Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V.

»Väterchen, Majestät! Ich melde alleruntertänigst Euerer Kaiserlichen Majestät, daß der von mir abkommandierte Feldjäger-Offizier Lang den Unteroffizier Sherwood vom 3. Ukraineschen Regiment des Grafen Witt hergebracht hat; dieser Sherwood erklärte mir, daß er Euerer Kaiserlichen Majestät etwas zu melden habe, was nicht die militärischen Siedlungen, sondern die Armee betrifft; er soll etwas von einer Verschwörung wissen und will es niemand anderm als Euerer Majestät persönlich anvertrauen. Ich habe ihn nicht weiter ausgefragt, da er mir nichts sagen wollte und da die Sache die militärischen Siedlungen nicht betrifft. Daher schickte ich ihn nach Sankt Petersburg zum Generalstabschef Generalmajor Kleinmichel, den ich beauftragte, ihn so lange in seinem Hause unter strenger Aufsicht zu beherbergen, bis Eure Majestät geruhen werden, ihn vorzulassen. Ich habe Lang befohlen, den Unteroffizier Sherwood beim Passieren der Stadtgrenze nicht anzumelden. Dies alles melde ich alleruntertänigst Euerer Kaiserlichen Majestät.

Euerer Kaiserlichen Majestät treu ergebener

Graf Araktschejew.«

 

Diesen Brief aus Grusino erhielt der Kaiser Mitte Juli, als er auf der Kamennyj-Insel weilte. Sherwood hatte ihm schon früher ohne Vermittlung Araktschejews durch den Leibarzt Wyllié geschrieben und den Wunsch geäußert, in einer wichtigen, den Kaiser persönlich betreffenden Sache nach Petersburg gebracht zu werden.

Der Kaiser wußte, daß Sherwood ein Geheimagent des Generals Witt, des Oberbefehlshabers der südlichen militärischen Siedlungen war; dieser bekam noch vor etwa fünf Jahren den Auftrag, die Südarmee durch Geheimagenten beobachten zu lassen und alles dem Kaiser zu melden.

Über General Witt wurde mancherlei gemunkelt.

»Witt ist eine Canaille, wie es keine zweite gibt; er ist, was man französisch ›Galgenvogel‹ ( gibier de potence) nennt,« pflegte Großfürst Konstantin Pawlowitsch zu sagen.

Man erzählte sich, daß er über mehrere Millionen Staatsgelder keine Rechenschaft geben könne und daß er bereit sei, seine Seele dem Teufel zu verschreiben, um sich aus dieser Affäre zu ziehen. Mit der Geheimen Gesellschaft treibe er ein Doppelspiel: er schicke immerfort Anzeigen nach Petersburg und sei dabei selbst der Gesellschaft als Mitglied beigetreten; er übe Verrat nach beiden Seiten: wie gegen die Regierung so auch gegen die Verschwörer; je nachdem, wer die Oberhand behält.

Dem Kaiser schien es zuweilen, daß Denunzianten gefährlicher als Verschwörer seien.

»Sie wissen, Majestät, daß ich ein Gegner aller Denunziationen bin, da doch jeder Schuft einen ehrlichen Menschen verleumden und ins Verberben stürzen kann.« Diese Worte Konstantins fielen ihm jetzt wieder ein.

Er war immer sehr eigen; die Großmutter nannte ihn »Reinlichkeitsenthusiast«; er glich dem Hermelin, welcher vorzieht, sich dem Jäger zu ergeben, als sein weißes Kleid, das Kleid der Könige, zu beschmutzen.

Erst neulich hatte er eine Anzeige des Hauptmanns Maiboroda in den Ofen geworfen und dabei gesagt:

»Der Schuft! Er will durch Kriechereien emporsteigen.«

Und doch beschloß er, Sherwood zu empfangen: die Neugier des Grauens war in ihm stärker als das Gefühl des Ekels.

Der Empfang sollte am 17. Juli um fünf Uhr nachmittags im Palais auf der Kamennyj-Insel stattfinden.

Das Palais glich einem gewöhnlichen Petersburger Landhause. Einige mit Treibhauspflanzen geschmückte Stufen führten vom Balkon in den Garten. Im Frühjahr konnten die Sommerfrischler, die auf der Kleinen Newa in Nachen spazieren fuhren, beobachten, wie der Kaiser im Garten auf und ab ging und sich den Duft des Flieders mit einem weißen Taschentuch zufächelte. Außer dem Posten im Schilderhäuschen am Tore gab es keinerlei Wache. Den Garten durfte jedermann passieren, und selbst Bauern konnten direkt an den Fenstern vorbeigehen.

