Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V.

»Entschuldige, lieber Juschnewskij, daß ich Dir nicht schon aus Berditschew geschrieben habe. Du weißt, daß ich schreibfaul bin; außerdem hatte ich keine Gelegenheit, den Brief jemand mitzugeben; der Post wollte ich ihn nicht anvertrauen. Sage Golitzin, daß es mich freuen wird, ihn zu sehen; dagegen wird es mich weniger freuen, mit ihm von unseren Geschäften zu sprechen; denn ich weiß im voraus, daß alle solche Gespräche zu nichts führen.

Du fragst mich, was ich hier treibe. Ich schreibe tägliche Berichte an die Behörde und lehre die Soldaten marschieren. Vor Einsamkeit bin ich ganz stumpfsinnig geworden, denn außer Frontsoldaten und Regimentsschreibern bekomme ich keinen Menschen zu sehen. Ich habe mir ein Zimmer eingerichtet, das ich fast nie verlasse. Mein Leben ist wenig amüsant; es ist schwer und trocken. Auch meine Gesundheit läßt zu wünschen übrig. Bitte Doktor Wolf, daß er mir Chinin schickt.

Ich bin Barjatinskij für seine ›Mußestunden von Tultschin‹ sehr dankbar. Seine Widmung kenne ich bereits auswendig:

Sans doute il te souvient des tranquilles soirées,
Où par l'épanchement, nos âmes resserées
Trouvaient dans l'amitié tant de charmes nouveaux ...

Was Du mir von meinen ›erhabenen Gedanken‹ sagst, fasse ich als Schmeichelei eines Freundes auf. Erhabenen Gedanken entspringen große Taten. Wo sind aber unsere Taten?

Sei glücklich, küsse für mich Deiner lieben Maria Kasimirowna, die uns voneinander getrennt hat, die Hände, und vergiß nicht deinen

Pestel.«

Linzn, den 5. September 1824.

» P. S. Überlege Dir, ob es wirklich nötig ist, daß Golitzin zu mir herkommt. Wenn man nichts tut und nur von dem, was man tun will, spricht, drischt man leeres Stroh. Im übrigen tue was Du willst.«

 

Als Juschnewskij den Brief Golitzin zeigte, wußte dieser anfangs nicht, ob er hinreisen sollte. Juschnewskij bestand aber darauf, und er fuhr noch am gleichen Tage nach Linzn.

Das Städtchen Linzn, die Garnison des Wjatkinschen Regiments, dessen Kommandeur Pestel war, lag etwa sechzig Werst von Tultschin entfernt, im Lipowetzschen Kreise des Kiewschen Gouvernements, beinahe an der Grenze des Podolischen. Die Poststraße ging zuerst durch das Bugtal und von Kropiwna ab durch einen uralten Fichten- und Eichenwald, der früher einmal die Zuflucht zahlreicher Räuberbanden gewesen war. Der Wald zog sich bis dicht vor Linzn; weiterhin kam eine kahle Steppe, auf der nur hie und da alte Grabhügel ragten. Linzn war ein Mittelding zwischen einem kleinen Städtchen und einem großen Dorf. Am Ufer des wasserreichen, durchsichtigen Flusses Ssobj lagen gemütlich im Grünen niedere Bauernhäuser mit spitzen Dächern, die alte, kleine Kirche, die Synagoge, der katholische Dom, ein Mehlspeicher, der Marktplatz mit jüdischen Kaufläden, das Stabsquartier des wjatkinschen Regiments, das Exerzierhaus und die gestreifte Hauptwache mit dem Schlagbaum; dahinter kam die kahle Steppe und schien die Welt aufzuhören. Alle Zugänge zu diesem von Gott vergessenen Nest schienen im Süden von der Steppe und im Norden vom Wald abgeschnitten.

Der Abend war trüb. Ein Gewitter, das wohl irgendwo in der Ferne niedergegangen war, hatte dem Sommer ein Ende gemacht; die Luft wurde auf einmal kühl und herbstlich. Es regnete nicht, doch ein feuchter Wind trieb über den Himmel stoßweise schnelle Wolken, die so tief hingen, daß man glauben konnte, ihre Fetzen würden sich in den Baumwipfeln verfangen.

Es dämmerte bereits, als Golitzins Wagen vor einem alten einstöckigen Hause, dem Palais der Fürsten Sanguszko, denen das ganze Städtchen gehörte, hielt. Das Haus war unbewohnt: die Fenster waren vernagelt, und auf dem Hofe wucherten Brennessel und Kletten, hinter dem Hause lag ein alter Garten. In den Wipfeln der großen Bäume brauste es; eine Schar schwarzer Krähen trieb sich mit unheildrohendem Schreien unter dem trüben Himmel umher.

Pestel wohnte in einem Seitenflügel, den ihm der fürstliche Verwalter zur Verfügung gestellt hatte.

»Treten Sie ein, Durchlaucht,« rief Pestels Bursche, Ssawenko, Golitzin wie einem alten Bekannten entgegen. Ssawenko, ein Kleinrusse mit einem gutmütigen und etwas spitzbubenhaften Gesicht, ging sofort zu seinem Herrn, um den Gast anzumelden.

