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IV.

Die bevorstehende Zusammenkunft mit dem Kaiser ließ dem Fürsten Valerian keine Ruhe. Als er endlich den langersehnten Urlaub bekam und aus Petersburg abreiste, war er beinahe davon überzeugt, daß die Zusammenkunft nicht zustande käme. Kaum war er aber in Kiew angelangt, als ihn General Witt, der Kommandeur der Militärischen Siedlungen des Südens, sofort aufs Korpskommando kommen ließ und ihm im allerhöchsten Auftrage mitteilte, daß er sich ohne Erlaubnis des Gouverneurs nicht aus dem Kiewschen Gouvernement entfernen dürfe, da der Kaiser ihn jeden Augenblick zu sich berufen könne; die Zusammenkunft werde – fügte Witt in eigenem Namen hinzu – wahrscheinlich während der bevorstehenden Herbstreise des Kaisers nach dem Süden stattfinden.

Hätte ihm jemand gesagt, daß diese Zusammenkunft die beste Gelegenheit für ein Attentat biete, so wüßte er nicht, was darauf zu sagen. Zu sagen, und selbst zu denken: »Möge es jemand anderer tun, ich kann es nicht«, wäre ja zu schändlich; doch er fühlte, daß er seine Hand gegen den Kaiser nie würde erheben können: er konnte nie die Blicke vergessen, die er mit dem Kaiser in Sophies Sterbezimmer wechselte; er fühlte, daß hier ein Hemmnis lag, und konnte sich gar nicht denken, wie sich die Dinge weiter entwickeln sollten.

Bald nach dem nächtlichen Gespräch Ssergej Murawjows mit seinem Bruder, kam nach Wassilkow die Nachricht, daß Sherwood alle denunziert habe und daß die Verschwörung aufgedeckt sei. Murawjow und Bestuschew ersuchten Golitzin, nach Tultschin, einem Städtchen im Podolischen Gouvernement, wo sich das Stabsquartier der 2. Armee befand, zu reisen, um die beiden Direktoren der dortigen Sektion, Pestel und Juschnewskij, zu warnen.

Golitzin reiste nach Tultschin. Pestel war abwesend. Juschnewskij sagte, als er von der Denunziation hörte:

»Es geht von General Witt aus. Kennen Sie ihn?«

»Ja.«

»Was können Sie von ihm sagen?«

»Eine durchtriebene Bestie.«

»Ganz meine Meinung. Ich kenne ihn ja auch gut. Er macht große Anstrengungen, um in die Gesellschaft aufgenommen zu werden; um seine Aufrichtigkeit zu zeigen, hat er uns bereits mehrere Spione genannt, darunter den Hauptmann Maiboroda, der bei Pestel dient.«

»Um Gottes willen, Juschnewskij, sagen Sie doch Pestel, daß er Witt aus dem Wege geht. Es ist ja unser Verderben!«

»Das habe ich ihm schon hundertmal gesagt. Gehen Sie doch selbst zu ihm hin, Golitzin, und erzählen Sie ihm alles. Vielleicht wird er Ihnen mehr Glauben schenken.«

Golitzin wollte sofort nach Linzy reisen, wo Pestel sich mit seinem Regiment aufhielt; Juschnewskij sagte ihm aber, daß Pestel augenblicklich in Berditschew sei, und versprach, ihm zu schreiben, er möchte sofort nach Tultschin kommen. Fürst Valerian Golitzin solle so lange warten.

Juschnewskij gefiel ihm; sein feines Gesicht mit den feinen Zügen zeugte von unerschütterlicher Ruhe, einem stillen gleichmäßigen Charakter und Freundlichkeit. Seine Kameraden nannten ihn »Der tugendsame Republikaner, der alte Stoiker«; Golitzin sagte sich: »Man kann sich auf ihn verlassen wie auf eine Mauer aus Stein.« Alle übrigen Mitglieder der Gesellschaft hielt er für Kinder; Juschnewskij allein kam ihm als Erwachsener vor. Jetzt empfand er so deutlich wie noch nie, wie reif und ernst und durchaus nicht kindlich die ganze Sache war.

Juschnewskij war bei allen sehr beliebt. Mit dreißig Jahren war er bereits Generalintendant der 2. Armee. Der Stabschef General Kisseljow war sein intimer Freund; der Oberbefehlshaber Graf Wittgenstein zeichnete ihn oft für seine Tüchtigkeit und Ehrlichkeit aus. Eine glänzende Karriere erwartete ihn.

Golitzin wohnte bei Juschnewskij. Das Haus war von Gärten umgeben; vor den Fenstern standen junge Pappeln, und ihr Laub wirkte wie grüne Fenstervorhänge; an den heißesten Tagen war es hier frisch, gemütlich und angenehm. Diese Frische schien der Hausfrau, Maria Kasimirowna, die selbst so frisch wie eine Maiblume war, zu entströmen.

Juschnewskij besaß alles, was einen Menschen glücklich macht: Liebe, Freundschaft, Reichtum und Ehren; doch er wollte alles freudig der großen Sache opfern.

»Wissen Sie, übrigens, Golitzin,« sagte er einmal, als er einige Violinstücke gespielt hatte (er war guter Musiker) und noch ganz von der Musik begeistert war, »ich freue mich eigentlich über diese Denunziation: jetzt werden wir doch endlich anfangen müssen, denn man darf es nicht länger aufschieben. Wir müssen ja sowieso sterben; es ist immerhin besser, mit der Waffe in der Hand zu sterben, als in Eisenketten zu schmachten.«

»Glauben Sie an einen Erfolg?« fragte Golitzin.

»Die Vernunft sagt mir, daß ein Erfolg ausgeschlossen ist,« entgegnete Juschnewskij. »Doch nicht alles geschieht so, wie es die Vernunft vorschreibt. Man sagt, es gäbe keine Wunder. War denn das Jahr Zwölf kein Wunder? Es war ja kein Krieg, sondern eine wirkliche Volkserhebung. Wir werden nur das fortsetzen, was schon begonnen ist. Wir stehen weder am Anfang, noch am Ende der Ereignisse; wir müssen einfach das Angefangene fortsetzen ...«

Golitzin dachte wieder an Rylejews Worte: »Und doch muß man anfangen!« – »Ja, hier werden sie wirklich anfangen,« sagte er sich.

Juschnewskij sagte ihm gleich am ersten Tage, daß eines der ältesten Mitglieder der Gesellschaft, Michail Ssergejewitsch Lunin, ihn in einer wichtigen Sache sprechen wolle.

Vor acht Jahren, als Golitzin noch beim Preobraschenskij-Regiment diente, kam er manchmal mit dem glänzenden Rittmeister der Gardekavallerie, Lunin, zusammen. Man erzählte sich damals wahre Wunder von seiner Waghalsigkeit, seinen Streichen, Duellen und Trinkgelagen: bald wechselte er nachts in lustiger Gesellschaft auf dem Newskij sämtliche Ladenschilder um; bald wettete er, am helllichten Tage nackt durch die Straßen von Petersburg zu reiten (es wurde behauptet, daß er diese Wette auch gewann); bald sprang er auf Wunsch irgendeiner schönen Dame vom Balkon des 2. Stockes auf die Straße. Das größte Aufsehen erregte jedoch sein Duell mit Alexej Orlow. Bei Tisch ließ jemand im Scherze die Bemerkung fallen, daß Orlow noch kein einziges Duell in seinem Leben gehabt habe. Lunin erklärte sich bereit, ihm diese Sensation zu verschaffen. Nach dem Ehrenkodex durfte man selbst eine im Scherze ergangene Forderung nicht abschlagen. Als sich die beiden Gegner gegenüberstanden, bewahrte Lunin auch vor der Barriere seine gute Laune und lehrte Orlow, wie er schießen solle. Orlow wurde nervös und schoß daneben. Lunin schoß in die Luft und schlug seinem Gegner vor, noch einmal das Glück zu probieren, und riet ihm, bald höher und bald tiefer zu zielen. Die zweite Kugel durchbohrte Lunins Hut. Er schoß wieder in die Luft und ermutigte Orlow zu einem dritten Versuch. Die Sekundanten konnten es aber nicht länger mit ansehen und verhinderten die Fortsetzung dieses unsinnigen Zweikampfes.