Der Tag war schwül. Kurz vorher war ein Regen niedergegangen, und die Luft war mit Feuchtigkeit geschwängert. Der Nebel lag wie weiße Watte. Die Dächer glänzten, von den Bäumen tropfte es, und alles schien zu schwitzen wie ein Fieberkranker unter einem Federbett. Irgendwo, wahrscheinlich jenseits der Apothekerinsel, spielte jemand trübsinnige Tonleitern; die Töne klangen auf dem Wasserspiegel wie aus weiter Ferne. Ein einsamer Vogel gab immer die gleichen Töne von sich; er schien zu weinen. Alles atmete jene Trauer, die man nur in den Sommerfrischen um Petersburg im Spätsommer, wenn man im müden, dunklen, schwarzen Laub das Nahen des Herbstes ahnt, kennen lernen kann.

Um fünf Uhr meldete man dem Kaiser, daß General Kleinmichel mit Sherwood erschienen sei. Der Kaiser speiste zu Mittag. Er ließ die beiden warten und bewahrte bis zum Ende der Tafel einen so ruhigen Ausdruck, daß niemand etwas merkte. Nach der Mahlzeit erhob er sich, ging ins Audienzzimmer, begrüßte Kleinmichel und befahl Sherwood, den er gar nicht anblickte, ihm ins Arbeitszimmer zu folgen. Kleinmichel blieb allein im Nebenzimmer zurück.

Der Kaiser sperrte die Türe des Arbeitszimmers ab und schloß das Fenster, das in den Garten ging; draußen hörte man noch immer die Tonleiter und den klagenden Vogel. Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm Bleistift und Papier und begann, ohne Sherwood anzublicken, ein aus Stäbchen, Kreuzchen und Kringel bestehendes Muster zu zeichnen. Sherwood stand vor ihm stramm, die Hände an der Hosennaht.

»Bist du der Sohn jenes Sherwood, der in Moskau bei der Alexander-Fabrik angestellt ist und den ich kenne?«

»Zu Befehl, Majestät.«

»Bist du kein Russe?«

»Zu Befehl, nein. Ich bin Engländer.«

»Wo bist du geboren?«

»In Kent bei London.«

»In welchem Alter bist du nach Rußland gekommen?«

»Als zweijähriges Kind, mit meinem Vater. Mein Vater, den der hochselige Kaiser Paul im Jahre 1800 nach Rußland kommen ließ, war der Gründer der ersten russischen Tuchfabrik.«

»Sprechen Sie englisch?«

»Zu Befehl, Majestät.«

Die Frage wurde englisch gestellt und von Sherwood englisch beantwortet. Ich glaube, er lügt nicht, dachte der Kaiser.

»Was wolltest du mir also sagen?«

»Ich glaube, Majestät, daß es eine gegen den Frieden Rußlands und gegen Euere Kaiserliche Majestät gerichtete Verschwörung gibt.«

»Warum glaubst du es?«

Er hob die Augen vom Papier, auf dem er kritzelte, und blickte Sherwood zum erstenmal an.

Es war an ihm nichts Besonderes; das Gesicht war durchaus nichtssagend und unbedeutend, »ohne besondere Kennzeichen«, wie es in den Pässen heißt.

Sherwood berichtete von einem Gespräch zwischen zwei Mitgliedern des Südbundes der Geheimen Gesellschaft, dem Leutnant Graf Bulgari und dem Fähnrich Wadkowskij, das er an der Türe einer fremden Wohnung zu Achtyrka im Poltawschen Gouvernement belauscht hatte. Wadkowskij schlug die Verfassung vor. Bulgari spottete: »Eine Verfassung für die russischen Bären? Du bist wohl verrückt! Du hast wohl eines vergessen: – was soll man mit ihnen anfangen?« Wadkowskij antwortete: »Was man mit ihnen anfangen soll? ...«

Sherwood stockte.

»Verzeihung, Majestät ... ich kann es gar nicht wiedergeben ...«

»Es macht nichts, sage alles!« Der Kaiser blickte ihn wieder an. Sein blasses Gesicht war feucht vor Schweiß und leblos wie eine Totenmaske aus Gips. Das linke Auge schien ihm zuzuwinken; es war wohl ein Krampf. Es war abstoßend. »So ein Ekel!« sagte sich der Kaiser; er mußte sich selbst über dieses plötzliche Ekelgefühl wundern: »Es ist nur, weil ich weiß, daß ich einen Denunzianten vor mir habe.«

Er schlug die Augen nieder und begann wieder seine Kreuzchen, Stäbchen und Kringel zu kritzeln.

