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Sechster Teil.


I.

»Einen Dreck werdet ihr bekommen!« rief der Dompropst aus, indem er sich ein Stück Fischpirogge auf den Teller legte.

»Hört nicht auf ihn, meine Herren! Wenn er zuviel getrunken hat, wird er immer melancholisch,« entgegnete der Polizeimeister Absentow, ein ehemaliger Husarenoffizier.

»Unsinn,« fuhr der Dompropst fort, »ich leide nie an Melancholie, doch wenn ich trinke, überkommt mich ein prophetischer Geist und dann kann ich alles voraussagen. Merkt euch meine Worte: Einen Dreck werdet ihr bekommen!«

»Wenn er sich einmal etwas in den Kopf setzt, hört er überhaupt nicht mehr auf! Was haben Sie nur, P. Alexej? Es klingt fast wie eine Beleidigung: Wir alle erhoffen uns das Beste, und Sie prophezeien uns einen Dreck,« mischte sich der Gastgeber, Stadthauptmann Tit Nikanorowitsch Dunajew ein.

Seine Frau hatte Namenstag. Aus diesem Grunde versammelte sich bei ihm die ganze Beamtenschaft von Taganrog. Sie sprachen von den Auszeichnungen, die ihnen anläßlich des bevorstehenden Aufenthaltes des Kaisers in dieser Stadt zuteil werden sollten.

»Ich trinke auf das Wohl Seiner kaiserlichen Majestät!« rief der Stadthauptmann feierlich aus, sich von seinem Platze erhebend.

»Hurrah! Hurrah!«

Sie tranken dänischen Champagner und ausländischen Wein und gerieten schließlich in eine sehr fröhliche Stimmung. Der Stadthauptmann begann sein Lieblingslied zu singen:

Russen fürchten keine Feinde,
Kühnheit ist des Sieges Pfand ...

Dieses patriotische Lied ging allmählich in eine ausgelassene Tanzweise über. Die Gäste umringten den Hausherrn, hoben ihn auf die Arme und warfen ihn vor Begeisterung einige Male in die Luft. Der Herr Dompropst wollte den Nationaltanz tanzen, was zu seinem ehrwürdigen Äußeren und seinem langen weißen Bart gar nicht paßte; er hob bereits seine Kutte, glitt aber gleich beim ersten Tanzschritt aus und fiel dem Polizeimeister in den Schoß. Er begann ihn zärtlich abzuküssen.

»Wassenjka, sag mir doch, Wassenjka, warum heißt du eigentlich Absentow? Absens heißt ja lateinisch der Abwesende: in unserer Stadt herrscht eine so wunderbare Ordnung, als ob der Polizeimeister immer abwesend wäre. Stimmt es?«

Er war so betrunken, daß er kaum sprechen konnte; er musterte die Anwesenden mit seinen trüben Augen und rief wieder so laut, daß es allen ganz unheimlich zumute wurde:

»Einen Dreck werdet ihr bekommen!« –

»Geehrter Herr Bruder,« schrieb in diesen Tagen der Vorsitzende des Taganroger Handelsgerichts, Fjodor Romanowitsch Martos, »der Kaiser geruhte, am 13. September nach Taganrog zu kommen. Es vergeht fast kein Tag, daß ich nicht einen Befehl vom Hoflager bekomme, Schnallenschuhe anzuziehen und das Haar zu pudern; ich bin davon so müde, daß ich mich kaum auf den Beinen halte. Man sagt, daß Seiner Majestät dem Kaiser bei uns in Taganrog alles so gut gefällt, daß er hier den ganzen Winter und vielleicht auch länger bleiben will. Man hat eine Extrapost eingerichtet. In der Moskauer und in der Griechischen Straße sind 63 Laternen ausgestellt worden; es ist eine wirklich festliche Beleuchtung. Gestern kam hier General Kleinmichel an, bald soll auch Graf Araktschejew kommen. Was aus alledem herauskommt, weiß Gott allein. Der unerwartete Besuch dieser hochstehenden Persönlichkeiten macht uns aber allen großen Mut.«

Das Martossche Haus lag auf dem Festungsplatz, dem Hause des früheren Stadthauptmanns Papkow, das in ein Palais für den Kaiser umgewandelt worden war, gerade gegenüber. Fjodor Romanowitsch hatte allen seinen Familienmitgliedern verboten, aus den Fenstern zu schauen; doch Frau Uljana Andrejewna Martos war sehr neugierig; sie stieg zuweilen auf den Dachboden und beobachtete durch ein kleines Fernrohr das Haus gegenüber. Da die Witterung sehr warm war, standen die Fenster im kaiserlichen Palais meistens offen, so daß Frau Martos alles gut sehen konnte. Der Kaiser richtete die Zimmer für die Kaiserin selbst ein. Er packte eigenhändig das sorgfältig in Stroh verpackte Glas und Porzellan aus und gab sich die größte Mühe, nichts entzweizuschlagen; er stellte selbst die Möbel um, ging nach jeder Umstellung zur Türe, um sich die Wirkung aus der Ferne anzusehen; er schlug selbst die Nägel für die Spiegel und die Bilder ein und brachte selbst die Fenstervorhänge an.