In Lunins Waghalsigkeit steckte viel Kinderei; Leute, die ihn näher kannten, behaupteten aber, daß er mit seinem Mute nie prahle. Im Feldzuge von 1812 stieg er oft vom Pferde, nahm irgendeinem Soldaten das Gewehr weg und stellte sich in die Schützenlinie, wo die Kugeln der Franzosen nur so hagelten, um sich, wie er sagte, an der Gefahr zu berauschen. Zu Friedenszeiten langweilte er sich entsetzlich; er betrank sich, verübte tolle Streiche, ging aufs Land, wo er oft einem Wolfe, nur mit einem Dolche bewaffnet, und einem Bären, mit einem Spieß in der Hand, entgegentrat. Er nahm es auch mit einem gefährlicheren Tiere auf.

Einmal ließ Großfürst Konstantin Pawlowitsch eine beleidigende Äußerung über die Offiziere des Gardekavallerieregiments, bei dem Lunin diente, fallen, und alle Offiziere reichten Abschiedsgesuche ein. Der Kaiser war darüber so ungehalten, daß er den Großfürsten veranlaßte, sich vor dem ganzen Regiment zu entschuldigen und seinem Bedauern Ausdruck zu geben, daß seine Worte als Beleidigung aufgefaßt werden konnten; der Großfürst sagte noch, daß er bereit sei, wenn dies nicht genüge, »Satisfaktion« zu geben. Lunin ritt sofort zu Konstantin heran, schlug mit der Hand auf den Degenkorb und rief:

» Trop d'honneur, votre altesse, pour refuser!«

Im Jahre 12 war er Ordonanzoffizier beim Kaiser und genoß anfangs sein Wohlwollen; später fiel er wegen einer freigeistigen Äußerung über die Bourbonische Monarchie in Ungnade. Als die Garde nach Petersburg zurückgekehrt war, erwartete er als der älteste Rittmeister des Regiments die Beförderung zum Obersten; die Beförderung blieb aber aus. Als er dies erfuhr, schiffte er sich in Kronstadt ein und ging nach Frankreich.

In Paris litt er mehrere Jahre große Not. Sein Vater war zwar sehr reich, doch geizig und mochte den Sohn nicht recht leiden. Nach dem Tode des Vaters erbte er ein Vermögen, das ihm eine Rente von 200 000 Rubel einbrachte. In Paris verkehrte er mit Karbonari und Jesuiten, die der russischen Regierung ihre Ausweisung aus Rußland nicht verzeihen konnten.

»Wir brauchen gerade solche Menschen wie Sie,« sagten die Jesuiten zu Lunin. »Sie müssen der Rächer für Rom werden.«

Er kehrte ebenso plötzlich und unerwartet nach Rußland zurück, wie er abgereist war. Der Kaiser versetzte ihn mit dem gleichen Rang in die Linie und schickte ihn nach Warschau zum Thronfolger.

In Warschau gewann er bald durch seine große Tüchtigkeit das Wohlwollen des Großfürsten, der ihn zu seinem intimsten Freunde machte.

»Ich könnte mich nicht entschließen, mit Lunin in einem Zimmer zu schlafen; ich würde dann immer Angst haben, daß er mich ermordet. Doch auf sein Wort kann man sich immer verlassen; er ist ein Ehrenmann, und ich liebe solche Menschen!« pflegte Konstantin Pawlowitsch zu sagen.

Unter vier Augen sagten sie sich oft höchst merkwürdige Dinge.

»Sie sind ein typisches Mitglied Ihrer Familie. Vous êtes bien de votre famille: tous les Romanoff sont révolutionnaires et niveleurs,« sagte Lunin zu ihm.

»Ich danke dir, mein Lieber, du hältst mich also für einen Jakobiner? Voilà une réputation qui me manquait

Bald nach seiner Rückkehr nach Rußland trat Lunin in die Geheime Gesellschaft ein und erklärte sich bereit, eine »totgeweihte Kohorte« (cohorte perdue), mehrere Bewaffnete in Masken, auf die Straße zwischen Petersburg und Zarskoje Ssjelo zu schicken. Pestel gefiel dieser Plan sehr gut; einem jeden, der Lunins Mut kannte, erschien der Plan durchaus ausführbar.

»Was will er denn eigentlich von mir haben?« fragte Fürst Valerian Juschnewskij.

»Ich weiß es wirklich nicht, er will es mir nicht sagen. Um eines muß ich Sie aber bitten, Golitzin: schenken Sie seinen Sonderbarkeiten keine Beachtung. Wissen Sie, was er dem Kaiser antwortete, als dieser zu ihm sagte: ›Ich habe gehört, Sie sind nicht ganz bei Trost, Lunin?‹ – ›Majestät, von Kolumbus wurde dasselbe behauptet!‹ Das war natürlich ein Scherz, doch Spaß beiseite: Lunin ist ein Mensch von großem Verstand und einer schier grenzenlosen Geistesstärke: alles, was er will, kann er auch vollbringen. Wir brauchen gerade solche Menschen,« wiederholte Juschnewskij zufällig die Äußerung der heiligen Väter. »In der letzten Zeit ist seine Begeisterung für die Gesellschaft etwas abgeflaut; er hat andere Dinge im Kopfe: es heißt, daß er in eine polnische Gräfin, eine verheiratete Dame, verliebt sei. Die Beichtväter bearbeiten nun die Dame, daß sie ins Kloster gehe, und ihn, daß er zur Gesellschaft zurückkehre. Wissen Sie, Golitzin, Sie können wirklich ein gutes Werk tun, wenn Sie ihn darin unterstützen.«

Juschnewskij schlug ihm vor, ihn sofort zu Lunin zu begleiten, und Golitzin willigte ein.

Lunin wohnte in Nesterwark, einer Vorstadt von Tultschin. Das Städtchen Tultschin gehörte dem Grafen Potocki und lag in einer Mulde am Flüßchen Ssilniza, von den letzten Ausläufern der Karpathen und Steppenhügeln eingeschlossen. Außer Militär und Beamten gab es hier fast keine Russen; die Bevölkerung bestand aus Polen, Juden, Moldauern, Armeniern, Griechen und einer Menge katholischer Mönche. Es sah aus wie ein Militärlager in Feindesland. Die weißen, von Pappeln überragten Hütten waren in Kasernen umgewandelt; überall sah man Zelte, Artilleriefuhren, Pferde, Gewehre und marschierende Soldaten. Hier funkelte ein Bajonett, dort leuchtete ein Lämpchen vor einer Madonna in einer Mauernische. Man hörte bald Trommelwirbel und bald Glockengeläute der alten Kirchen und Klöster.