»Was man mit ihnen anfangen soll?« fuhr Sherwood fort, »man soll sie alle einfach abschlachten!«

Der Kaiser zuckte die Achsel.

»Und weiter?«

Aus irgendeinem Grunde war er davon überzeugt, daß das Wort »abschlachten« nicht ausgesprochen worden war.

»Als wir allein blieben, ging Wadkowskij auf mich zu und sagte mir mit etwas verändertem Gesichtsausdruck: ›Herr Sherwood, werden Sie mein Freund. Ich werde Ihnen ein wichtiges Geheimnis anvertrauen.‹ – ›Was Geheimnisse betrifft,‹ sagte ich zu ihm, ›so bitte ich Sie abzuwarten: ich liebe keinerlei Geheimnisse.‹ – Er sagte darauf: ›Nein, unsere Gesellschaft kann ohne Sie nicht bestehen.‹ Ich darauf: ›Hier ist nicht der richtige Ort dafür; ich gebe Ihnen aber mein Ehrenwort, daß ich Sie in Ihrer Garnison besuchen werde.‹«

Er berichtete noch von einem Gespräch, das er nachts auf der Poststation Bogoduchowo mit einer durchreisenden Dame, die wohl seine Geliebte war, gehabt hatte: »Schwören Sie mir,« sagte die Dame, »daß niemand in der Welt erfahren wird, was ich Ihnen jetzt eröffne.« Er schwur es ihr und sie sagte: »Ich reise zu meinem Bruder; ich bin sehr besorgt um ihn: sie haben irgendeine Verschwörung gegen den Kaiser angezettelt, ich liebe ihn aber über alles, wir haben noch nie so einen Kaiser gehabt ...«

»Wer war die Dame?« fragte der Kaiser.

»Majestät, ich ging immer den rechten Weg, war immer meinem Eide treu und bin bereit, mein Leben zu lassen, um das Böse aufzudecken; doch flehe ich Euere Majestät an, mich nicht nach dem Namen zu fragen: ich habe geschworen ...«

– Auch ein Ritter! – sagte sich der Kaiser; es ekelte ihn, wie vor einem schlechten Geruch, und es kostete ihm Mühe, sich zu beherrschen.

»Ist es alles, was du weißt?« sagte er, während er statt des Kreuzchenmusters mehrere Mal hintereinander die Worte schrieb: Canaille, Canaille, Canaille, gibier de potence ...

»Zu Befehl, Majestät, das ist alles, was ich zuverlässig weiß; von den Gerüchten und Mutmaßungen wage ich nicht zu sprechen ...«

»Erzähle mir alles,« sagte der Kaiser, indem er seinen Bleistift zerbrach und die Stücke unter den Tisch warf. Er fühlte, daß er mit jeder neuen Frage immer tiefer und tiefer in den Sumpf geriet; er konnte aber nicht mehr innehalten; wie in einem bösen Traum tat er lauter Dinge, die er nicht tun wollte.

»Glaubst du, daß die Verschwörung weit verzweigt ist?«

»Nach der Stimmung und den Gesprächen, die man allgemein, besonders aber in der 2. Armee hört, zu urteilen, muß die Verschwörung außerordentlich weit verzweigt sein. In den Regimentern haben sie großen Einfluß ...«

»Was wollen sie denn eigentlich? Haben sie es denn schlecht?«

»Die Hunde haben es zu gut, Majestät.«

– Er ist einfach dumm! – sagte sich der Kaiser mit plötzlicher Erleichterung. Er fuhr aber fort zu fragen:

»Glaubst du, daß auch höherstehende Personen mit im Spiele sind?«

Sherwood schwieg eine Weile und schielte nach der Türe: er hatte bemerkt, daß der Kaiser schwerhörig war, doch er traute sich nicht, lauter zu sprechen.

»Komm, setz dich her,« sagte der Kaiser zu ihm, auf einen Stuhl an seiner Seite weisend: er tat wieder etwas, was er nicht tun wollte.

Sherwood setzte sich und begann zu flüstern. Der Kaiser hörte ihm zu, das rechte Ohr zu ihm geneigt, und gab sich Mühe, nicht mit der Nase zu atmen: es schien ihm, daß Sherwood entsetzlich nach Fußschweiß roch, und vor diesem Geruch wurde es ihm übel. »Warum schwitzt er so? Vielleicht aus Angst?« fragte er sich angeekelt.