»Er stieg auf eine Leiter, hielt einige Nägel in den Zähnen und hämmerte drauf los, wie ein echter Tapezierer,« erzählte später Uljana Andrejewna. »Er hatte ein so gutmütiges und liebes Gesicht, daß mir jedesmal Tränen der Rührung in die Augen traten. Ein wahrer Engel!«

»Wir nannten ihn nie anders, als unseren Engel,« berichteten andere Bürger von Taganrog. »Jeden Morgen ging er pünktlich von 7 bis 9 Uhr zu Fuß in der Stadt spazieren, wobei er die Leibhusarenuniform, Reitstiefel und eine Feldmütze trug; um 1 Uhr nachmittags ritt er regelmäßig in Chevaliergardeuniform mit Federhut aus; bei jedem dieser Spaziergänge leistete er irgendeiner armen Familie, die er selbst aussuchte, Hilfe oder verrichtete sonst irgendein gutes Werk. Er war immer bestrebt, allen Menschen Freude und Glück zu verschaffen.«

Man erzählte sich auch, daß der Kaiser bei diesen Spazierfahrten oft einfache Leute – Soldaten, Matrosen, Bauern und selbst arme Pilger, die auf den Landstraßen Geld zur Erbauung von Kirchen sammeln, ins Gespräch zu ziehen pflegte. An einem dieser Bettler, dem heimatlosen Vagabunden Fjodor Kusmitsch, fand er so großes Gefallen, daß er mit ihm oft unter vier Augen sprach.

Taganrog ist eine Kreisstadt am Ufer des Asowschen Meeres; im Westen liegt die Miusser Bucht, im Osten die Mündung des Donez. Die Stadt liegt auf einer Landzunge, an drei Seiten vom Meere umspült; fast jede Straße bietet einen Ausblick auf das Meer, das grün und blau wie Flaschenglas schimmert.

Ein langweiliges Nest. Bauplätze, Warenlager, Packhäuser, niedere, wie die Steine auf einem Damenbrett verstreute Häuschen mit abgebröckeltem Verputz und immer geschlossenen Läden. Im Rücken der Stadt liegt die Steppe, die sie von der Welt abschneidet.

Doch dem Kaiser gefiel hier alles ebenso gut, wie im glückseligen Traum, den er am Anfang seiner Reise sah: es war die gleiche Herbst- und Frühlingsstimmung; sein ständiger Begleiter, der Komet, schien hier am südlichen Himmel noch strahlender, und in seinem jähen Sturz lag derselbe geheimnisvolle Ruf, dieselbe grenzenlose Hoffnung.

Am 23. September fuhr er der Kaiserin Jelisaweta Alexejewna bis zur Poststation Korowij-Brod entgegen. Er setzte sich zu ihr in die Dormeuse und brachte sie gegen 7 Uhr abends nach Taganrog. Nachdem die Majestäten einer Messe in der Griechischen Kirche beigewohnt, begaben sie sich ins Palais.

Das Palais war ein einfaches Haus mit gelber Fassade und grünem Dach und sah eher wie ein recht bescheidenes Landhaus aus. Aus den Fenstern, die auf den Hof und den Garten gingen, konnte man das Meer sehen; die Fenster, die auf die Straße gingen, boten Ausblick auf den Platz und auf die Wälle der alten noch zur Zeit Peters des Großen erbauten Festung.

Ein großer Durchgangssaal, der als Audienz- und Speisezimmer diente, trennte das Haus in zwei Teile. Rechts lagen die Gemächer des Kaisers: ein größeres Eckzimmer war das Arbeits- und Schlafzimmer, und ein halbrundes kleines einfenstriges Zimmerchen das Toilettezimmer; dahinter befand sich ein halb finsterer Raum für den Kammerdiener und eine Treppe, die in das im Keller gelegene Garderobezimmer führte. Links lagen die Gemächer der Kaiserin – acht ebenso kleine, doch etwas besser ausgestattete Räume. Alle Zimmer hatten niedrige Decken, kleine Fenster und riesengroße Kachelöfen, wie man sie in Kaufmannshäusern sieht.

»Gefällt es Ihnen hier, Lise, gefällt es Ihnen wirklich?« fragte der Kaiser, ihr die Zimmer zeigend. »Ich habe ja alles selbst eingerichtet und immer Angst gehabt, daß es Ihnen nicht gefällt.«

»Wie schön, mein Gott, wie schön!« rief die Kaiserin entzückt aus. »Dieses Schlafzimmer gleicht ja vollkommen dem roten Salon bei Mamachen.«

Jede Kleinigkeit freute sie und sagte ihr, wie sehr er für sie gesorgt: aus dem Arbeitszimmer in Zarskoje-Ssjelo war ihr Lieblingssofa hierher geschafft; an den Wänden hingen alte Landschaftsbilder, die ihre heimatlichen Hügel von Karlsruhe und Baden darstellten, diese Bilder hatte sie sich schon seit langem gewünscht; auf einer Etagere standen aber Bücher: Memoiren von Janlis, Werke von Walter Scott und Puschkin, lauter Bücher, die sie schon längst lesen wollte.

»Da ist er ja! wo haben Sie ihn denn gefunden? Ich dachte schon, daß er verloren gegangen wäre!« Sie lachte und klatschte mit den Händen wie ein kleines Mädchen.

