. Beide verschmolzen in eine Gestalt. Und sie liebte beide zugleich.


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