Sherwood sprach vom zweifelhaften Benehmen des Generals Witt, der nicht alles, was er wisse, berichte, und des Generals Kisseljow, bei dem sich der Hauptverschwörer Pestel beständig aufhalte; von der Unzuverlässigkeit fast aller Minister und selbst Araktschejews.

»In den militärischen Siedlungen bekommen die Leute Waffen in die Hand, doch nichts zu essen: bei den obwaltenden Umständen ist dies höchst bedenklich ...«

– Nein, er ist gar nicht so dumm; er weiß viel und sagt weniger, als er weiß, – sagte sich jetzt der Kaiser.

»Ich meine,« schloß Sherwood, »daß diese Gesellschaft eine Fortsetzung des europäischen Verbandes der Carbonari ist. Viele hochstehende Personen sind an der Sache beteiligt; auch die ganze Armee ist auf Seite der Verschwörer. Nicht nur das Leben Euerer Kaiserlichen Majestät, sondern auch das aller Mitglieder der kaiserlichen Familie ist in höchster Gefahr. Diese Gefahr steht vor der Türe. Es wird ein Blutvergießen kommen, wie es in der Weltgeschichte kein ähnliches gab. Sie wollen doch alle ...«

– Alle abschlachten, – verstand der Kaiser.

»Sie tragen alle Ringe mit der Zahl 71.«

»Was soll dies bedeuten?«

»Wollen Majestät addieren: Januar – 31 Tage, Februar – 29, März – 11; das macht zusammen 71. Der 11. März 1801 und der 11. März 1826: es sind genau fünfundzwanzig Jahre seit dem Tode Ihres hochseligen Vaters, des Kaisers Paul I.,« sagte er, mit den Augen zwinkernd. »Das Attentat gegen Euere Kaiserliche Majestät soll am gleichen Tage stattfinden ...«

– Der 11. März für den 11. März, Blut für Blut ... – Der Kaiser verstand wieder die Anspielung. Er erbleichte, wollte aufspringen und aufschreien: »Hinaus, du Schuft!« Er hatte aber nicht die Kraft und fühlte, daß sich seine Eingeweide vor gemeiner Furcht umdrehten und kalt wurden; genau so wie nach der Schlacht bei Austerlitz, als er in einer leeren Bauernhütte auf Stroh lag und entsetzliche Leibschmerzen hatte.

Die Augen Sherwoods strahlten vor Freude: »Er hat angebissen! Er hat angebissen!«

Nun hatte er dem Kaiser genug Angst eingejagt und wollte ihn etwas trösten.

»Die von einem verschwindend kleinen Teil der Untertanen Euerer Kaiserlichen Majestät hervorgerufene Verseuchung der Geister drückt in keiner Weise die Gefühle des in seiner Treue unwankbaren Volkes aus. Es ist zwar viel Zeit verloren worden, wenn man aber entsprechend rasche Maßregeln ergreift, kann man noch alles retten. Man muß aber dabei so verfahren, wie es in der Fabel von Krylow heißt: ›Willst du mit Wölfen Frieden schließen, zieh ihnen erst die Felle ab.‹« Er sagte dies so ungezwungen und mit einem so gemeinen Gesichtsausdruck, daß der Kaiser plötzlich ein Gespenst und keinen Menschen vor sich zu haben glaubte; war es vielleicht sein eigener teuflischer Doppelgänger, der alles Lächerliche und Schreckliche, was in ihm steckte, verkörperte?

»Es ist gut. Geh. Von Kleinmichel wirst du das Weitere hören. Geh also! ...« sagte er mit großer Selbstüberwindung. Er erhob sich und streckte den Arm aus, als ob er Sherwood von sich stoßen wollte; dieser neigte sich aber schnell vor und küßte ihm die Hand.

Als Sherwood gegangen war, machte der Kaiser das Fenster und die Balkontüre weit auf: es schien ihm, daß es im Zimmer schlecht rieche. Er ging in den Garten hinaus, doch glaubte er im warmen Nebel den gleichen üblen Geruch von Fußschweiß zu spüren; von den nassen, gleichsam schweißigen Blättern tropfte es. Lange Zeit stand er allein in der leeren Allee, den Kopf an einen Baumstamm gelehnt. Er spürte ein tödliches Ekelgefühl. Es war ihm, als ob er selbst den üblen Geruch verbreitete.

Am nächsten Tag zog er aus dem bisherigen Arbeitszimmer in ein anderes, im oberen Stock gelegenes Zimmer; er tat dies unter dem Vorwande, daß es ihm unten zu feucht sei; in der Tat war es ihm aber unangenehm, die Schritte der Passanten dicht vor den Fenstern zu hören.