Es war ein Schäfer aus Porzellan, eine Tischuhr, die ihr die Mutter in ihrer Kindheit geschenkt hatte. Vor dreißig Jahren brach an der Figur ein Arm ab; der Arm fehlte auch jetzt, doch die Uhr tickte noch immer so munter wie vor Jahren.

»Wie schön, mein Gott, wie schön!« sagte sie, sich aufs Sofa niederlassend und vor Glück die Augen schließend. »Und was ist das?« sagte sie, aufhorchend.

»Es ist das Meer; im Hafen ist es seicht, doch etwas weiter gibt es eine richtige Brandung. Sie werden noch sehen, wie schön man bei diesem Rauschen schlafen kann.«

Er saß an ihrer Seite und küßte ihr die Hände.

»Nun sind wir wirklich zusammen, meine Liebe, allein zusammen, wie ich es Ihnen versprochen habe ... wissen Sie es noch? ...«

»Sprechen Sie nicht davon ...«

»Warum soll ich nicht davon sprechen?«

Sie gab keine Antwort, doch er erriet, daß sie noch etwas fürchtete und ihrem Glück nicht trauen wollte.

In dieser Nacht schlief sie so süß wie seit Jahren nicht; sie wachte nur einige Male von der ungewohnten Stille auf und schlief dann noch süßer ein, vom Rauschen der Wellen, wie von einem Wiegenlied eingelullt.

Bei ihrer Abreise aus Zarskoje-Ssjelo fühlte sie sich so krank, daß sie gar nicht hoffte, diese Reise überstehen zu können. Doch hier blühte sie gleich in den ersten Tagen so plötzlich auf, daß die Ärzte, als sie diese wunderbare Heilung sahen, ihren Augen nicht trauen wollten.

Ende Oktober war die Witterung noch ganz sommerlich: stille warme Tage wechselten mit stillen sternenklaren Nächten ab. Wenn sie die See- und Steppenluft einatmete, genoß sie jeden Atemzug wie ein Glück. Es war aber weder die Sonne noch die Luft, die diese Heilung bewirkt hatten, sondern einzig und allein das Bewußtsein, daß sie ihn in ihrer Nähe hatte und daß er so ruhig und glücklich war wie noch nie.

Er ließ sie keinen Augenblick allein; er schien nur an sie zu denken; es war, als ob nach dreißigjähriger Ehe der Honigmond angebrochen wäre. Er machte ihr den Hof, er fragte sie zehnmal am Tage: »Fühlen Sie sich auch wohl? Wünschen Sie etwas?« Er erriet jeden ihrer Wünsche, noch bevor sie ihn aussprach.

Bei einem Spaziergange im Stadtpark sagte sie einmal, es sei schade, daß man von da aus das Meer nicht sehen könne; am nächsten Morgen brachte er sie wieder in den Park und zeigte ihr das Meer: nachts war auf seinen Befehl ein neuer Gartenweg mit der Aussicht auf das Meer angelegt worden. Ein anderes Mal gefiel ihr ein Plätzchen am Strande in der Nähe der Quarantänebaracken; er befahl sofort, an dieser Stelle eine Bank aufzustellen, entwarf selbst den Plan für einen Garten, der hier angelegt werden sollte, und ließ aus Ropscha einen tüchtigen Gärtner kommen.

Bei allen diesen Spaziergängen durfte sie niemand begleiten; wenn ein Herr aus dem Gefolge ihnen zufällig begegnete, stellte er sich so, als ob er sie nicht sähe, und grüßte nicht, um »die Jungvermählten«, wie man sie nannte, nicht zu stören.

Einmal saßen sie auf der neuen Bank bei der Quarantäne. Der Abend war heiter. Die Sonne war schon untergegangen, und auf dem rosigen Himmel schwamm wie ein schmelzender Schneeflocken die feine Sichel des neuen Mondes. Unten brauste das Meer; am Ufer zerschellten die grünen Wellen und über ihnen kreisten mit klagenden Schreien die Möwen.

Vom Abhang führte ein Pfad zum Meere. Zuweilen gingen sie auf den Strand und sammelten Muscheln. Das Ufer war steil; vor ihnen lag das unendliche Meer, hinter ihnen die unendliche Steppe, und zwischen diesen beiden Wüsten fühlten sie sich wie am Rande der Welt, wie die einzigen Menschen.

»Wie gut steht Ihnen dieser Schmuck aus rosa Perlen, Lise,« sagte der Kaiser.

Sie trug ein Kollier aus rosa Perlen, ein Geschenk des Schah von Persien. Seit vielen Jahren hatte sie es nicht getragen, wozu hatte sie es jetzt angelegt? Um ihm zu gefallen? Glaubte sie denn wirklich an den Honigmond, sie, die so alt und krank war? Sie schämte sich und errötete bei diesem Gedanken.

»Abends sind die rosa Perlen noch schöner als am Tage; ganz wie Sie!« Er lächelte ihr zu und sagte nach einer Pause:

»Wissen Sie übrigens, wie uns die Herren von der Suite nennen?«

»Wie?«

»Die Neuvermählten.«

Sie gab keine Antwort und errötete noch mehr: ihr blaßrosa Gesicht war wirklich so schön wie eine rosa Perle im Abendscheine.