Die Straßen waren ungepflastert; im Frühjahre und im Herbst waren sie so schmutzig, daß oft Menschen und selbst Pferde einsanken. Doch jetzt, nach der langen Trockenheit, schwebten über der Stadt dichte Staubwolken, durch die die Sonne wie eine rote trübe Kupferkugel durchschimmerte. Die von der Hitze ermatteten Menschen schlichen herum wie träge Fliegen; die Hunde liefen mit herausgestreckten Zungen umher, und alle gingen ihnen aus dem Wege: tolle Hunde waren hier eine wahre Landplage.

Golitzin und Juschnewskij gingen am Marktplatz, an der Synagoge, dem katholischen Dom, dem Hause des Oberbefehlshabers und dem prunkvollen von einer marmornen Säulenhalle geschmückten Palast der Grafen Potocki vorbei und gelangten zum Teich, der von schattigen hundertjährigen Weiden eingefaßt war. Man hörte hier das Klappern einer Mühle. Gleich hinter dem Teiche begann die Vorstadt Nesterwark. Hier ging die Poststraße von Brazlaw und Nemirow vorbei. An der Landstraße stand ein hölzernes Häuschen, das Wirtshaus des Juden Srul-Moschko, mit dem Schild: »Grünes Gasthaus«. Auf dem schmutzigen Hofe, der ganz mit Salzfuhren, jüdischen Wagen und polnischen Kaleschen angefüllt war, putzte ein geschniegelter Husar vom Grodno-Regiment eine neue elegante englische Dormeuse.

»Ist der Oberst zu Hause?« fragte ihn Juschnewskij.

»Zu Befehl, Exzellenz. Darf ich anmelden?«

»Nein.«

Auf der finsteren schmutzigen Stiege begegneten sie einem katholischen Pater.

»Pater Tiburtius Pawlowski, der Beichtvater Lunins,« raunte Juschnewskij Golitzin zu.

Sie kamen an eine unverschlossene Türe und klopften an. Niemand antwortete. Sie machten die Türe etwas auf und sahen ein großes leeres Zimmer, das an eine Tenne erinnerte. Sie blieben verlegen stehen: in der an das große Zimmer anstoßenden Kammer kniete vor einem katholischen Kruzifix ein großgewachsener Mann im langen schwarzen Schlafrock, der wie eine Sutane aussah, und betete laut nach dem römischen Brevier:

»Ave Maria, ave Maria, gracia plena, ora pro nobis ...«

Ein Dielenbrett knarrte, der Betende wandte sich um und rief:

»Treten Sie doch ein!«

»Stören wir denn nicht?« fragte Juschnewskij.

»Was fällt Ihnen ein? Meine Gebete wachsen wohl dem lieben Gott zum Halse heraus, und Er wird froh sein, wenn ich Ihn einen Augenblick in Ruhe lasse,« entgegnete jener lächelnd.

»Fürst Valerian Michailowitsch Golitzin – Michail Ssergejewitsch Lunin,« stellte Juschnewskij vor.

»Endlich bekomme ich Sie zu sehen, Fürst!« sagte Lunin, Golitzins Hand mit seinen beiden Händen schüttelnd. Er lächelte ununterbrochen, bot den Gästen Stühle an, wobei er feierlich, die berühmte Tragödin Rocour imitierend, deklamierte:

» Asseyez vous, Néron, et prenez votre place ... Nein, nein, nicht diesen Stuhl: dieser hat ein zerbrochenes Bein.«

»Ich verstehe Sie wirklich nicht, Lunin, warum wohnen Sie in diesem Loch?« sagte Juschnewskij, um sich blickend.

»Es ist kein Loch, mein Lieber, sondern das Grüne Gasthaus. Das Zimmer ist ja gar nicht so schlecht. Es erinnert mich an meine Jugend, an die Mansarde in der rue de Bac in Paris, bei Madame Eugénie, wo wir, sechs hungrige, doch glückliche Burschen, zusammen hausten und das Liedchen sangen:

Die kleinste Hütte wird mir
Mit dir zum Paradies ...

Im übrigen habe ich hier alles, was ich brauche: Einsamkeit, Ruhe, Schwarzbrot und die jüdische Rettichspeise; die letztere kann ich Ihnen sehr empfehlen, es ist ein hervorragend schmackhaftes Gericht ...«

»Sie töten wohl Ihr Fleisch ab?«

»Das ist es eben. Ich faste. Nur durch Fasten befreit man seinen Geist; die Herren Einsiedler haben vollkommen recht.«

»Worauf schlafen Sie denn? Ich sehe ja gar kein Bett.«

»Das Bett ist ein Vorurteil, mein Bester. Anfangs schlief ich auf dem Sofa, die Wanzen ließen mir aber keine Ruhe. Jetzt liege ich auf diesem Tisch, wie eine Leiche vor der Einsargung: es erinnert mich ständig an den Tod, und dies ist dem Seelenheil sehr dienlich. Es ist ja sonst alles sehr schön, nur gibt es zuviel Spinnen: Araignée du matin-chagrin

»Sind Sie abergläubisch?«

»Sehr. Ich habe mich schon längst davon überzeugt, daß im Unglauben weniger Logik und mehr Unsinn enthalten ist, als im unsinnigsten Glauben.«

In diesem Scherz klang etwas, was durchaus kein Scherz war.

»Meine Herren, darf ich Ihnen ein Pfeifchen anbieten? Der Tabak ist hervorragend und kommt direkt aus Konstantinopel.«

Bald füllte eine aromatische Rauchwolke das ganze Zimmer.

»Sie essen jüdische Rettichspeise und rauchen teuren Tabak: so töten Sie Ihr Fleisch ab!« rief Juschnewskij lachend aus.

»Ich weiß, daß es sündhaft ist, doch ich kann nicht ohne Pfeife leben!« entgegnete Lunin und lachte so gutmütig und kindlich, daß Golitzin staunte: ihm schien anfangs, daß Lunin gar nicht imstande sei, so kindlich zu lachen. Lunin gefiel ihm überhaupt nicht, und doch betrachtete er ihn mit solchem Interesse, daß er sich seine Züge für immer einprägte.

Lunin war schon in den Vierzigern, sah aber noch wie ein Jüngling aus. Er war groß, schlank, von jener muskeligen Schlankheit, die sehr starken und gewandten Menschen, die wenig im Zimmer sitzen, eigen ist. Seine Stimme klang scharf und durchdringend, auch wie bei einem Menschen, der wenig im Zimmer sitzt. Die kleinen braunen Augen blickten etwas mißtrauisch und scharf, wie bei einem guten Schützen und Jäger. Das ständige Lächeln hatte zwei Furchen, die sehr lustig schienen, am Munde eingegraben; doch zwischen den ungleichen Brauen – die linke war etwas höher als die rechte – lagen zwei traurige ernste Furchen, die von denen am Munde ganz verschieden waren. Sein Gesicht veränderte sich jeden Augenblick: bald war es ungewöhnlich lebhaft, bald unbeweglich wie bei einem Toten. Der starre Blick war schwer, und zugleich freundlich und anziehend. Golitzin fühlte diesen Blick immer auf sich ruhen und konnte dieses Gefühl gar nicht los werden: er glaubte, daß er Lunins Blick auch im Rücken fühlen würde.

Lunin ging auf und ab, rauchte seine Pfeife, scherzte, lachte, plauderte unermüdlich, oder sang mit heiserer Stimme:

Plaisir d'amour ne dure qu'un moment.