Am gleichen Tage bemerkte er Wachtposten an solchen Stellen, wo früher keine standen, und ein neues weißes Gitter, das den Gartenweg vor dem Palais absperrte. Dibitsch hatte es wohl so angeordnet, der Kaiser hatte nichts befohlen.

Eine alte Anekdote fiel ihm ein: eine alte Bäuerin, die ihn bei einem seiner einsamen Spaziergänge in den Straßen von Dresden sah, sagte: »Da geht der russische Zar ganz allein und fürchtet niemand; er hat wohl ein gutes Gewissen!« Nun hatte er das weiße Gitter ...

Einmal kam der diensthabende Offizier nachts in großer Angst zu ihm hereingestürzt und meldete:

»Es ist ein Unglück geschehen, Majestät!«

»Was ist los?«

»Es ist nicht meine Schuld, Majestät, Gott ist mein Zeuge ...«

»Was ist denn los? Erzähle!«

»Die Orange ... Die Orange ...« stammelte der Offizier ganz atemlos.

»Was für eine Orange? Was hast du?«

»Majestät, die unter Bewachung gestellte Orange ist abgefallen!«

Auf dem Quai vor dem Schlosse standen in Kübeln einige Orangenbäume; als die Früchte zu reifen begannen, wurde ein eigener Posten mit ihrer Bewachung betraut. Eine Orange war reif geworden und fiel ab. Der Wachtposten meldete es dem Gefreiten, der Gefreite dem Wachthabenden, der Wachthabende dem diensthabenden Offizier, und dieser meldete es dem Kaiser.

»Mach, daß du hinauskommst, Dummkopf!« schrie ihn der Kaiser wütend an. Später ließ er ihn wieder kommen und fragte ihn nach seinem Namen. Der Offizier hieß Skarjatin.

Ein Skarjatin war auch unter den Mördern vom 11. März. Selbstredend war es nicht derselbe. Der Kaiser befahl aber, daß dieser nie wieder zum Wachdienste verwendet werden sollte.

Bald darauf zog er nach Zarskoje Ssjelo. Vielleicht fühlte er sich dort sicherer? Er wollte darüber nicht nachdenken. Er spazierte nach wie vor im Parke ohne jede Begleitung, selbst nachts, als ob er sich selbst den Beweis liefern wolle, daß er nichts fürchte.

An einem regnerischen Abend Mitte August ging er allein von den Kaskaden zu der Pyramide, wo die Lieblingshunde der Kaiserin-Großmutter: Tom Andersen, Zemira und Duchesse begraben waren. Es dunkelte. Am Himmel hingen die Wolken niedrig, es roch nach Regen, und es war so still wie vor einem Gewitter; die Baumgipfel bewegten sich ab und zu von plötzlichen Windstößen; sie rauschten dumpf und traurig, ganz wie im Herbste; dann wurden sie plötzlich wieder still, als ob sie ein geheimnisvolles Gespräch beendet hätten. Die englische Hündin des Kaisers, Peddy, lief voraus. Plötzlich blieb sie stehen und begann zu knurren. Am Fuße der Pyramide lag jemand im Grase; das Gesicht war nicht zu sehen, der Unbekannte schien es zu verbergen. Der Kaiser blieb gleichfalls stehen, und plötzlich fühlte er heftiges Herzklopfen, Stechen in den Schläfen und einen Schüttelfrost am ganzen Körper: es schien ihm, daß der im Grase Liegende sich langsam bewegte, aufstehen wollte und etwas in der Hand hielt. Peddy bellte. Der Liegende sprang auf. Der Kaiser lief zu ihm heran.

»Was tust du hier?« rief er mit einer Stimme, die ihm selbst häßlich und voll gemeiner Furcht erschien, und streckte die Hand aus, um den Mörder zu ergreifen.

»Ich bitte um Verzeihung, Majestät,« antwortete eine bekannte Stimme.

»Bist du es, Dmitrij Klementjewitsch? Wie ...«

Er wollte sagen: Wie hast du mich erschreckt!

»Wie bist du hergeraten? Was machst du hier?«

»Ich schreibe mir die Inschrift vom Grabsteine des Hündchens Zemira ab,« antwortete der Leibchirurg Dmitrij Klementjewitsch Tarassow.