Pestels Arbeitszimmer war ein großes finsteres Zimmer, dessen beide Fenster in den Garten hinausgingen. Eine ganze Wand wurde vom Boden bis zur Decke von Büchern eingenommen. Auf dem Schreibtisch lagen unordentliche Haufen von Schriftstücken. Es gab hier noch einen großen Kamin mit einer Backsteinüberdachung, wie man sie in alten polnischen Herrensitzen findet. Die Großväter und Urgroßväter der Fürsten Sanguszko blickten von den dunklen Bildnissen starr und unfreundlich herab, und ihre Rügen schienen einen jeden, der durch die Räume ging, zu verfolgen.

Es roch nach Mäusen und Feuchtigkeit. Wie traurig und einsam mochte es hier an langen Herbstabenden sein, wenn der Wind im Kamine pfiff, der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte und im Garten die uralten Bäume rauschten. »Mein Leben ist wenig amüsant; es ist schwer und trocken.« Dieser Passus aus dem Briefe Pestels fiel Golitzin ein, als er sich im Zimmer umsah. »Wie war die Reise, Fürst? Wollen Sie sich vielleicht etwas waschen und Ihre Kleiber abbürsten? Hier ist Ihr Zimmer.«

Der Hausherr führte den Gast in sein eigenes Schlafzimmer, eine kleine Kammer, die hinter dem Arbeitszimmer lag.

»Sie werden doch bei mir übernachten?«

»Ich weiß wirklich nicht, Pawel Iwanowitsch. Ich habe eigentlich Eile und möchte nachts wieder abreisen.«

»Was fällt Ihnen ein! Ich werde Sie nicht fortlassen, wollen Sie etwas essen?«

»Ich danke. Ich habe schon auf der letzten Station genachtmahlt.«

»Dann müssen Sie Tee trinken. Ssawenko, den Samowar!«

Pestel tat sehr höflich, Golitzin fühlte aber, daß sein Besuch ihm ungelegen war.

Als er sich gewaschen hatte und in das Arbeitszimmer zurückkehrte, war es schon recht dunkel, Pestel saß in einer Ecke des Sofas, in einen alten Mantel, der ihm als Schlafrock diente, gehüllt, mit gekreuzten Armen, gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Sei Gesicht war unbeweglich, und er schien zu schlafen. »Bestuschew hat ja recht: er sieht wirklich Napoleon ähnlich; Napoleon bei Waterloo,« ging es Golitzin durch den Kopf. Die Ähnlichkeit lag weniger in den Zügen, als in der steinernen Schwere, Schläfrigkeit und Unbeweglichkeit des ganzen Gesichts.

Der Bursche brachte eine Lampe, Pestel rührte sich und blickte Golitzin an. Golitzin sah erst jetzt bei Licht, wie sehr Pestel sich verändert hatte: er war abgemagert und sah leidend aus.

»Sind Sie krank, Pestel?«

»Ja, es fröstelt mich. Ich habe wohl Fieber.«

»Ich habe Ihnen Chinin mitgebracht. Doktor Wolf hat es mir mitgegeben.«

»Ich danke. Geben Sie es her, ich will gleich einnehmen.«

Er füllte ein Glas mit Wasser und schüttete das Pulver hinein; dann lächelte er kindlich und hilflos:

»Muß ich es auf einmal einnehmen?«

»Ja, auf einmal.«

Er trank aus und verzog das Gesicht.

»Wie ekelhaft! Jetzt kommt noch etwas Ekelhaftes, das ich auch gerne auf einmal erledigen möchte, was gibt es Neues, Fürst?«

Golitzin erzählte ihm von der Denunziation Sherwoods, durch die wahrscheinlich die ganze Verschwörung aufgedeckt war, und vom Verdacht gegen den Hauptmann Maiboroda und den General Witt.

Pestel hörte schweigend zu und blickte Golitzin starr mit unbeweglichem, steinernem Gesicht an. Golitzin hatte dasselbe Gefühl, das auch einst Rylejew empfand: daß Pestel ihn gar nicht sähe und in sein Gesicht wie ins Leere blicke.

»Nun, alles ist ja in Ordnung,« sagte er, als Golitzin fertig war. »Wir haben lange genug darauf gewartet. Es war ja kindlich zu glauben, daß es keine Denunzianten geben werde. ›Bei jeder Verschwörung kommt auf je zwölf Verschwörer ein Verräter‹, sagte mir einmal der alte Pahlen, der Mörder des Kaisers Paul; er verstand sich auf solche Dinge.«

»Was gedenken Sie nun zu tun, Pawel Iwanowitsch?«

Pestel zuckte die Achseln.

»Was soll man tun? Wem es vorbestimmt ist, gehenkt zu werden, der kann nicht ertrinken. Ich warte schon seit einem halben Jahre darauf, daß man mich verhaftet, und habe mich an dieses Gefühl gut gewöhnt. Der Mensch kann sich an alles gewöhnen. – Finden Sie es denn nicht langweilig, Golitzin?«

»Was soll ich langweilig finden?«

»Nun, immer an das gleiche zu denken: an Anzeigen, Verhaftungen und Spione, oder ›Spigone‹, wie mein Ssawenko sagt.«

»Es ist langweilig, doch was soll man tun? Davon hängt ja unser ganzes Unternehmen ab.«