Das Gespräch kam auf die soeben in Moskau erschienene französische Gedichtsammlung »Mußestunden von Tultschin«, die der Autor, der Stabsrittmeister Fürst Barjatinskij Lunin dediziert hatte, und dann auf die Dichtkunst überhaupt.

»Ich liebe Verse nicht,« sagte Lunin, »sie lügen und bezaubern wie gemeine Betrüger. Die Gedanken bewegen sich wie die Soldaten bei der Parade, zum Kriege taugen sie aber nicht: nur Prosa kann kämpfen und siegen. Napoleon schrieb und siegte in Prosa. Doch wir Russen, wie überhaupt alle kindlichen Nationen, haben viel zu viel Poesie und zu wenig Prosa; wir sind alle Dichter, und unsere Autokratie ist nichts anderes als Poesie von schlechtem Geschmack.«

»Haben Sie, Lunin, nie Verse gemacht?« fragte Juschnewskij.

»Nein, Gott hat mich bisher davor bewahrt. In Prosa habe ich schon einmal etwas verbrochen. In Paris begann ich eine Erzählung von Demetrius.«

»Schrieben Sie sie russisch?«

»Was fällt Ihnen ein? Wir träumen ja sogar französisch.«

Er sprach geistreich, fein und etwas altmodisch: dieser Ton war im vergangenen Jahrhundert sehr beliebt.

»Die Alten, Corneille und Moliere, liebe ich sehr: ihre Verse sind nüchtern und vernünftig, fast wie Prosa. Die heutigen Romantiker kann ich dagegen gar nicht verstehen, vielleicht bin ich vom Alter zu dumm geworden?«

»Sie sind ja gar nicht alt. Kokettieren Sie nicht mit Ihrem Alter!«

»Ich fühlte mich schon mit zwanzig Jahren als Greis. Sie wissen ja, was Napoleon von den Russen gesagt hat: ›Sie sind noch nicht reif und schon verfault.‹ – In uns allen liegt ja noch die Fäulnis des 18. Jahrhunderts, wie sich Karamsin ausdrückt.«

Golitzin sagte sich geärgert: »Er spielt Komödie und will um jeden Preis originell sein. Ich kenne solche Salonlöwen, die gar zu gerne den Lord Byron spielen wollen.«

Vom nächsten Kloster läuteten die Abendglocken. Lunin trat zum Fenster und begann Gebete zu murmeln.

Die Gäste wollten gehen. Lunin hielt sie zurück.

»Nein, es ist Zeit, daß wir gehen. Der Fürst ist noch müde von der Reise,« sagte Juschnewskij. »Aber wissen Sie was, Lunin, kommen Sie doch morgen zu uns zum Abendessen; sie sollen sich von Ihrem jüdischen Fasten erholen ...«

»Führen Sie mich nicht in Versuchung! Vor Moschkos Rettich und Kwas revoltiert mein Magen. Ich will aber kommen. Die Sünde tragen Sie, Versucher.«

Als er Golitzin zum Abschied die Hand reichte, sagte er mit jener herzlichen Innigkeit, an der man Leute von guter Erziehung erkennt, doch vollkommen ernst:

»Ich habe mit Ihnen etwas zu besprechen, Fürst. Ich habe von Ihnen so viel gehört und Sie so sehnsüchtig erwartet ... Es war nicht bloße Neugierde, glauben Sie es mir. Wenn Sie mir eine Stunde widmen wollen ...«

»Wann beliebt es Ihnen?«

»Sagen wir übermorgen, um sieben Uhr abends.«

»Was will er von mir?« fragte sich Golitzin, nach Hause zurückgekehrt, abends beim zu Bette gehen, morgens beim Aufstehen und den ganzen folgenden Tag. Es war ihm, als ob auf ihm noch immer der schwere und zärtliche Blick ruhte.

Abends kamen Gäste: Stabsrittmeister Fürst Barjatinskij, der Autor der »Mußestunden von Tultschin«, Major Lohrer, Leutnant Bobrischtschew-Puschkin, Leutnant Bassargin und noch andere Mitglieder der Tultschiner Sektion.

Zuletzt kam Lunin. Er lachte, scherzte und plauderte wie gestern. Er gefiel Golitzin wieder nicht: das ständige Lachen, das Knistern kleiner Geistesfunken – sie waren wie die Funken, die vom Kamm im trockenen Haar hervorgerufen werden – ermüdete und irritierte ihn. Wenn er aber ernst sprach, so schien er über den Gesprächspartner, über sich selbst und selbst über das, was er sprach, zu lachen.

»Sie trinken ja nichts, Barjatinskij,« bemerkte der Hausherr.

»Und dabei will er Dichter sein,« fiel ihm Lunin ins Wort. »Wissen Sie, was der Kosakengeneral Platow sagte, als man ihm Karamsin vorstellte? ›Es freut mich,‹ sagte er, ›Sie kennen zu lernen. Ich liebe die Dichter, denn sie sind alle Säufer!‹«

»Die Ärzte verbieten mir das Trinken,« entschuldigte sich Barjatinskij, »höchstens noch Wein mit Wasser ...«

Lunin benützte auch diese Gelegenheit, um einen Witz zu machen: »Als bei einer Feuersbrunst alle nach Wasser schrien, rief einer aus: ›Sie sollen nur nach Wasser schreien, ich ziehe Kirschwasser vor!‹ Das war wohl auch so ein Dichter.«

Das Gespräch kam auf die Politik.

»Das Wohl Rußlands ...« begann jemand französisch an dem einen Tischende.

»Wissen Sie, meine Herren,« rief Lunin vom anderen Tischende dazwischen, »wie ein sehr kluger Mensch die Worte ›Le bien-être géneral en Russie‹ übersetzte?«

»Wie?«

»Es ist gut, in Rußland General zu sein.«

Er riß immerzu Witze, doch zwischen den Witzen suchte er Barjatinskij, einen eingefleischten Atheisten, von der Wahrheit des katholischen Glaubens zu überzeugen. Barjatinskij ärgerte sich, Lunin quälte ihn aber immer weiter mit unerschütterlicher Geduld:

»Sie sind, mein Lieber, zu eigensinnig. Eine Viertelstunde genügt, um Sie gänzlich zu bekehren ...«

Gleich darauf erzählte er aber den Witz von einem Gutsbesitzer, einem überzeugten Voltairianer, welcher glaubte, daß die Dreifaltigkeit aus Gott Vater, Gott Sohn und der Mutter Gottes bestehe; von einem Kutscher, der viel von den Voltairianern gehört hatte, und seinen Pferden: »Hü, ihr Voltairs!« zurief; vom Grafen Besborodko, der einmal badende Mädchen durch ein Lorgnon betrachtete und sich in eines von ihnen verliebte, obwohl er das Gesicht gar nicht sah (denn das Mädchen kehrte ihm den Rücken); der Zopf erschien ihm aber wunderbar. Was stellte sich aber heraus? Es war der Protodiakon P. Wosdwischenskij.

Nach drei Flaschen Lafitte und zwei Flaschen Cliquot erklärte Lunin, er trinke zwar nach dem Rate des Dichters Jermil Kostrow immer so mäßig, daß er sich noch gerade auf den Beinen halten könne, doch bekäme er bei Moschko nur Kwas zu trinken und sei daher aus der Übung gekommen. Er brach die dritte Flasche Champagner an und intonierte mit heiserer Stimme das Lied:

Neulich saßen wir beim Weine,
Tranken manchen Becher aus:
Amor, ich und meine Kleine.
Doch die Weisheit mußte 'raus! ...