Er hielt in der Hand keinen Dolch, sondern ein Federmesser, mit dem er seinen Bleistift gespitzt hatte. Vom Grabsteine Zemiras schrieb er die französischen Verse des Grafen Segur ab:

»Hier ruht Zemira, und die betrübten Grazien sollen auf ihren Grabstein Blumen schütten. Die Götter mögen ihr für ihre treuen Dienste Unsterblichkeit verleihen.«

»Weißt du, Tarassow, ich habe geglaubt, daß sich irgendein angetrunkener Offizier in meinem Garten hingelegt hat, um auszuschlafen,« sagte er lächelnd und fühlte plötzlich, daß er über und über rot wurde. »Schreibe nur weiter. Ist es hier nicht zu finster?«

»Es macht nichts, Majestät, ich habe gute Augen.«

Der Kaiser pfiff seinem Hund und ging weiter. Tarassow blickte ihm lange erstaunt nach.

Auch der Kaiser war erstaunt. Er war nie feige gewesen. Als in der Schlacht bei Leipzig eine Kanonenkugel über seinem Kopfe vorbeiflog, sagte er lächelnd: »Seht nur, gleich kommt eine zweite!« Als in der gleichen Schlacht alle die Sache für verloren hielten und Napoleon sagte: »Die Erde dreht sich wieder für uns!«, war Alexander, »der Agamemnon des großen Streites«, der einzige, der die Geistesgegenwart bewahrte.

Was hatte er jetzt? Er fragte sich mit stillem Grauen: »Verliere ich vielleicht den Verstand?«

Im Schlosse zu Pawlosk gab es neben dem Schlafzimmer der Kaiserin-Mutter ein versperrtes Zimmer. Niemand betrat es außer der Kaiserin selbst und dem Kammerfourier Ssergej Iwanowitsch Krylow, einem vor Alter halb blödsinnigen Greis; er trug eine rote Maltheseruniform aus der Zeit Pauls I.; seine Augen waren unbeweglich, und man glaubte in seinen Pupillen das Geschehene lesen zu können, wie auch die Pupillen eines Toten zuweilen das, was sie im letzten Augenblick des Lebens sahen, wiederspiegeln. So oft er dem Kaiser begegnete, verbeugte er sich aus der Ferne und zog sich eilig zurück; er schien ihn zu fliehen.

Die versperrte Türe erregte immer die Neugierde des kleinen Sascha, des Sohnes des Großfürsten Nikolaj Pawlowitsch, eines siebenjährigen Jungen mit blassem hübschen Gesicht: sie erschien ihm ebenso geheimnisvoll, wie jene schreckliche Türe, von der er im Märchen vom Ritter Blaubart gelesen hatte. Er hatte immer den Wunsch, wenigstens durch eine Türspalte hineinblicken zu dürfen um zu erfahren, was das geheimnisvolle Zimmer enthielt. Einmal träumte er davon, daß er das Zimmer betreten und etwas Grauenhaftes erblickt hätte; er erwachte mit einem Schrei des Entsetzens, doch er konnte sich später nicht mehr besinnen, was er gesehen hatte.

Ende August, einige Tage vor seiner Abreise nach Taganrog, kam der Kaiser nach Pawlowsk zur Kaiserin-Mutter; er traf sie nicht an und begab sich in ihr Arbeitszimmer, wo Sascha und die alte Staatsdame Fürstin Lieven an einem runden Tische vor dem Fenster mit Bleisoldaten spielten. Der Kaiser setzte sich zu ihnen heran und spielte mit; er schoß so gut aus den kleinen, mit Erbsen geladenen Kanonen, daß Sascha vor Freude schrie und mit den Händen klatschte.

Durch die offene Tür sah man die lange Zimmerreihe. Im letzten Zimmer, im Schlafzimmer der Kaiserin, huschte plötzlich die rote Maltheseruniform vorbei. Der Kammerfourier Ssergej Iwanowitsch Krylow stand vor der versperrten Türe. Der Kaiser bemerkte ihn und ging auf ihn zu.

Im Nebenzimmer erklang die Stimme der Kaiserin-Mutter. Fürstin Lieven eilte zu ihr. Sascha, der allein zurückblieb, ließ seine Soldaten liegen und verfolgte voller Neugier, was sich vor der versperrten Türe abspielte.

Als Krylow den Kaiser gewahrte, verbeugte er sich aus der Ferne und wollte wie immer davonlaufen. Der Kaiser rief ihn aber herbei und sagte zu ihm:

»Gib den Schlüssel her.«

Der Greis starrte ihn an, als ob er ihn nicht verstanden hätte, und murmelte etwas vor sich hin; man konnte nur verstehen:

»Ihre Majestät ... geruhten zu befehlen ...«

»Gib sofort den Schlüssel her, wenn ich es dir befehle!« schrie ihn der Kaiser an, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte.