»Sie sehen ja, man lacht uns aus,« sagte sie. »Es ist Ihre Schuld: Sie verziehen mich. Sie werden mich noch so verziehen, daß Sie es später selbst bereuen werden.«

»Wann später?«

»Wenn Sie abreisen.«

»Denken Sie jetzt nicht daran, Lise.«

»Ich kann nicht anders. Ich muß mich darauf vorbereiten, wie sich ein Kranker auf eine Operation vorbereitet. Ich wollte Sie schon oft fragen: wann wollen Sie eigentlich abreisen?«

»Ich weiß es nicht. Ich sage allen, daß ich gegen Neujahr abreisen werde, doch ich glaube selbst nicht daran. Ich will ja meinen Abschied nehmen, das Gut Oreanda am Südufer der Krim kaufen und mich dort mit Ihnen für immer niederlassen.«

Sie blickte ihn stumm an, und in ihren weitgeöffneten Augen strahlte plötzlich wahnsinnige Freude. Doch das Licht erloscht die ihr wohlbekannte Angst, die Angst vor dem Glück, überkam sie wie Todesangst. Die Worte aus ihrem Tagebuch fielen ihr ein: »Wenn ich glücklich bin, habe ich den Eindruck, daß ich mir etwas Fremdes aneigne, daß ich stehle; ich schäme und fürchte mich, denn ich weiß, daß ich dafür gestraft werde.«

»Sprechen Sie nicht davon!« sagte sie wieder wie am ersten Tage. Und er fragte sie wieder:

»Warum soll ich nicht davon sprechen? Warum fürchten Sie, warum glauben Sie mir nicht, Lise? Wenn ich Ihnen alles sagen könnte! Doch ich kann es nicht mehr. Ich hätte es vor dreißig Jahren tun sollen. Ich habe aber erst jetzt ... Sehen Sie es denn nicht selbst? Sehen Sie es nicht? verstehen Sie mich nicht?«

Sie schwieg, und ihr stand vor Angst das Herz still; es war die Angst vor dem Glück – ihre ständige Todesangst. Er hielt mit einer Hand ihre Hände und umschlang mit der anderen ihre Taille.

Gott Amor wollte Psychen einst
Im Spiele fangen ...

»Oh, Lise, Lise, wie dumm war ich bisher! Ich lebte wie im Schlafe dahin und träumte, daß ich sie liebe, doch ich wußte nicht, wer sie war. Erst jetzt habe ich es erfahren ...«

Hier ist ja alles Traum; doch kommt einst das Erwachen!
Ich sah dich schon einmal in einem Traume lachen:
Erkennen werd' ich dich, auch wenn der Traum verrinnt ...

»Nein, nein, lassen Sie mich!« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte. Die Tränen flossen unaufhaltsam, unerschöpflich, unendlich bitter, unendlich süß; es waren die Tränen der Liebe, die sie in ihrem ganzen Leben noch nicht ausgeweint hatte.

Er sank vor ihr in die Knie, weinte und flüsterte, wie der sechzehnjährige Knabe, der dem vierzehnjährigen Mädchen die erste Liebeserklärung machte:

»Ich liebe, ich liebe ...«

Er wiederholte immer das gleiche Wort und konnte nicht mehr sagen. Sie hörte plötzlich zu weinen auf, beugte sich über ihn, umschlang seinen Kopf mit den Händen, und ihre Lippen fanden sich zusammen. Nur die Steppe, das Meer, der Himmel und der neue Mond sahen diesen ersten Kuß der Liebe.

Sie wollten noch nicht heimkehren. Sie setzten sich in den Wagen und fuhren weiter.

Um sie herum lag die Steppe mit grauem Wermut und trockenem Steppengras. Weder Baum noch Strauch. Am Horizont stand eine einsame Windmühle, und auf einem Hügel ging eine langbeinige Trappe langsam wie ein Wachtposten auf und ab, sich schwarz gegen den klaren Himmel abhebend. Auf der einsamen Landstraße schleppten sich einige Ochsenwagen hin mit trockenen Fischen vom Asowschen Meere und Salz aus der Krim; Tartaren trieben ihre Kamele, die mit Wassermelonen schwer beladen waren, vorbei; ein halb wilder nogaischer Hirt ritt ein ungezäumtes Pferd und trieb Schafe vor sich hin; hoch am Himmel kreiste ein Steppenadler mit heiseren Schreien. Und dann war wieder alles leer und tot. Die Steppe beschützte sie wie eine treue Freundin vor dem Getümmel der Welt, an dem sie beide ihr ganzes Leben lang zugrunde gingen.

Es dämmerte. Vom Meere her kam ein kalter Wind.

»Haben Sie es nicht kalt, Lise? Ich habe Ihnen ja gesagt, daß Sie den Pelzmantel mitnehmen sollen. Sie können sich leicht erkälten.«

»Nein, wirklich nicht, mir ist so warm ... Sehen Sie nur, wie warm meine Hände sind! Es ist mir so wohlig, so warm, ich kann es gar nicht besser haben.«

Er umarmte sie und hüllte sie in seinen Mantel. Sie fühlte die Wärme seines Körpers und schmiegte sich an ihn schüchtern und verschämt. Ja, es war ihr so wohlig, sie konnte es gar nicht besser haben; wenn es nur immer so bliebe!