Plötzlich hörte er das Abendläuten, verließ den Tisch, ging schwankenden Schrittes ins Nebenzimmer, holte aus der Tasche sein Brevier und begann zu beten.

»Sie wollen uns zum Katholizismus bekehren, und treiben selbst solche Dinge?« neckte ihn Juschnewskij.

»Was habe ich denn getan?«

»Das ist wirklich nicht der passende Ort zum Beten!«

Golitzin ging auf die beiden zu und lauschte dem Gespräch:

»Ja, mein Lieber, ich demütige mich vor Gott, da ich so schwach und so betrunken bin!« sagte Lunin mit dem gleichen gutmütigen, kindlichen Lachen wie neulich; dann fügte er aber vollkommen ernst hinzu:

»Glauben Sie es mir: die Menschen sind nur dann erträglich, wenn sie schwach sind. Der Mensch kann alles vertragen, nur keine Kraft. Gott schafft aus nichts; solange wir etwas wollen und anstreben, will Er in uns nichts schaffen. Man muß vor allen Dingen den Hochmut der Vernunft durch den Wahnsinn des Glaubens brechen ...«

»Wie wollen Sie denn bei solcher Demut Revolution machen?«

»Revolution ist die heiligste Pflicht des Menschen; die Demütigung vor Gott ist Aufruhr gegen die Menschen,« entgegnete Lunin noch immer ernst. Dann ging er aber zum Tisch und begann wieder seine Witze zu reißen.

»Was bedeutet dieses ewige Lachen?« fragte sich Golitzin. »Lunin bewahrt in der Tiefe seiner Seele die ganze Bitternis seines lächerlichen Daseins,« sagte von ihm einmal Juschnewskij. Lachte er vielleicht, um nicht lächerlich zu sein? Vielleicht lachte er auch nur aus Angst, um sich so zu beruhigen, zu ermutigen, genau so wie ein Kind im finsteren Zimmer zu lachen beginnt. Doch was sollte er fürchten? Fürst Valerian stand vor einem Rätsel, und dieses Rätsel nahm ihn gefangen.

Am nächsten Morgen kam Lunin wieder zu Juschnewskij. Diesmal war er aber ernst und lachte nicht. Er sagte einige artige Worte zur Hausfrau, setzte sich ans Klavier und spielte eine Sonate von Beethoven. Er spielte so, daß alle hingerissen waren. Sein Gesicht war ruhig und feierlich. Als er die Sonate zu Ende gespielt, stand er auf, nahm Abschied und ging.

Am Abend begab sich Golitzin wieder zum Grünen Gasthaus. Lunin saß auf dem Hofe, von einer Schar Judenkinder umringt; er zeigte ihnen ein Bilderbuch und fütterte sie mit Lebkuchen. Die Kinder ließen ihm keine Ruhe, nannten ihn Onkelchen, zerrten ihn an den Silberschnüren seiner Husarenuniform, kletterten ihm auf die Knie und die Schultern und hängten sich ihm an den Hals; ein kleines, schmutziges Mädchen mit roten Locken und hübschem Gesichtchen, setzte ihm besonders zu. Sie war wohl sein Liebling.

Als Lunin den Gast sah, schüttelte er die Judenkinder von sich ab und ging ihm entgegen.

»Entschuldigen Sie, Fürst, daß ich Sie nicht ordentlich aufnehmen kann. Bei meinem verehrten Hausherrn Srul-Moschko wird anläßlich eines jüdischen Festtages ein riesengroßer Hecht, ein wahrer Leviathan, gebraten, und im ganzen Hause ist so ein Rauch, daß man unmöglich im Zimmer sitzen kann. Wollen wir vielleicht einen kleinen Spaziergang machen?«

Sie gingen auf die Landstraße, kamen am Teich und am Palast der Potocki vorbei und gelangten in den Park.

Der Park war riesengroß und glich einem Wald. In der Stadt war es heiß und staubig, doch hier, im Schatten der hundertjährigen Weißbuchen und Eschen, herrschte ewige Kühle. Die Alleen waren wie Durchhaue; es gab stille Wiesen, dunkle Weiher mit Sumpfgräsern und Wildenten.

Lunin fragte Golitzin nach den Geschäften der Geheimen Gesellschaft, nach der Wassilkower Sektion, Ssergej Murawjow und seinem Katechismus; sprach aber von seiner eigenen Sache kein Wort. Golitzin schien es, daß er einige Male die Rede auf seine Angelegenheit bringen wollte, doch jedesmal zurückschrak. Über diese Schüchternheit wunderte er sich noch mehr als über alle anderen Eigentümlichkeiten Lunins.

»Sehen Sie, ich habe mich der Gesellschaft entfremdet, bin beinahe aus ihr ausgetreten,« fing er schließlich an, ohne Golitzin anzublicken. »Und doch möchte ich gerne zurückkehren. Helfen Sie mir.«

»Von Herzen gerne, Lunin. Wie kann ich Ihnen dabei behilflich sein?«

»Das sollen Sie gleich erfahren. Es soll aber unter uns bleiben.«

Er machte wieder eine Pause, faßte sich Mut und sagte, immer noch Golitzins Blicken ausweichend:

»Was glauben Sie, würde die Gesellschaft die Hilfe ...«

Er hielt inne, blickte Golitzin an und sprach den Satz entschlossen zu Ende:

»Würde die Gesellschaft die Hilfe der heiligen Väter von der Gesellschaft Jesu annehmen?«

»Der Jesuiten?«

»Ja, der Jesuiten. Sie wundern sich wohl, daß ein gescheiter Mensch solchen Unsinn sagen kann? Warten Sie nur und überlegen Sie sich Ihre Antwort. Ihre Ansicht ist mir außerordentlich wertvoll. Viel wertvoller, als Sie vielleicht glauben. Beantworten Sie mir zunächst die Frage: warum sprechen wir alle so viel und tun nichts?«

»Was tun wir nicht?«

»Wir tun die Hauptsache nicht, mit der die Revolution einzig und allein beginnen kann.«

»Das sollten Sie besser wissen, Lunin. Sie allein könnten ...«

»Warum ich allein? Warum nicht alle? Sie wollen es nicht? Oder sie wollen es und können nicht? Sie wissen es nicht? So will ich es Ihnen sagen. Gegen einen Menschen kann man die Hand erheben, gegen Gott aber nicht. Sie wollen alle Freidenker und Atheisten sein, wenn es aber zum Handeln kommt, sind sie alle ebenso gläubig und orthodox wie ihre Väter. Die Orthodoxie ist aber ein Schisma, ein Abfall von Christo, von der weltumfassenden, katholischen Kirche, Rußland ist von Christo, vom himmlischen König abgefallen, und verehrt einen irdischen König, einen irdischen Gott-Cäsar ...«

»Sie meinen, daß Rußland von Christo abgefallen und daß Rom Ihm noch treu sei, nicht wahr?« fragte Fürst Valerian.