»Glauben Sie denn überhaupt noch an unser Unternehmen?«

»Was wollen Sie damit sagen, Pestel?«

»Nichts. Es war nur ein Scherz, entschuldigen Sie. Doch im Ernst: was Maiboroda betrifft, so sind Sie alle im Irrtum. Glauben Sie denn, daß ich ihn in die Gesellschaft aufgenommen hätte, wenn ich nicht überzeugt wäre ...«

»Haben Sie ihn denn aufgenommen?«

»Ja, beinahe.«

»Um Gottes willen, Pawel Iwanowitsch, seien Sie doch vorsichtig!«

»Sie können ruhig sein: ich kenne die Menschen.«

»Sie kennen die Menschen und sehen nicht, daß er ein abgefeimter Schurke ist ...«

»Ja, er ist ein Schurke, – was hat es aber zu bedeuten? Ich glaube, daß wir Schurken nötiger brauchen, als ehrliche Menschen. Die Menschen werden ja nur beim Jüngsten Gericht in Schafe und Böcke eingeteilt – doch in diesem irdischen Jammertal kann man sie gar nicht recht unterscheiden; ein Mensch kann heute ein Schurke und morgen ein Ehrenmann sein, und auch umgekehrt. Die Schurken haben den großen Vorzug, daß man im vorhinein weiß, was man von ihnen erwarten kann; bei ehrlichen Menschen weiß man es aber nie. ›Wo ist der ehrliche Mensch, der nicht eine Ohrfeige verdient?‹ Das hat, glaube ich, Shakespeare gesagt. Ich bin ein schlechter Christ, doch ich kann mich noch darauf besinnen, daß im Himmel eine größere Freude über einen reuigen Sünder herrscht, als über zehn Gerechte. Auch General Witt ist so ein reuiger Sünder. Wir vertrauen ihm nicht ... vielleicht irren wir uns aber? Er hat ja 40 ;000 Mann unter seinem Kommando, das ist keine Kleinigkeit!«

»Was sagen Sie da, Pawel Iwanowitsch!«

»Sie finden es nicht edel? Gewiß! wir denken nur an Edelmut und gehen daran zugrunde. Das ist ja wirklich keine Politik! In der Politik gibt es nichts Edles und nichts Gemeines, sondern nur vernünftiges und Dummes, wir haben uns für das Dumme entschieden. wir wollen Revolution in weißen Handschuhen machen, wir müssen töten, doch niemand will es tun, niemand will seine Handschuhe beschmutzen; ein jeder versteckt sich hinter den anderen, ein jeder wartet. Der Kaiser kann ruhig schlafen, er wird uns alle überleben. Ja, Golitzin: Worte sind noch lange keine Taten, wir Menschen können leicht sprechen; wenn es aber zum Handeln kommt, denken wir immer an die Gefahr, wenn nicht für das Leben, so doch für die Ehre und das Gewissen, wir sind tapfer und wollen unser Leben opfern; ja, das Leben kann man leicht opfern; doch das Gewissen? ›Wer da suchet, seine Seele zu erhalten, der wird sie verlieren‹, – ist das nicht auf uns gemünzt? ...«

Er schlug die Augen nieder. Als er sie wieder hob, brannten sie vor Haß.

»Sie suchen überall und immer nach Verrätern; wissen Sie aber, wer der größte Verräter ist? Ich wache oft ganze Nächte und zerbreche mir den Kopf, was wir tun sollen. Wissen Sie, zu welchem Beschluß ich gekommen bin? Wir haben keine andere Rettung, als zum Kaiser zu gehen und ihm alles zu beichten. Er ist ein edler Mensch, wir sind auch edle Menschen; warum sollten wir uns denn nicht einigen können? Wir müssen ihm alles sagen und ihn davon überzeugen, daß er die Revolution ersticken kann, wenn er Rußland alles gewährt, wonach wir streben. Ich will nach Petersburg gehen und ihm alles sagen. Was sagen Sie dazu, Golitzin? Es ist eine Gemeinheit, nicht wahr?«

»Es ist keine Gemeinheit, sondern Wahnsinn.«

»Waren Sie denn nie von diesem Wahnsinn befallen?«

»Wenn es auch je der Fall war, so ist es längst vorbei.«

»Ist es ganz vorbei?«

»Ja, vollständig.«

»Schade! Ich dachte, wir würden es zusammen tun. Dies wäre viel leichter.«

»Sie dachten doch, daß ich es für eine Gemeinheit halte, und erwarteten von mir, daß ich Sie darin unterstütze?«

»Sie haben mich jetzt wirklich in die Enge getrieben. Ich habe mich verrannt ...« Pestel lächelte und blickte ihm herausfordernd in die Augen.

»Worüber wollen Sie also mit ihm sprechen?«

»Mit wem?«

»Mit dem Kaiser. Sie werden doch mit ihm bald eine Unterredung haben?«

»Wer hat es Ihnen gesagt?«

»Man bekommt manches zu hören. Sie wollten wohl nicht, daß ich es erfahre?«

– Er verdächtigt mich, er will mich vielleicht auf die Probe stellen! – sagte sich Fürst Valerian empört.