»Ja, meine Liebe, ich wollte Sie schon längst fragen,« begann er unvermittelt und staunte selbst über diese Frage, »wie denken Sie eigentlich über Araktschejew?«

»Über Araktschejew?« Sie wunderte sich und erschrak, wie vor allem, was unerwartet kam. Sie beantwortete die Frage nicht direkt, sondern mit unwillkürlicher weiblicher List:

»Sie wissen ja, daß ich ein schlechter Politiker bin und von Staatsgeschäften nichts verstehe.«

Araktschejew flößte ihr immer unheimliche Angst ein. Bei Lebzeiten des Kaisers Paul I. pflegte er zu ihnen ins Schlafzimmer zu kommen, wenn sie noch im Bette lagen: der Vater wollte, daß der Thronfolger beim Sonnenaufgang aufstehe; Sascha blieb aber gerne lange liegen. Er unterschrieb im Bette die Papiere, die ihm Araktschejew brachte; sie verkroch sich indessen mit dem Kopf unter die Bettdecke und hatte immer das Gefühl, daß Araktschejew wie ein riesengroßer Tausendfüßler zu ihr ins Bett kommen würde.

»Nun, Lise, wollen Sie es mir nicht sagen?«

»Ich kenne ihn wirklich zu wenig ...«

»Sagen Sie mir doch wenigstens, ob Sie ihn für einen guten oder schlechten Menschen halten?«

»Wollen Sie es unbedingt wissen?«

»Ja, unbedingt.«

»Sofort?«

»Sofort.«

»Mir scheint ... Nein, ich kann es nicht. Sie müssen mir dabei helfen, was wollten Sie eigentlich wissen?«

»Glauben Sie, daß er mich ...«

Es fiel ihm schwer, das Wort »liebt« auszusprechen. Er sagte:

»Ob er mir ergeben ist?«

»Ob er Ihnen ergeben ist? Ja ... Nein ... Ich weiß es nicht ... Ich glaube, daß er Sie nicht liebt; er kann überhaupt niemand lieben ...«

»Folglich ist er schlecht und falsch?«

»Nein, er ist weder schlecht noch gut, er ist überhaupt nichts ... Ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll ... Er ist nichts, er ist leer, er ist Luft ... Sie werden mir doch deswegen nicht zürnen?«

Sie blickte ihn an: ein seltsames Lächeln huschte über sein Gesicht; sie begriff, daß er ihr nicht zürnte.

»Er stellt an sich nichts vor,« fuhr sie etwas kühner fort. »Er ist Ihr Schatten: wohin Sie gehen, da geht er auch hin; was Sie tun, das tut auch er; es sieht nur so aus, als ob er existiere, in der Tat existiert er gar nicht. Nun sehen Sie, was ich für Unsinn spreche ...«

»Nein, Lise, es ist gar kein Unsinn. Ich weiß nur nicht, ob Sie recht haben. Denn so ein Schattendasein ist ja auch ein großes Opfer ...«

Er dachte: »Ja, er ist mein Schatten. Er hat alles Schlechte, Dunkle und Schreckliche, was in mir lag, in sich aufgenommen. Als die Sonne hoch stand, lag der Schatten zu meinen Füßen; und jetzt, da die Sonne untergeht, ist der Schatten ins Unermeßliche gewachsen.«

Nicht umsonst fiel ihm Araktschejew ein; in den letzten Tagen mußte er oft an ihn denken.

Am 10. September war in Grusino Araktschejews Geliebte Nastasja Minkina ermordet worden.

»Väterchen, kaiserliche Majestät!« schrieb ihm Araktschejew zwei Tage nach dem Morde. »Das große Unglück, das mir zugestoßen – ich habe eine treue Freundin, die in meinem Hause 25 Jahre gelebt hat, verloren –, hat so sehr meine Gesundheit und meinen Verstand zerrüttet und getrübt, daß ich mir nur noch den Tod wünsche und keine Kraft habe, mich mit irgendwelchen Staatsgeschäften zu befassen. Lebe wohl, Väterchen, gedenke Deines gewesenen treuen Dieners. Meine Freundin wurde nachts von Leibeigenen ermordet, und ich weiß noch nicht, wohin ich meinen verwaisten Kopf wenden soll; ich werde aber in jedem Fall diesen Ort für immer verlassen.«

Der Kaiser erhielt diesen Brief in Taganrog am 22. September, am Vorabend der Ankunft der Kaiserin, und beantwortete ihn noch am gleichen Tage:

»Lieber Freund, vor einigen Stunden erhielt ich Deinen Brief mit der traurigen Nachricht vom schrecklichen Ereignis, das Dich so hart getroffen hat. Mein Herz fühlt alles nach, was Dein Herz jetzt empfinden muß. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mir Dein empfindsames Herz leid tut. Doch die Verzweiflung, mein Freund, ist eine Sünde vor Gott. Ergib Dich Seinem heiligen Willen. Du schreibst mir, daß Du Grusino verlassen willst und nicht weißt, wohin Du Dich wenden sollst. Komme doch zu mir: Du hast keinen zweiten Freund, der Dich so aufrichtig liebt, wie ich. Doch ich beschwöre Dich bei allem, was heilig ist, denke an Dein Vaterland, dem Deine Dienste nützlich und, ich kann es wohl sagen, unentbehrlich sind; das Vaterland setze ich auch immer über alles. Lebe wohl, verlasse Deinen Freund nicht, Deinen treuen Freund.«

Als der Kaiser diesen Brief abgeschickt hatte, berief er nach Taganrog den General Kleinmichel, der sich um jene Zeit in den Militärischen Siedlungen des Südens aufhielt. Er befahl ihm, sich sofort nach Grusino zu begeben, alles zu erfahren und Araktschejew zu überreden, um jeden Preis nach Taganrog zu kommen.