»Ja, Rom ist treu, wenn das Wort des Herrn: ›Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen‹ wahr ist. Rom ist die Freiheit der Welt, eine ewige Empörung gegen alle irdischen Könige. Dort, wo Brutus Cäsar getötet, ist der Tyrannenmord im Namen Gottes gerechtfertigt, und wissen Sie durch wen? Durch den großen Lehrer Thomas von Aquino. In › Dietatus Papae‹ des Papstes Gregor VII. heißt es: ›Der römische Pontifex stürzt die Tyrannen und entbindet ihre Untertanen vom Treueid‹. Dies ist der Stein in der Schleuder Davids, der den Riesen Goliath niederwerfen wird, und dieser Stein heißt Petrus ...«

»Glauben Sie denn wirklich, Lunin ...«

»Warten Sie noch, Sie werden mir später widersprechen können; jetzt lassen Sie mich aber ausreden. – Um die zukünftigen Schicksale der Welt kämpfen jetzt zwei große Mächte; ich meine den noch kommenden gewaltigen Aufstand der Arbeiterarmeen, le socialisme ... ich weiß nicht, wie ich es übersetzen soll. Haben Sie etwas von Saint-Simon gehört?«

»Ja, einiges.«

»Ich habe ihn in Paris kennen gelernt,« fuhr Lunin fort. »Wir sprachen von Rußland und von der Geheimen Gesellschaft. Auch er ist bereit, uns zu helfen, und rechnet auch auf unsere Hilfe. Dies ist eine menschliche Macht; die andere Macht ist aber göttlich: es ist der erhabene Gedanke, welcher das Königtum mit dem Priestertum in einem Menschen vereinigt hat. ›Es soll nur einen König im Himmel wie auf Erden – Jesum Christum – geben,‹ wie es in Ihrem Katechismus heißt. Es ist aber unser Gedanke, Golitzin, der Gedanke Roms ...«

»Nein, Lunin, der Gedanke Roms kann nicht unser Gedanke sein: unser König ist Christus und nicht der Papst.«

»Ist es denn nicht das Gleiche? Der Papst ist die Kirche, und die Kirche ist Christus ... Lassen Sie mich ausreden ... Hören Sie also: diese beiden Mächte wollen sich mit uns verbinden. Werden wir denn ihre Hilfe zurückweisen? ...«

Er sprach noch lange von seinem Plan: beide Kirchen sollten sich vereinigen und der Papst der Führer der russischen und der universellen Revolution werden, als Haupt der befreiten Menschheit auf ihrem Wege zum Reiche Gottes.

Golitzin war so sehr erstaunt, daß er nicht mehr widersprach. Er hörte Lunin schweigend zu und blickte ihm manchmal ins Gesicht, um sich zu vergewissern, ob er nicht scherze. Sein Gesicht war ebenso ernst und feierlich, wie neulich, als er die Beethovensonate spielte. Seine Augen brannten, als ob von ihnen eine Eiskruste abgefallen und ein flammender Kern zum Vorschein gekommen wäre.

Sie verließen den Park und stiegen auf einen der Hügel, die die Stadt im Westen umschlossen. Der Pfad führte durch eine Schlucht. Der von der Abendsonne beleuchtete rote Lehm auf den vom Regenwasser abgespülten Abhängen erinnerte an Blut. Auch die über den ganzen Himmel verstreuten roten Wölkchen erschienen blutig; es war, als ob im Himmel eine Hinrichtung vollzogen würde. Ein großes schwarzes katholisches Kreuz auf dem Gipfel des Kalvarienhügels erinnerte daran, daß auch auf Erden die gleiche Hinrichtung vollzogen worden war.

Hinter den Hecken bellten die Schäferhunde, die die Schafe zu den Hürden trieben. Es roch nach Schafdünger, Rauch, Minze und Wermut.

Ein alter Schafhirt beugte sich über die Hecke und rief den beiden etwas zu; sie konnten ihn nicht verstehen, denn er vermischte russische Worte mit polnischen, moldauischen und türkischen: alle diese Völker zogen einmal über diese Hügel und hinterließen Spuren ihrer Sprache in der ganzen Gegend. Er zeigte mit seinem krummen Schäferstabe bald auf seinen bösen Hund, der sie wütend anbellte, bald auf die Straße, auf der sie gingen, als ob er sie vor irgendeiner Gefahr warnen wollte.

»Was sagt er eigentlich? verstehen Sie ihn, Golitzin?«

»Kein Wort.«

»Ich verstehe auch nichts. Er will uns wohl vor irgendeinem Tiere warnen, scheint es mir ... Daß ihn der Kuckuck! Er will wohl einfach ein Trinkgeld.«

Sie warfen ihm einige Münzen hin und gingen weiter. Der Alte hörte aber nicht auf zu schreien, und seine Stimme klang so überzeugend, daß Golitzin Angst bekam: die wilde Schlucht, der einsame Weg, die roten Lehmabhänge, der rote Himmel und das schwarze Kreuz erschienen ihm unheimlich und unheildrohend. »Sollen wir nicht umkehren?« ging es ihm einmal durch den Kopf, doch er schämte sich, seine Angst dem furchtlosen Lunin zu zeigen.

»Entschuldigen Sie, Golitzin. Ich habe mich von unserem Gespräch so hinreißen lassen, daß ich alle Anstandsregeln vergaß. Sind Sie nicht müde?«

»Nein, nicht im geringsten.«

»Dann wollen wir noch etwas weiter gehen. Ich will Ihnen eine Stelle mit einer wunderbaren Aussicht zeigen.«

Sie erklommen den Hügel, aus dem die Ruine eines türkischen Wachturmes stand: Podolien hatte einmal den Türken gehört. Sie stiegen auf steilen Stufen eine halbzerstörte Treppe zur Turmspitze hinauf, von oben bot sich eine Aussicht auf niedere Steppenhügel, die sich wellenförmig bis zum Horizont hinzogen; im Westen, in den feurigen Wolken, schwebte das Gesicht einer gigantischen Stadt, des kommenden Zions.

Lunin blickte schweigend in das Abendrot.

»Ich weiß nicht, was Sie vorziehen, Golitzin, ich liebe aber das Ende des Tages mehr als seinen Anfang. Der Westen ist größer als der Osten,« sagte er nach einer Weile. »Bei der Abendmesse wird in russischen Kirchen gesungen: ›Stilles Licht, Licht des Heils ... Wenn ich mich zum Abendrot wende und das Abendlicht sehe ...‹ Einst kam das Licht vom Osten; heute kommt der letzte Abendstrahl von Westen. Ich glaube, daß mein Europa ...«

»Wie haben Sie eben gesagt: mein Europa? ...«

»Warum?«

»Und nicht: mein Rußland?«

»Ja, auch Rußland ... Ich habe also die Vorahnung, daß Europa am Vorabend einer neuen frohen Botschaft, die die Schicksale der Menschheit entscheiden wird, steht, und daß Rußland, mein Rußland, vor allen anderen Völkern diese frohe Botschaft vernehmen wird und sagen wird: Dein Reich komme ...«

»Adveniat regnum tuum,« fiel Golitzin das lateinische Gebet Tschaadajews ein. »Tschaadajew und Lunin; wie verschieden sie sind und wie ähnlich: Beide haben Rußland verraten, doch in diesem verrat liegt etwas Rührendes, durchaus Russisches.«

»Ich glaube,« sagte Lunin, und in seinem Gesicht leuchtete wie der Wiederschein des verglimmenden Abendrots eine grenzenlose Trauer und eine grenzenlose Hoffnung. »Ich weiß nicht, woher ich diesen Glauben habe, doch ich glaube, daß Gott Rußland erretten wird; wenn es auch zugrunde geht, wird sein Untergang die Rettung Europas bedeuten, und der Widerschein des Brandes, in dem Rußland zu Asche verbrennen wird, wird zum Morgenrot der Befreiung für die ganze Welt ...«

Das Abendrot erlosch, und eine neue trübe Röte ergoß sich über die Steppe; es war wie das Licht, das in ein finsteres Zimmer von außen durch einen roten Vorhang fällt. Es war der Mond, der hinter einer Wolke aufging.