»Vielleicht verliere ich wirklich den Verstand,« fuhr Pestel fort. Sein Lächeln wurde noch giftiger. »Die Verrückten haben ja auch ihre Logik. Nach meiner verrückten Logik gibt es nur zwei Auswege: entweder vernichtet man die Verschwörung, oder den Kaiser ... Wenn Sie das eine nicht wollen, so müssen Sie sich für das andere entschließen ... Über den Zarenmord waren wir uns doch, wenn ich nicht irre, einig. Sie wissen noch, bei Rylejew?«

»Ja, ich weiß es noch.«

»Sind Sie auch jetzt noch der gleichen Ansicht?«

Golitzin gab keine Antwort. Trotz seiner Empörung fühlte er, daß Pestel irgendwie recht hatte.

»Was soll nun werden, Golitzin? Ihre Zusammenkunft mit dem Kaiser findet in einem Augenblicke statt, wo fast alles verloren ist. Sie verstehen es ja selbst ... Oder, Sie wollen mir darauf keine Antwort geben?«

»Nein, ich will Ihnen keine Antwort geben. Dies geht nur mein eigenes Gewissen an. Erlauben Sie also, daß ich es mit meinem Gewissen ausmache ...« Golitzin erbleichte und kam nicht weiter.

Pestel sah ihn unverwandt an. Golitzin mußte an seine Worte: »Wo ist der ehrliche Mensch, der nicht eine Ohrfeige verdient?« denken. Das Blut stieg ihm in den Kopf wie nach einer Ohrfeige. Pestel hatte ja wieder recht, und darin lag eben jenes Finstere, Schreckliche und Unlösbare, woran Golitzin in den letzten Monaten gar nicht denken wollte: »Man muß töten; es muß es aber jemand anderer tun, denn ich kann es nicht.«

Vor dem Hause ertönten die Schellen der Troika. Golitzin hatte die Pferde noch auf der Station bestellt, denn er glaubte nicht, daß er bei Pestel übernachten würde.

»Der Wagen ist bereit, Durchlaucht,« meldete Ssawenko.

Golitzin erhob sich und errötete: seine Abreise kam ihm wie eine Flucht vor.

»Auf Wiedersehen, Pestel.«

»Wo wollen Sie denn hin?«

»Ich reise ab.«

Pestel erhob sich und sagte mit veränderter Stimme, mit einem seltsamen stillen Lächeln:

»Ich bitte Sie, Golitzin, bleiben Sie noch da!«

»Nein, Pestel, unsere Unterredung ist zwecklos und fällt uns beiden zur Last. Sie hatten recht, als Sie mir von diesem Besuche abrieten.«

»Ich bitte Sie, Golitzin, bleiben Sie noch da,« wiederholte Pestel mit der gleichen Stimme und dem gleichen Lächeln. Golitzin blickte ihn aufmerksam an und sah in diesem Lächeln einen solchen Schmerz, daß ihm das Herz stillstand.

»Wenn ich Sie irgendwie verletzt habe, Golitzin, so verzeihen Sie es mir um des Himmels willen. Sehen Sie denn nicht, daß ich in einem Zustande bin, daß man mir gar nicht zürnen darf? ...«

Durch sein unbewegliches Gesicht ging ein Zittern; es war, als ob eine Larve abfallen wollte.

»Einen Wehrlosen schlägt man nicht,« fügte er hinzu, ließ sich erschöpft ins Sofa sinken und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Golitzin überlegte es sich noch eine Weile, ging dann ins Vorzimmer und sagte dem Burschen, daß man wieder ausspannen solle. Er kehrte zu Pestel zurück, setzte sich an seine Seite und legte ihm seine Hand auf die Schulter.

»Ich will Ihre Frage beantworten, Pawel Iwanowitsch. Ich weiß, was man tun soll, doch ich kann es nicht tun; ich weiß auch, daß es eine Gemeinheit ist. Wie Sie sehen, ist meine Lage nicht besser als die Ihrige ...«

Pestel sah ihn so an, als ob er erst jetzt sein Gesicht entdecke.

»Ich bitte Sie, Pestel,« fuhr Golitzin fort, »beantworten Sie mir auch eine Frage. Warum haben Sie mir eben gesagt, daß Sie einen Verrat vorhaben? Sie wußten ja, daß ich es Ihnen nicht glauben werde. Warum haben Sie es gesagt? Oder wollten Sie mich nur auf die Probe stellen?«

»Nein, Golitzin, ich wollte mich selbst auf die Probe stellen.«

»Und was kam dabei heraus?«

»Sie haben recht: ich werde es niemals tun. Wollen Sie wissen, wie ich darauf gekommen bin?«

»Lassen Sie es lieber, Pestel. Sie können es mir ein anderes Mal sagen, jetzt wird es Ihnen zu schwer fallen ...«

»Sie glauben wohl, daß ich mich schäme? Nein, nicht im geringsten. Nach alldem, was Sie von mir wissen, brauche ich mich nicht mehr zu schämen ...«

Er schwieg eine Weile und sagte:

»Sie wissen doch, was Hamlet sagt: ›So macht Gewissen Feige aus uns allen.‹ Ich habe für meine Tapferkeit zwar einen goldenen Degen bekommen, doch ich bin feig. Nicht den Tod fürchte ich, sondern mein Gewissen. Wenn man etwas vollbringen will, muß man möglichst wenig denken. ›Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt‹; dies hat auch Hamlet gesagt; ich lese jetzt immer Hamlet. Ich kann aber ohne Gedanken nicht leben. Ich liebe den Gedanken um seiner selbst willen, den reinen Gedanken, ohne Ziel und Nutzen. Ich lebe nur in Gedanken, im Leben bin ich tot. Ich bin weder Verbrecher, noch Held; ich bin ein durchaus gewöhnlicher Mensch, ein braver, ehrlicher Deutscher. Ich liebe auch die Bücher. Ich lese viel, auch schreibe ich ab und zu. Zwölf Jahre lang habe ich an meiner ›Russischen Wahrheit‹ geschrieben, und könnte noch weitere zwölf Jahre daran schreiben. Ich mache wie Archimedes in der belagerten Stadt meine Berechnungen und sage mir: mag alles zugrunde gehen, nur meine Berechnungen müssen stimmen. Ich sage mir, wenn ich nicht denke: ›Ja, man muß den Zaren töten‹. Ich glaube sogar, daß ich ihn wirklich hasse. Wenn ich aber darüber nachdenke, so sage ich mir gleich: Wofür soll man ihn hassen? Wofür soll man ihn töten? Er ist ja ein gewöhnlicher Mensch wie wir alle; ein Durchschnittsmensch, der sich in einer verzweifelten Lage befindet. Dann fühle ich weder Haß, noch den Willen dazu. Und so geht es mir mit allen meinen Gefühlen. Ich habe überhaupt keine Gefühle, alles wird von der Vernunft beherrscht. Mein Kopf ist voller Gedanken, doch mein Herz ist wie eine hohle Nuß ...«

»Sie verleumden sich selbst, Pestel: Sie sind doch von einem großen Gefühl erfüllt ...«

»Welches Gefühl meinen Sie? Die Liebe zum Vaterlande? Ich habe ja auch selbst geglaubt, daß ich es liebe. Doch nein, ich liebe es nicht. Was ist denn überhaupt Liebe? Wenn ich einen so lieb gewinne, daß ich aus meinem eigenen ›Ich‹ heraustrete und im anderen aufgehe? Wenn ich es so anstelle, daß ich nicht mehr ›Ich‹ bin, sondern ›Er‹? Sie meinen doch so ein Kunststück? Oder den Glauben? Ein Wunder? Nach der Logik kann man weder glauben, noch lieben. Die Logik sagt, daß zweimal zwei vier ist; die Liebe ist aber ein Wunder und behauptet, daß zweimal zwei fünf ist. Im Evangelium heißt es: ›Liebet einander‹. Wie soll man es aber anstellen, wenn man keine Liebe im Herzen hat? Es ist genau so, als wenn man einem Ertrinkenden sagte, er solle sich selbst an den Haaren herausziehen. Es ist ein böser Scherz. Sie können mich totschlagen, ich weiß aber wirklich nicht, was Liebe ist. Und je mehr ich mich anstrenge, zu lieben, um so weniger liebe ich. Sagen Sie mir doch im Ernst, Golitzin, was soll man tun, wenn man nicht lieben kann? Soll man beten? Glauben Sie übrigens an Gott?«

»Ja.«

»An welchen Gott? Was ist Gott? Man sagt, Gott sei die Liebe. Bei uns in Linzn hat neulich ein Schwein einem zweijährigen Mädchen den Kopf abgenagt. Das Kind ist unschuldig, das Schwein ist unschuldig, und Gott soll trotz alledem die Liebe sein? Mein Freund Barjatinskij ist zwar ein schlechter Dichter, doch eines hat er viel besser, als Voltaire gesagt:

En voyant tant de mal couvrir le monde entier
Si Dieu même existait, il faudrait le nier.

Wissen Sie noch, was ich Ihnen in Petersburg gesagt habe: meine Vernunft weiß von Gott, doch mein Herz lehnt Ihn ab. Auch ohne Gott gibt es genug Leid. Ich sah in der Schlacht bei Leipzig die Qualen der Verwundeten: es überläuft mich kalt, noch wenn ich jetzt daran denke. Und doch hatte ein jeder von ihnen gewußt, daß auch kein einziges Haar gegen den Willen des himmlischen Vaters von seinem Haupte fallen werde. Nach der Einnahme von Leipzig fand ich in einer Apotheke Gift. Ich kaufte mir ein Fläschchen und trage es immer bei mir.«

Er holte aus einer Schublade ein Fläschchen hervor und zeigte es Golitzin.

»Dies Fläschchen enthält mehr Freiheit, als alle Republiken; es ist die Befreiung von allen Dingen und, was das Wichtigste ist, von uns selbst. Ich habe eben gesagt: entweder muß man die Verschwörung vernichten, oder den Zaren; es gibt aber noch einen dritten Ausweg: man kann auch sich selbst vernichten. Cicero sah im Selbstmord die größte Geistesstärke. Auch Voltaire sagt in ›Mérope‹:

Quand on a tout perdu, quand il n'y a plus d'espoir,
La vie est une honte et la mort un devoir.

Ja, ein würdiger Tod ist die höchste Pflicht. Glauben Sie auch an die Unsterblichkeit der Seele, Golitzin?«

»Ja.«

»Ich verstehe noch, daß man daran glauben kann, doch ich kann unmöglich begreifen, wie man sich diese Unsterblichkeit wünschen kann,« sagte Pestel fortfahrend. »Das Leben ermüdet uns so, daß man glauben sollte, der Tod genüge nicht, um davon auszuruhen. Der Tod ist wie eine Herberge, nach der man sich sehnt, wenn man an einem heißen Tage im Postwagen herumgeschüttelt wurde: es ist so schön, sich in ein sauberes Bett zu legen, sich zu strecken, tief Atem zu holen und sofort einzuschlafen ...«

Er schloß die Augen, stützte den Kopf in die Hände und preßte sich die Schläfen zusammen.