Er zweifelte gar nicht daran, daß Araktschejew kommen werde; da er aber keine Antwort bekam, schrieb er gleich einen zweiten Brief:

»Denkst Du denn gar nicht daran, wie sehr ich um Dich in einem für Dich so wichtigen Augenblick besorgt sein muß? Es ist wirklich unrecht, wenn Du Deinen Dich so treu liebenden Freund vergißt; noch schlimmer ist es, wenn Du an seiner aufrichtigen Teilnahme zweifelst. Ich bitte Dich inständig: wenn Du selbst nicht die Kraft dazu hast, so beauftrage irgend jemand, mir ausführliche Berichte über Deinen Zustand zu schreiben. Ich bin in großer Unruhe.«

Er empfand wirklich große Unruhe, zugleich aber eine seltsame Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit. Wenn man einem Paralytiker eine Nadel ins unempfindliche Fleisch bohrt, empfindet er keinen Schmerz; es ist ihm nur unheimlich zu sehen, wie die Nadel in sein Fleisch dringt.

Endlich kam eine Antwort:

»Väterchen, Majestät! Nach dem Empfang des heiligen Abendmahles, erhielt ich unter heutigem Datum Ihren väterlichen Brief. Ich danke dafür von Herzen. Ich hoffe, selbstredend, auf Gott, doch meine Kräfte verlassen mich. Ich habe Herzklopfen, tägliche Fieberanfälle, und kann seit drei Wochen nicht schlafen; die ständige Verzweiflung und Trauer haben mich so geschwächt, daß ich mein Gedächtnis verloren habe und gar nicht weiß, was ich tue und was ich spreche; was für Folgen dies alles für mich haben kann, weiß Gott allein. Ach, Väterchen! Wenn Sie mich in meinem jetzigen Zustand sehen könnten, so würden Sie Ihren treuen Freund gar nicht wiedererkennen. So geht es eben dem Menschen in diesem Leben: Gott kann in einem einzigen Augenblick den ganzen Zustand des Menschen verändern.

Von einer Reise zu Ihnen kann ich vorläufig nichts sagen; ich danke für die Einladung und bin mir Ihrer Gewogenheit voll bewußt. Ich bete zu Gott nicht um mich, sondern um Ihr Wohlergehen, das das Vaterland in diesen stürmischen Zeiten so notwendig braucht.

Den Bericht über das schreckliche Verbrechen werde ich Ihnen später schicken, wenn ich meine Kräfte wiedererlangt haben werde. Es ist möglich, daß bei diesem Ereignis auch fremde Einflüsse im Spiele waren: es gibt Leute, die ein Interesse daran haben, mich so zu schädigen, daß ich Ihnen nicht mehr dienen kann. Aus verschiedenen Umständen kann man schließen, daß die Mörder es auch auf mich abgesehen hatten; Gott hat es aber gefallen, mich für meine Sünden noch länger in diesem Jammertal leben zu lassen.

Ich umarme Ihre Knie, küsse Ihre Hände und bin Ihr unglücklicher, doch bis zum letzten Atemzuge ergebener Diener.«

Am nächsten Tage nach dem Gespräch mit der Kaiserin über Araktschejew saß der Kaiser allein in seinem Arbeitszimmer. Er las den letzten Brief Araktschejews noch einmal durch und wurde nachdenklich. Nein, er wird nicht kommen. Er mochte ihn noch so inständig bitten, ihn anflehen und sich vor ihm erniedrigen, Araktschejew wird doch nicht kommen. Unter seinen beiden Freunden – dem Kaiser und Nastasja Minkina – hatte er die endgültige Wahl getroffen. »Er kann überhaupt niemand lieben. Er ist weder schlecht noch gut, er ist überhaupt nichts, er ist leer, er ist Luft. Es sieht nur so aus, als ob er existiere, in der Tat existiert er gar nicht.«

Diesen Mann hat er also dreißig Jahre lang für seinen Freund gehalten! Nun, tut's weh? Nein, es tut gar nicht weh, es ist nur unheimlich, zu sehen, wie die Nadel ins gefühllose Fleisch dringt. Und wenn es doch plötzlich weh tut? Der Stich geht ja beinahe ins Herz ...

Ja, die Zeiten sind stürmisch; das wußte auch Araktschejew. Auch Kleinmichel berichtete: »Majestät wollen besondere Aufmerksamkeit der Untersuchung zuwenden, die den Ursprung der verbrecherischen Pläne aufdecken kann; ich bin überzeugt, daß die Untersuchung viel Wichtiges zutage fördern wird. Mit der gestrigen Post erhielt ich aus Petersburg ein anonymes Schreiben mit der Überschrift: ›Von gewissen und glaubwürdigen Dingen‹. Dieser Brief enthielt die Ansicht wohlgesinnter Menschen über die bewußten Ereignisse in Grusino und eine Mitteilung über frevelhafte Äußerungen des Oberstleutnants Batenkow.«

Batenkow war einer von ihnen, von den Mitgliedern der Geheimen Gesellschaft. » Sie sind im Spiele, es geht los!« sagte sich der Kaiser schon bei der ersten Nachricht vom Morde in Grusino.