»Nun, Golitzin, haben Sie mich verstanden?«

»Ja.«

»Und sind mit mir nicht einverstanden?«

»Nein. Sie haben sich, Lunin, gegen den Zaren aufgelehnt, Ihr Papst ist aber auch ein Zar. Sie sind aus dem Zarentum ins Papsttum geraten, aus dem Regen in die Traufe. Als Napoleon sich mit Pius VII. wegen der Oberherrschaft über die Kirche stritt, wissen Sie, was er da sagte? – ›Ich bin selbst Papst!‹ Ist es denn nicht ganz gleich, ob wir einen Papst-Zar, oder einen Zar-Papst haben?«

»Sie meinen wohl, wie es, wenn ich nicht irre, bei Scarron heißt:

Don Pascal Zapata,
Ou Zapata Pascal: il n'importe guère,
Que Pascal soit devant ou qu'il soit derrière?
«

Lunin lachte plötzlich durchdringend und scharf.

»Das ist es eben,« bemerkte Golitzin. »Der Zar und der Papst sind einander ähnlich und entgegengesetzt wie die rechte und die linke Hand.«

Lunins Lachen brach ebenso plötzlich ab, wie es begonnen. Er fragte:

»Wessen Hände sind es?«

»Vielleicht dessen,« erwiderte Golitzin, »von dem der Heiland zum Apostel Paulus sagte: ›Ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hin willst‹?«

»Vielleicht sind es keine Hände, sondern Tatzen?«

»Ja, die Tatzen des Tieres ...«

»Das reimt sich ja: Lapa – Papa! (Lapa – russisch Tatze; Papa – Papst)« lachte Lunin wieder unheimlich auf. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Wenn die wahre Kirche weder bei euch noch bei uns ist, wo ist sie denn? Oder gibt es überhaupt keine wahre Kirche?«

»Vielleicht ist sie noch nicht da,« antwortete Fürst Valerian.

»Sie ist noch nicht da; wird sie aber einmal kommen?« fragte wieder Lunin.

Golitzin schwieg; er wollte nicht mehr sprechen und fühlte, daß ihn Lunin sowieso nicht verstehen würde.

»Wie steht es aber heute?« fragte Lunin weiter. »Worauf soll man denn in der Leere ohne Stützpunkt bauen? Doch nicht auf ein Erdbeben? Haben Sie denn gar keine Angst, Golitzin?«

Golitzin dachte an die Worte Juschnewskijs: »Lunin ist ein Mensch von einer schier grenzenlosen Geistesstärke« und an die Worte Lunins: »Der Mensch kann alles vertragen, nur keine Kraft.« Daher kam also seine Angst, daher lachte er immer: um sich zu beruhigen und zu ermutigen, wie es die kleinen Kinder im Finsteren tun.

Sie gingen den gleichen Weg zurück. Vom schwarzen Kreuze führte der Weg wieder durch die Schlucht. Der Mond war jetzt nicht mehr rot, sondern gelb.

Plötzlich hörten sie hinter der Hecke Hundegebell, Schreie und Stimmen vieler laufender Menschen; gleich darauf blitzte etwas auf und es krachte ein Schuß.

Vom Gipfel des Hügels herab sauste ihnen etwas Kleines, Schwarzes, Rundes, so schnell wie eine Kanonenkugel, entgegen.

Wieder fiel ein Schuß. Man schoß wohl auf dieses Schwarze, doch immer fehl.

»Was ist es?« fragte Golitzin, gespannt in die Dämmerung blickend.

»Der Schafhirt hatte doch recht,« sagte Lunin, »Haben Sie keine Waffen bei sich, Golitzin?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Das kommt davon, wenn man nicht in vorschriftsmäßiger Uniform ausgeht. Können Sie gut klettern? Reichen Sie mir die Hand.«

Er ergriff seine Hand und zog ihn zu der Hecke am Abhang hinauf. Golitzin versuchte, hinaufzuklettern, doch der Lehm bröckelte unter seinen Füßen ab, er fiel hinunter und zerbrach seine Brille.

Lunin stand schon oben vor der Hecke, über die er sich retten wollte. Als er aber Golitzin wieder unten auf dem Wege stehen sah, sprang er zu ihm hinunter, riß ihn zum Kreuz und pflanzte sich vor ihm auf. Den linken Arm umwickelte er mit seinem Mantel; in der Rechten hielt er einen langen spitzen Pfahl, den er aus der Hecke gerissen hatte. Alle seine Bewegungen waren blitzartig, wohl berechnet und ruhig. Er schien berauscht, wie neulich nach der dritten Flasche Champagner; es war wohl der gleiche Zustand, in dem er einst die Forderung des Thronfolgers angenommen hatte: »Zuviel Ehre, Hoheit, als daß ich es ausschlagen könnte!«

Nun konnte Golitzin auch schon ohne Brille sehen, was auf sie heransauste: er sah gesträubtes Fell, einen eingezogenen Schwanz, eine heraushängende Zunge und eine schaumbedeckte stumpfe Schnauze.

Er schloß die Augen, um es nicht zu sehen, und drückte sich mit dem Rücken ans Kreuz. Was nachher kam, sah er nicht; er hörte nur ein heulen, Winseln, Brüllen und glaubte auf seinem Gesicht den stinkenden heißen Atem des Tieres zu spüren.

Als er die Augen öffnete, sah er viele Menschen, die sich um einen großen toten Hund drängten, in dessen Gurgel Lunins Pfahl steckte. Die Schäfer rühmten Lunins Mut.

»Ihr schießt ja vorzüglich!« spottete er.

»Wir schießen, wohlgeborener Herr, nicht schlechter als die anderen; alle Christenmenschen wissen aber, daß man ein tolles Tier nur mit einer besprochenen Kugel treffen kann. Wer die richtigen Beschwörungsworte kennt, kann das Tier auch mit einem Stecken töten, wie es Euer Gnaden eben gezeigt haben.«

Lunin wollte sofort Wasser haben, um sich zu waschen. Die Schafhirten führten sie zu einer Hürde, wo sich am Feuer die erschrockenen Schafe drängten und aus einer Holzrinne Wasser rieselte.

Lunin warf seinen Mantel ab, den das Tier durchgebissen hatte, zog sich den Rock aus, krempelte die Ärmel auf und untersuchte sorgfältig seinen Arm. Golitzin standen vor Entsetzen die Haare zu Berge, Lunins Gesicht blieb aber ruhig. An den Armen fand er keine Bißwunden. Er warf seinen Mantel ins Feuer, wusch sich, zog den Rock wieder an, gab den Hirten ein Trinkgeld, nahm Golitzin am Arm und führte ihn auf die Straße zurück.

»Haben Sie sich erschrocken, Fürst?«

»Gewiß.«

»Das will ich meinen. Auch ich war wohl nicht weniger erschrocken.«

»Man sieht es Ihnen gar nicht an.«

»Das hat nichts zu sagen! Wenn Ihnen jemand sagt, daß es in der Welt furchtlose Menschen gibt, so glauben Sie ihm nicht: alle Menschen können erschrecken; die einen können aber ihre Angst überwinden, die anderen nicht. In der Überwindung der Angst liegt ja auch der herrliche Rausch der Gefahr. Ich glaube, es gibt kein Gefühl, das sich mit diesem messen könnte. In solchen Augenblicken gleicht der Mensch Gott. Die Ähnlichkeit ist natürlich trügerisch, es steht aber fest: der Mensch ist so beschaffen, daß er immer und überall ein Gott sein will.«

Golitzin sah ihm aufmerksam in die Augen: ob er nicht prahlte? Nein, er war durchaus ruhig und natürlich. Wenn er ein anderes, viel schrecklicheres Tier töten würde, würde er wohl die gleiche Ruhe bewahren.