»Was wollte ich noch? Warten Sie, etwas sehr Wichtiges habe ich noch vergessen; ich vergesse immer alles. Meine Gedanken kommen wohl vor Fieber so durcheinander. Ich habe zwanzig Jahre lang geschwiegen und jetzt spreche ich auf einmal. Ich spreche zu Ihnen, Golitzin, weil Sie gut zuhören können. Das Zuhören ist sehr schwer, viel schwerer als das Sprechen; Sie können es aber gut. Wenn Sie einen so durch Ihre Brille anblicken, gleichen Sie einem Arzt oder einem gutmütigen lutherischen Pastor. Ich bin ja selbst lutherisch. In Dresden hatte ich einmal einen Lehrer; er hieß von Seidel, war ein gutmütiger alter Deutscher, Herrnhuter und großer Mystiker. Er trug eine Brille wie Sie und sah Ihnen auch sonst ähnlich. Er las meistens die Apokalypse und behauptete, darin alles zu verstehen. Er sang oft das Lied: ›Eine feste Burg ist unser Gott‹; er sang es so schön, daß mir jedesmal Tränen in die Augen traten ... Wissen Sie, Golitzin, wenn man Fieber hat, allein im Zimmer sitzt und immer in eine finstere Ecke blickt, kommt es einem vor, daß dort jemand steht. Man sieht genau, daß die Ecke leer ist, und doch kommt es einem so vor ... Dasselbe ist jetzt auch mit mir. Sie glauben, ich phantasiere? Nein. Man soll nicht in die Ecke schauen ... Ich habe dort auf dem Tisch ein Bild stehen. Es ist meine Schwester Sophie. Ein schönes Mädchen, nicht wahr? Ich sagte soeben, daß ich niemand liebe. Die Schwester liebe ich aber. Es ist doch nicht die richtige Liebe. Christus sagt: ›Wer ist meine Mutter? Und wer sind meine Brüder?‹ – Sagen Sie, übrigens, Golitzin, haben Sie in Tultschin Lunin kennen gelernt?«

»Ja.«

»Hat er Ihnen erzählt, daß ihm sein sterbender Vater in der Todesstunde erschienen sei? Das ist wohl Magnetismus. Vielleicht auch Scharlatanerie. Lunin will daran um jeden Preis glauben. Er zwingt sich, daran zu glauben, und doch ist sein Glaube nicht sehr groß ... Fieberkranke sehen Dinge, die es nicht gibt. Kant behauptet es auch von den Gesunden: die ganze Welt sei ein Gespenst. Wie gern möchte ich doch auch einmal ein Gespenst sehen, wenn auch ein ganz kleines Gespenstchen. Wenn man es sich durchaus wünscht und seinen Willen sehr anspannt, kann man vielleicht auch eines sehen. Ich spreche aber immer noch nicht von dem, was ich wollte ... Wissen Sie nicht, Golitzin, was hat Aristoteles zuerst geschrieben: die Politik oder die Metaphysik? Ich glaube, er sollte zuerst die Metaphysik schreiben. Eine feste Burg ist unser Gott. Beim heiligen Augustin ist die Politik der Gottesstaat. Bei mir ist sie ein Staat ohne Gott. Nach meiner ›Russischen Wahrheit‹ sind die Popen gewöhnliche Beamte. Vielleicht ist es doch nicht das Richtige? ... Ich bin zwar Deutscher und Lutheraner, doch ich liebe den orthodoxen Gottesdienst, den Weihrauch und die Gesänge. Wenn ich das Kiewer Kloster besuche, beneide ich immer die Mönche. O beata solititudo, sola beatitudo! Nach der Revolution gehe ich ins Kloster und werde Mönch. Im Ernst, so werde ich enden ... Es ist aber noch immer nicht das, was ich Ihnen sagen wollte ...«

Er hielt inne, rieb sich die Stirne, lächelte und verzog das Gesicht ebenso kindlich und hilflos, wie vorhin, als er das Chinin hinunterschluckte.

»Sie sollten sich doch hinlegen, Pestel, Sie sind krank,« sagte Fürst Valerian.

»Es macht nichts. Es ist nur ein leichtes Fieber. Die Gedanken kommen dabei allerdings etwas durcheinander, dafür sind sie aber viel klarer, wollen Sie Tee? ... Ach ja, endlich fällt es mir ein! Kennen Sie den Murawjowschen ›Katechismus‹?«

»Ja, ich kenne ihn.«

»Sonderbar. Murawjow glaubt, daß wir gegen den Zaren und mit dem Heiland sind. Der Zar glaubt aber, daß er gegen uns und gleichfalls mit dem Heiland ist. Mit wem ist nun der Heiland? Oder mit wem ist er nicht? ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt?‹ Und wie ist es dann mit dem Gottesstaate? Hier stimmt etwas nicht. Dann ist vielleicht meine Auffassung besser: die Popen sind Beamte, die Politik ist der Menschenstaat und fertig ... Ich glaube, Murawjow will seinen Katechismus im Volke verbreiten. Er ist um das Volk, um die Geringen besorgt, was ist das Volk? Ich glaube, daß das Volk immer das Gesicht haben wird, das seine Führer gerade haben wollen. Sie werden mir daraus sagen, ich sei ein schlechter Demokrat? Ja, solche Dinge soll man nicht laut sagen ... was glauben Sie, Golitzin, ist Murawjow imstande, zu töten?«