Daß es losging, wußte er auch aus anderen Anzeichen. Er durfte nicht länger zögern: jeden Augenblick konnte der Aufstand ausbrechen. Er wollte die Verschwörung vernichten; zu diesem Zweck berief er Araktschejew; nun war Araktschejew selbst vernichtet.

Als er noch auf seine Ankunft rechnete, begann er für ihn eine Denkschrift über die Geheime Gesellschaft zu schreiben. Jetzt wollte er das Geschriebene noch einmal durchlesen. Er holte die Schrift aus der Schatulle und begann zu lesen.

Es war 4 Uhr nachmittags, der Tag war sonnig und heiter, plötzlich wurde es so finster, als ob die Nacht angebrochen wäre, vom Meere her zog ein dichter schwarzgelber Nebel. Im Zimmer wurde es auf einmal so dunkel, daß er gar nicht lesen konnte. Er läutete dem Kammerdiener und ließ die Kerzen anzünden.

Er merkte gar nicht, wie sich der Nebel verzog und es im Zimmer wieder hell wurde. Die Kerzen brannten noch immer.

Der Kammerdiener Anissimow trat ein.

»Was willst du, Jegorytsch?«

»Befehlen Majestät, die Kerzen wegzutun? Wenn es jemand von der Straße sieht, wird er sich etwas Schlechtes denken.«

Der Kaiser blickte auf die Kerzen, die bei Tageslicht so trüb brannten und schien sich auf etwas zu besinnen. »Ach ja, wenn Kerzen am Tage brennen, so bedeutet es, daß es im Hause bald eine Leiche geben wird.«

»Nun, trage sie meinetwegen hinaus.«

Jegorytsch blies die Kerzen aus und trug sie fort.

Der Kaiser versuchte weiter zu lesen, er konnte es aber nicht mehr. Er mußte plötzlich an die Petersburger Wunder und Zeichen, an die lächerlichen Schreckbilder denken.

»Haben Sie den Nebel gesehen? Ganz wie in Petersburg,« sagte die Kaiserin, ins Zimmer tretend.

»Ja, ganz wie in Petersburg,« wiederholte er nachdenklich. Er blickte sie an und fragte:

»Was haben Sie?«

»Nichts. Störe ich? Sind Sie beschäftigt?«

»Lise, was haben Sie? Ist Ihnen unwohl?«

»Nein, es ist nichts, wirklich nichts. Ich habe am Morgen einen Spaziergang zu Fuß gemacht und bin wohl etwas müde davon.«

Sie stand verlegen vor ihm, ganz blaß, mit gesenkten Augenlidern, ließ die Hände kraftlos hängen und sah ihn nicht an. Er ergriff ihre Hände, küßte sie, und blickte sie mit jener einschmeichelnden Zärtlichkeit an, der sie nie widerstehen konnte.

»Sagen Sie mir doch die Wahrheit, seien Sie vernünftig!«

»Sie reisen nach der Krim?« sagte sie und errötete wie schuldbewußt.

»Nach der Krim? Ja, es ist möglich ... Dies ist es also! Wer hat es Ihnen gesagt?«

»Wolkonskij.«

»Er ist ein Dummkopf und eine Klatschbase! Ich habe es Ihnen absichtlich nicht gesagt. Denn es ist noch gar nicht bestimmt. Jetzt werde ich aber selbstredend nicht abreisen!«

»Warum nicht? Doch nicht um meinetwillen?«

»Nein, ich habe keine Lust mehr. Ich weiß nicht warum, doch ich fürchte mich vor dieser Reise.«

Sie blickte ihn an und glaubte ihm. Eine Last fiel ihr vom Herzen.

»Wozu wollten Sie reisen?«

»Ich war so dumm, es Woronzow zu versprechen. Er hat alle Vorbereitungen getroffen, alle warten auf mich, die Pläne sind fertig, und die Marschroute ist zusammengestellt ...«

Kaum hatte er das bedeutungsvolle Wort »Marschroute« ausgesprochen, als sie begriff, daß seine Reise beschlossene Sache war.

»Reisen Sie doch, selbstredend müssen Sie hinreisen,« sagte sie und versuchte zu lächeln.

Ihm zur Last fallen, ihm im Wege sein – nein, lieber alles andere, nur nicht das!

»Sie kommen doch bald zurück?«

»Ich dachte mir so in zehn, höchstens vierzehn Tagen ...«

»Nun sehen Sie, es ist ja gar nicht der Rede wert ... Sie waren ja oft Monate lang abwesend, und ich habe es ertragen; plötzlich soll ich eine Trennung von 14 Tagen nicht ertragen können? Das wäre ja Kinderei! Sie müssen reisen, ich will, daß Sie reisen, hören Sie?«

»Gut, Lise. Es ist aber das letztemal: ohne Sie werde ich nie wieder reisen!«

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht: das Wort »das letztemal« flößte ihr wie alle ähnlichen Worte, die das Unwiederbringliche ausdrücken, namenloses Grauen ein.