Der Greis zitterte am ganzen Leibe; seine Pupillen waren wie die Pupillen eines Toten, welcher Dinge sieht, die sonst niemand sieht; er wollte dem Kaiser den Schlüssel reichen, doch seine Hände zitterten so sehr, daß er ihn fallen ließ. Der Kaiser hob den Schlüssel auf, öffnete die Tür und trat ein.

Dumpfe Luft wehte ihm entgegen, es roch nach alten Kleidern und anderen Sachen des verstorbenen Kaisers Paul I., die aus seinem Arbeits- und Schlafzimmer in dieses Zimmer verbracht worden waren. Der Kaiser sah die ihm wohlvertrauten Stühle, Sessel und das Kanapee aus Mahagoni, mit Löwenköpfen aus Bronze verziert; die ihm wohlvertrauten Bilder – den Erzengel Gabriel und die Madonna von Guido Beni, die einst am Kopfende des Bettes hingen; den Sekretär und den Schreibtisch mit dem Tintenfaß, den Federn, die den Eindruck machten, als ob jemand erst eben mit ihnen geschrieben hätte, den Papieren und Briefen, auf denen er die Handschrift des Vaters erkannte; den Nachttisch mit einer tief heruntergebrannten Kerze, die so aussah, als ob sie jemand erst eben ausgeblasen hätte; die Wanduhr, deren Zeiger auf halb Eins stehen geblieben waren, und die verschossene seidene spanische Wand mit chinesischen Figuren.

Er stand lange unentschlossen da. Dann machte er einen schwachen schwankenden Schritt vorwärts und blickte hinter die spanische Wand: dort stand das schmale Feldbett. Der Kaiser erblaßte, und seine Pupillen starrten wie die Pupillen eines Toten, welcher Dinge sieht, die sonst niemand sieht. Plötzlich beugte er sich vor und lüftete mit einem Lächeln, das sorglos schien, die Bettdecke. Auf dem Laken waren dunkle Flecken – alte Blutflecken zu sehen.

Er hörte ein Geräusch: an seiner Seite stand der kleine Sascha und starrte auf die Flecken; dann blickte er den Kaiser an und erkannte wohl in seinem Gesicht das Schreckliche, wovon er einst geträumt hatte; er stieß einen durchdringenden Schrei aus und stürzte wie rasend aus dem Zimmer.

Über den beiden, über dem Sohne und dem Enkel Pauls, schwebte ein Grauen, das die Vergangenheit mit der Zukunft verband.

* * *

Die Abreise des Kaisers nach Taganrog war für den 1. September angesetzt und die Abreise der Kaiserin für den 3. September.

Am Vorabend kehrte er aus Pawlowsk, wo er von der Kaiserin-Mutter Abschied genommen, nach Petersburg zurück und verließ das Palais auf der Kamennyj-Insel am festgesetzten Tage um fünf Uhr früh, als noch in den finsteren Straßen die Laternen brannten. Ganz allein, ohne Gefolge, besuchte er noch das Newskij-Kloster und ließ einen Bittgottesdienst abhalten.

Als er die Stadtgrenze passierte, ging eben die Sonne auf. Er ließ den Kutscher halten und blickte lange auf die Stadt zurück, als ob er von ihr Abschied nehmen wollte. Häuser, Türme, Kirchen und Kuppeln erschienen im Morgennebel gespensterhaft und leicht wie im Traume. Dann setzte er sich wieder in den Wagen und sagte:

»Also fahr weiter, in Gottes Namen!«

Das Glöckchen erklang und die Troika raste vorwärts.

In Zarskoje Ssjelo gesellten sich zu ihm fünf weitere Equipagen: des Wagenmeisters Hauptmanns Ssolomko, des Maître d'hôtel Miller, des Leibarztes Wyllié, des Generaladjutanten Dibitsch und noch ein Reservewagen.

Der Kaiser führte ein kleines Reisebuch bei sich, in dem alle Poststationen und Entfernungen verzeichnet waren. Von Petersburg bis Taganrog waren es im ganzen 85 Stationen und 1894¾ Werst. Er mußte diese Strecke in 12 Tagen zurücklegen, die Kaiserin aber in 20 Tagen.

Die Marschroute ging zuerst über die Weißrussische Heerstraße und von der Grenze des Pskowschen Gouvernements an über die Tulasche Landstraße; Moskau ließ er absichtlich abseits liegen, denn er wollte alle offiziellen Empfänge und Paraden vermeiden.