»Ich glaube ja.«

»Merkwürdig! Er liebt alle, er liebt seine Feinde, er kann keiner Fliege etwas zuleide tun, und doch ist er imstande zu töten. Er wird aus Liebe töten. Napoleon sagte: ›Ein Mann wie ich, spuckt auf das leben einer Million Menschen!‹ Das ist begreiflich und einfach, viel zu einfach, beinahe dumm. Man sagt, daß ich gerne den Napoleon spielen will. Ich würde aber nie so sprechen, und wenn ich es auch gesagt hätte, ich würde nie damit prahlen. Auch dies ist begreiflich. Doch ein Mord aus Liebe? Seine Seele verlieren, um sie zu erhalten, nicht wahr? ... Können Sie deutsch lesen?«

»Ja, Pestel, doch wozu dies alles? ...«

»Nein, nein, hören Sie nur zu ...«

Auf dem Tische lag eine große alte Lutherbibel in Ledereinband mit Messingschließen. Pestel schlug sie auf.

»Ich lese jetzt immer die Bibel; Shakespeare und die Bibel. Man sagt, daß einer, der die ganze Bibel durchliest, verrückt werden muß. Vielleicht werde ich auch davon verrückt. Hören Sie: ›Kannst du den Leviathan ziehen mit dem Hamen? Kannst du ihm einen Angel in die Nase legen, und mit einem Stachel ihm die Backen durchbohren? Seine stolzen Schuppen sind wie feste Schilde, fest und enge ineinander. Auf seinem Halse wohnt die Stärke, und vor ihm her hüpft die Angst. Er achtet Eisen wie Stroh, und Erz wie faul Holz. Auf Erden ist ihm niemand zu gleichen. Er ist ein König über alles stolze Wild.‹ – Der Leviathan war auch in Napoleon, als er sagte: ›Ich spucke auf das Leben einer Million‹, und im Schwein, als es dem Kinde den Kopf abnagte. Dies ist also das Ziel der Wege Gottes? Da kann man wirklich verrückt werden! Der englische Philosoph Hobbes nannte seinen Staat – Leviathan, und der heilige Augustin nannte den seinigen – Gottesstaat. Mein Lehrer, Herr von Seidel, glaubte aber, daß der Leviathan das Tier der Apokalypse sei. Man kann wirklich nicht klug werden, wo Gott und wo das Tier ist. Alles geht durcheinander. Daraus kann man wohl auch ableiten, daß man im Namen Gottes und aus Liebe töten kann, nicht wahr? ...«

»Nein, Pestel, es ist doch nicht so. Warum lachen Sie darüber? Warum quälen Sie sich?«

»Ich lache gar nicht, Golitzin, ich quäle mich nur; oder jemand quält mich, tötet mich aus Liebe ... Ich werde wohl die Hauptsache nicht verstehen. Murawjow hat einmal von mir gesagt: ›Es gibt Dinge, die man nur mit dem Herzen begreifen kann und die selbst für den schärfsten Verstand ein ewiges Rätsel bleiben müssen.‹ Ich verstehe nichts mit dem Herzen. Mit dem Herzen bin ich dumm. Sagen Sie es ihm, wenn Sie ihn sehen ... Er liebt mich übrigens nicht ...«

»Er liebt Sie nicht, weil er Sie nicht kennt,« entgegnete Golitzin.

»Kennen Sie mich?«

»Ja, jetzt kenne ich Sie.«

Golitzin lächelte. Auch Pestel lächelte; dies Lächeln ließ sein Gesicht plötzlich jünger und schöner erscheinen: es war, als ob eine tote Maske von einem lebendigen Gesicht herabgefallen wäre. Jetzt hatte er große Ähnlichkeit mit dem sechzehnjährigen Mädchen, dessen Bildnis auf seinem Tische stand.

»Sie kennen sich selbst nicht, Pestel,« fuhr Golitzin fort. »Sie sind Murawjow sehr ähnlich und zugleich sehr unähnlich.«

»Ich könnte also auch aus Liebe töten?«

»Nein, Sie könnten es nicht. Sie töten nur sich selbst. Dies ist ja übrigens ganz gleich. Sie verlieren ja auch Ihre Seele, Sie haben sie beinahe schon verloren, um sie zu erhalten ... hören Sie:«

Fürst Valerian schlug das Evangelium Johannis auf und las:

»Ein Weib, wenn sie gebieret, so hat sie Traurigkeit; denn ihre Stunde ist kommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denket sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, daß der Mensch zur Welt geboren ist. Und ihr habt auch nun Traurigkeit; aber euer Herz soll sich freuen ...«

Pestel hörte schweigend und lächelnd zu; er war aber so blaß geworden, daß Golitzin fürchtete, er werde in Ohnmacht fallen.

»Nun wollen wir schlafen gehen, Pawel Iwanowitsch. Ich muß morgen sehr früh abreisen.«

Golitzin rief den Burschen und sagte ihm, daß man beim Sonnenaufgang einspannen solle.