»Dem richtigen Jäger läuft das Tier selbst in den Weg,« lächelte Lunin, als ob er seinen Gedanken erriete. »Wir sprachen eben vom Tier, und sofort war es zur Stelle. Wie soll man da nicht abergläubisch werden? Merken Sie sich noch das eine: wir haben das Tier im Schatten des römischen Kreuzes besiegt. Gegen das Tier erhebt man das Kreuz; vielleicht ist dies unsere Beschwörungsformel?«

Als sie wieder am Grünen Gasthaus waren, wollte Golitzin Abschied nehmen; Lunin hielt ihn aber zurück und bewegte ihn, auf sein Zimmer mitzukommen. Im trüben Lichte einer Talgkerze erschien das große Zimmer noch finsterer. Auf dem Tische war das Bett gerichtet, und Golitzin stellte sich vor, wie Lunin darauf wie eine Leiche vor der Einsargung liegen mochte. Die Koffer waren gepackt: Lunin wollte am frühen Morgen abreisen.

Er bot dem Gast Platz an, stopfte sich eine Pfeife und begann, wie neulich, im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei er mit heiserer Stimme sang:

»Plaisir d'amour ne dure qu'un moment.«

»Wissen Sie, Golitzin, ich will nicht glauben, daß wir uns gar nicht einigen könnten. In der Hauptsache sind wir uns doch einig?«

»Gewiß. Aber ...«

»Aber zwei Parallelen können sich nie treffen, nicht wahr?«

»Oder sie treffen sich in der Unendlichkeit,« entgegnete Golitzin.

»Ach, mein Lieber, die Unendlichkeit liegt zu weit; lieber einen Sperling in der Hand als einen Storch auf dem Dache!« lachte Lunin wieder auf.

Er schwieg eine Weile, blieb vor dem Fürsten Valerian stehen und blickte ihm starr in die Augen.

»Hören Sie einmal, Golitzin, dies ist mein letzter Versuch, in die Gesellschaft zurückzukehren. Ich weiß, daß ich nützlich sein kann: ich besitze das, was Ihnen allen fehlt, nämlich den Stützpunkt für den archimedischen Hebel, mit dem man die ganze Welt umkehren kann. Wenn es nur die geringste Aussicht auf eine Einigung gibt, so bin ich der Ihrige; und was ich gesagt, werde ich auch tun: gegen das Tier erhebe ich das Kreuz. Entschließen Sie sich gleich. Hier auf der Stelle und nicht in der Unendlichkeit! Ja oder nein?«

Seine Stimme klang flehend; es war jene Schwäche eines Starken, die oft stärker als seine Stärke ist.

»Nein, Lunin, wenn ich Ihnen auch folgen würde, die anderen täten es nicht.«

»Wo nichts ist, ist auch nichts zu holen. Wenn wir uns nicht vereint retten können, werden wir getrennt zugrunde gehen. Leben Sie wohl, Golitzin. Ich reise weit fort.«

»Nach Warschau?«

»Vielleicht auch weiter. Ich will mir auf der Erde einen Platz suchen; und wenn ich ihn auf der Erde nicht finde, so gehe ich zu den Menschen, die unter der Erde wohnen.«

»Unter der Erde?«

»Ja, ich meine die Mönche vom Trappistenorden, l'ordre de la Trappe, Sie wissen doch?«

»Wollen Sie wirklich zu den Trappisten gehen?«

»Ja, wenn ich mir keine andere Zuflucht finde.«

»Sie haben nicht mehr Zeit dazu, Lunin.«

»Warum?«

»Weil es bei uns bald losgeht. Und wenn es losgeht, werden Sie sich uns doch anschließen?«

»Gewiß werde ich mich anschließen. In Rußland kann man nicht leben, doch man kann da sterben. Ich sage Ihnen also nicht Lebewohl, sondern auf Wiedersehen. Warten Sie, ich habe noch eine letzte Frage, die vielleicht recht unbescheiden ist. Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie mir darauf keine Antwort zu geben. Oder noch besser so: ich will die Frage zuerst selbst beantworten, und Sie nach mir. Für mich ist das höchste im Leben – die Liebe, die Liebe zu ihr ...«

Sie wechselten wie Verschwörer rasche Blicke, und Fürst Valerian begriff, von wem er sprach.

»Und was ist für Sie das Höchste, Golitzin?«

»Dasselbe.«

»Auch die Liebe zur Freiheit geht durch sie?« fragte Lunin.

»Ja, durch sie

Lunin stand schweigend vor ihm und schien noch aus etwas zu warten.

Ein sinnloser Gedanke durchzuckte ihn: wie, wenn er wieder, wie neulich, in sein unheimliches Lachen ausbrechen würde? Husarenoberst – und Ritter der schönsten Dame; Verschwörer – und Adjutant des Thronfolgers; Freund der Freiheit und Freund der Jesuiten – ja, wie sollte man da nicht lachen, um nicht lächerlich zu erscheinen?

»Warum verstehen Sie denn nicht, daß ich zu ihnen gegangen bin?« sagte Lunin wieder ernst und feierlich. »Ave Maria, gratia plena – dieses Gebet zu ihr haben doch nur die Katholiken. Die Fremde wurde mir zu einer Heimat, denn die Heimat ist immer dort, wo man liebt. Ich habe den Glauben meiner Väter verlassen. Ich liebe den fremden Glauben mehr als den meinigen, ich liebe meine Braut mehr, als meine Mutter, wie es auch in der Schrift heißt: ›Darum wird ein Mann seinen Vater und Mutter verlassen ...‹ Verstehen Sie mich nicht? Wenn Sie mich aber verstehen, wenn wir beide der einen dienen, die eine lieben, warum sollen wir dann getrennte Wege gehen? ...«

Er blickte Golitzin in die Augen, und Golitzin geriet ganz in den Bann dieses schweren und zärtlichen Blickes.

»Warum wollen Sie dann nicht mit mir gehen? Sie ruft Sie doch jetzt durch meinen Mund. Und Sie wollen nicht? ...«

»Ich kann nicht,« antwortete Golitzin, sich mit einer ungewöhnlichen Willensanstrengung aus dem Bann losreißend. »Man soll davon lieber nicht sprechen, Lunin: wenn man es ausspricht, ist gleich alles dahin,« sprach er Borissows Worte nach.

Beide schwiegen. Es war unheimlich. Wie bei seinem ersten Gespräch mit Murawjow hatte Golitzin wieder das Gefühl, daß sie, Sophie, bei ihm stand; warum war es ihm aber damals so leicht und freudig zumute, und jetzt so schwer und so unheimlich?

Beide schwiegen.

»Vielleicht haben Sie auch recht,« sagte endlich Lunin. »Also auf Wiedersehen, auf Wiedersehen in der Ewigkeit, mein Freund. Ich darf doch Freund sagen?«

»Ja, Lunin.«

Golitzin reichte ihm die Hand. Lunin behielt sie lange in der seinigen und blickte ihn so an, als ob er noch immer hoffe.

Unter diesem Blicke verließ ihn Golitzin.


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