Er passierte Gatschina, Wyra, Jaschtschera, Dolgowka, Luga und Gorodez. Er besichtigte gewissenhaft alle für die Kaiserin vorbereiteten Nachtquartiere, reiste aber selbst, ohne irgendwo Aufenthalt zu nehmen, Tag und Nacht weiter; nachts schlief er in seinem Wagen.

Es war in den strahlenden Tagen des Herbstes. Die Sonne ging täglich heiter auf, zog heiter ihre Himmelsbahn und ging heiter unter, auch für den nächsten Tag das gleiche heitere Wetter verheißend. In der Luft spürte man einen leisen Brandgeruch, aus den Getreidedarren kam Rauch, und alles war frisch und zart wie im Frühjahr. Aus den Tennen klangen Menschenstimmen und das Klopfen von Dreschflegeln, auf den leeren Feldern war es aber still, wie im Hause vor einem Feiertage; man hörte nichts als das Geschrei der Kraniche hoch im Himmel, die gleich ihm nach dem Süden zogen.

Je weiter er fuhr, um so größere Erleichterung spürte er, als ob die Last, die ihn alle diese Jahre bedrückt hatte, von seiner Seele fiele und er aus einem schweren Traume erwache. Es war ihm, als ob er bereits auf den Thron verzichtet und die Hauptstadt verlassen hätte, um nie wieder als Kaiser zurückzukehren; als ob dort, wohin er reiste, ihn die letzte Befreiung und Erlösung erwarteten. Vielleicht hörte er daher in den Schreien der Kraniche einen geheimnisvollen Ruf, eine grenzenlose Hoffnung?

Gleich am Anfang der Reise träumte er einmal nachts von einer kleinen Provinzialstadt; die kleinen gelben Häuschen mit schwarzen Fensterläden waren wie von Kinderhänden aus Pappe gebaut. Der Himmel war dunkelviolett, wie er zuweilen an Winterabenden aussieht; es war aber weder Winter, noch Abend, sondern ein Herbst, der mehr dem Frühjahr, ein Morgen, der mehr dem Abend glich. Die Sonne war nicht zu sehen, sie strahlte aber aus allen Dingen; alles schien so glückselig, lieb, kindlich und paradiesisch. Er sah auch Sophie und den Fürsten Valerian Golitzin; sie sprachen etwas zu ihm, was er nicht recht verstehen konnte, doch er spürte ein seliges Gefühl, wie er es noch nie empfunden hatte. »Dies ist es also! Ich habe es gar nicht geahnt!« Er lachte und weinte vor Freude. Er wollte beten, doch er wußte nicht, was er sich erflehen sollte: alles war ja da, alles wird so in alle Ewigkeit bleiben.

Er erwachte. »Dies ist es also! Ich habe es gar nicht geahnt!« sagte er sich wie vorhin im Traume und weinte vor Freude.

Er sah sich um: es war noch finster, doch die Sterne flimmerten so, wie sie nur vor dem Tagesanbruch flimmern. Er konnte die Gegend nicht erkennen. Im schwachen Sternenlichte sah er Wiesenland, das von waldbedeckten Hügeln eingefaßt war. Irgendwo in der Ferne, wahrscheinlich vom Theophil-Kloster her, erklang eine Kirchenglocke, folglich war die Stadt Borowitschi nicht mehr ferne.

Der Wagen fuhr einen Hügel hinauf. Plötzlich erblickte er am Himmelsrande, wo sich die Landstraße in der Ferne verlor, einen großen, ungewöhnlich hellen Stern, den er nicht kannte; der Stern schien mit rasender Geschwindigkeit zu stürzen und ließ eine leuchtende Spur auf dem Himmel zurück. Auch in diesem Stürzen war ein geheimnisvoller Ruf, eine grenzenlose Hoffnung.

Er dachte an den Komet von 1812. Jener Komet schien unglückverheißend und war doch ein Bote der Rettung; vielleicht hatte auch dieser Komet die gleiche Bedeutung?

Als der Wagen den Gipfel des Hügels erreicht hatte, befahl er dem Kutscher zu halten; wie vorher, als er an der Stadtgrenze von Petersburg Abschied nahm, so erhob er sich auch jetzt, entblößte sein Haupt und bekreuzigte sich.

»Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündiget seiner Hände Werk,« flüsterte er andächtig und fühlte, daß das Gefühl von Seligkeit, das er jetzt empfand, ihn nie mehr verlassen würde. Er erflehte nichts von Gott, er dankte Ihm nur für alles, was war, und für alles, was kommen sollte.


 << zurück weiter >>