»Wo reisen Sie hin?« fragte Pestel.

»Ins Leschtschiner Lager bei Schitomir. Dort finden Verhandlungen der Wassilkower Sektion mit der Gesellschaft der Vereinigten Slawen statt.«

»Worüber wollen sie verhandeln?«

»Sie wollen entscheiden, wann man anfangen soll.«

»Glauben Sie, daß sie auch anfangen werden?«

»Ja, ich glaube es.«

»Wie zweimal zwei fünf ist?«

»Ich weiß nicht,« entgegnete Golitzin. »Sie sagen ja selbst, daß man nicht zu viel nachdenken soll, wenn man etwas tun will.«

»Und wenn sie anfangen, werden Sie mittun?« fragte Pestel.

»Gewiß,« erwiderte Golitzin.

»Sagen Sie ihnen, sie mögen nur anfangen; wir werden nicht zurückbleiben, vom Leschtschiner Lager kommen Sie aber wieder zu mir; ich möchte Sie gerne wiedersehen.«

»Wenn es geht, werde ich kommen.«

»Nein, Sie müssen es mir versprechen.«

»Gut, Pestel, mein Wort darauf.«

»Danke, danke für alles! Gute Nacht, Golitzin.«

Pestel legte sich auf das Sofa im Arbeitszimmer und trat dem Gast sein eigenes Bett ab. Wie sehr sich auch Golitzin dagegen wehrte, wie sehr er ihn zu überzeugen suchte, daß er, der Kranke, mehr der Ruhe bedürfe, Pestel setzte doch seinen Willen durch.

Über dem Bett hing der goldene Degen, mit dem Pestel für seine Tapferkeit bei Borodino ausgezeichnet worden war. Im Schlafzimmer stand auch ein eisenbeschlagener Koffer mit großem Vorhängeschloß. Golitzin schien es, daß dieser Koffer die »Russische Wahrheit« enthalte. Am Kopfende des Bettes hing ein Kruzifix und ein zweites kleineres Bild der Schwester; auf diesem Bilde war Sophie jünger, etwa zwölfjährig, und hatte ein kindliches Gesicht mit aufgeworfenen Lippen und großen schwarzen Augen, die wie bei Pestel etwas hervorstanden und schwer und gar nicht kindlich blickten. Auf dem Bilde stand eine französische Widmung, schulmäßig hingeschrieben: »Meinem lieben Pawel. – Wassiljewskoje, den 13. Juli 1819.«

Auf dem Nachttischchen lag ein Evangelium in Kirchenslawisch mit einer Widmung des Vaters. Zwischen den Blättern lagen trockene Blumen; auf der ersten vergilbten Seite stand mit Pestels Handschrift geschrieben: »Heute, an meinem Geburtstage, d. 2. Mai 1824, hat mir Sophie ein Kreuzchen und Mütterchen einen Ring zum Andenken geschenkt. Von diesen beiden Gegenständen werde ich mich nie trennen, ich werde sie bis zu meinem letzten Atemzuge bei mir tragen, als das Wertvollste von allem, was ich habe. Sophie war mit mir, als ich verwundet auf dem Schlachtfelde lag und auf den Tod wartete. Ich weiß, daß sie auch in meiner letzten Stunde mit mir sein wird.«

Die einzige Türe verband das Schlafzimmer mit dem Arbeitszimmer. Um fünf Uhr früh kam der Bursche Ssawenko zu Golitzin barfuß, auf den Zehenspitzen geschlichen, brachte ihm ein Glas Tee, weckte ihn, indem er leise seine Schulter berührte, und meldete, daß der Wagen vor dem Hause warte. Während sich Golitzin ankleidete, erzählte er ihm flüsternd, daß der Herr Oberstleutnant ihm befohlen habe, ihn heute früh zu wecken, denn er wolle sich noch von dem Fürsten verabschieden; er, Ssawenko, bringe es aber nicht übers Herz: es sei die erste Nacht, daß der Herr Oberstleutnant gut schlafe; bisher habe er viele Nächte nicht geschlafen. Er teilte auch Golitzin seine Befürchtungen über die »Spigone« und den Hauptmann Maiboroda mit. Offenbar war er seinem Herrn sehr zugetan.

Der Bursche trug das Gepäck hinaus. Golitzin mußte durchs Arbeitszimmer und bemühte sich, ebenso unhörbar aufzutreten, wie vorhin Ssawenko. Pestel schlief auf dem Sofa. Golitzin blieb im Vorbeigehen stehen und blickte ihm ins Gesicht. Im trüben Morgenlichte erschien es leichenblaß; die feinen Brauen zuckten ab und zu – er schien auch im Schlafe zu denken.

Golitzin beugte sich über ihn und küßte ihn leise auf die Stirne. Die Augenlider des Schlafenden zuckten. Golitzin glaubte, daß er erwachen würde; doch nein: er lächelte nur, ohne die Augen zu öffnen, und bei diesem Lächeln erschien sein Gesicht wieder jünger und schöner. Vielleicht träumte er wie damals, auf dem Schlachtfelde von Borodino, daß Sophie mit ihm sei.

Fürst Valerian fühlte, daß auch seine Sophie mit ihm sei.


 << zurück weiter >>