»Wissen Sie übrigens, wozu ich unter anderem nach der Krim reisen wollte?«

»Wozu?«

»Um das Gut Oreanda zu kaufen und den Platz für ein Haus auszusuchen.«

»Wie schön! Reisen Sie doch in Gottes Namen!«

Sie legte ihm beide Hände auf die Schultern, beugte sich zu ihm und küßte ihn auf die Stirne. In ihren Augen glänzten Tränen. Er glaubte, daß sie vor Glück weine.

»Ich werde gehen, arbeiten Sie nur weiter.«

»Ich werde gleich zu Ihnen kommen, Lise. Ich muß nur einen Brief zu Ende schreiben.«

Er schrieb ja gar keinen Brief; er wollte nur seine Denkschrift über die Geheime Gesellschaft wegräumen. Er wollte sie nicht auf dem Tische liegen lassen, damit sie Dibitsch nicht zu Gesicht bekäme; er verheimlichte noch immer vor allen diesen wunden Punkt, wie eine schändliche Krankheit.

Als er die Papiere in die Schatulle tat, kam ihm ein plötzlicher Gedanke, über den er selbst erstaunte: Alles ihr, der Kaiserin, anzuvertrauen. Es fiel ihm ein, wie klug sie gestern von Araktschejew gesprochen hatte und wie tapfer sie in der schrecklichen Nacht vom 11. März gewesen war: als alle den Mut verloren und ihn im Stich ließen, bewahrte sie allein ihre Geistesgegenwart; sie hatte ihn damals errettet und wird ihn vielleicht auch jetzt retten. Wenn er nur nicht so allein sein müßte, wenn er nur mit irgend jemand seinen Schmerz teilen dürfte – dies allein wäre schon beinahe eine Rettung!

Er freute sich über den plötzlichen Einfall. Doch Angst und Scham unterdrückten gleich die Freude. »Nein, nicht jetzt, ich will es ihr lieber später sagen, sie soll sich noch etwas erholen!« Er betrog sich, wie er sich immer zu betrügen pflegte.

Die Abreise des Kaisers nach der Krim war für den 20. Oktober angesetzt. Die letzten Tage fühlten sie sich beide gleich bedrückt. Sie konnte sich keine Rechenschaft geben, was mit ihr vorging und was sie so sehr fürchtete; sie suchte sich zu überreden, daß ihre Krankheit an allem schuld sei. Die Vernunft ließ sich überzeugen, doch das Herz wollte nicht daran glauben. Das Schlimmste war aber, daß es ihr schien, daß auch er sich fürchte.

Am Vorabend der Abreise war ein solcher Sturm, daß die Kaiserin hoffte, die Abreise werde aufgeschoben werden. Mit diesem Gedanken ging sie zu Bett. Sie erwachte beim ersten Morgengrauen, sprang aus dem Bett und lief barfuß zum Fenster, um nach dem Wetter zu schauen. Vom Meere kam wieder ein schwarzgelber Nebel wie neulich; sonst war es aber windstill, und der Sturm hatte sich gelegt. Sie horchte hinaus, um nach den Geräuschen im Hause festzustellen, ob er abreise. Es war aber noch zu früh. Sie legte sich wieder hin und schlief ein. Sie hatte einen schweren Traum. Das Herz stand ihr plötzlich still und es träumte ihr, daß sie sterbe. Sie erwachte und blickte wieder zum Fenster hinaus: der Nebel hatte sich verzogen, am blauen Himmel strahlte die Sonne. Vor dem Hause klangen Schellen: die Troika stand wohl vor der Türe. Sie hörte seine Schritte. Die Türe ging auf. Er trat ein.

»Sie schlafen nicht, Lise?«

Sie gab keine Antwort; sie lag unbeweglich, totenbleich und starrte ihn mit weit geöffneten Augen an. Das Herz stand ihr wieder wie im Traume still.

»Was haben Sie?« fragte er erschrocken.

Sie nahm sich zusammen, atmete auf und sagte lächelnd:

»Es ist nichts, ich habe etwas Kopfweh: nachts war es hier so schwül; das machte wohl der Nebel. Das Wetter ist ja heute herrlich!«

»Lise, um Gottes willen, erlauben Sie, daß ich Wyllié hole ...«

»Nein, es ist nicht nötig, ich bitte Sie darum. Fürchten Sie nichts, ich will vernünftig sein. Gott beschütze sie. Kommen Sie her, ich will Sie bekreuzigen. Geben Sie mir noch einen Kuß. So! Gehen Sie jetzt. Es ist die höchste Zeit. Ich will noch versuchen, einzuschlafen.«

»Lise, hören Sie doch auf mich, es wäre wirklich besser ...«

»Nein, nein, gehen Sie!«

Sie riß sich aus seinen Armen los, stieß ihn zurück, fiel in die Kissen und schloß die Augen. Er blieb noch etwas stehen, sah sie an und dachte, daß sie eingeschlafen sei. Er ging ganz leise auf den Fußspitzen zur Türe, blieb noch einmal stehen und blickte zurück. Und plötzlich mußte er an den Augenblick denken, als er die sterbende Sophie verließ; als er Sophie zum letzten Male anblickte, fragte er sich: »Soll ich nicht doch dableiben?«

Als er fort war, fühlte sie sich etwas erleichtert. Sie kam gleichsam zur Besinnung und wunderte sich, daß alles schon vorbei war. »Es ist die Krankheit,« sagte sie sich wieder und beruhigte sich allmählich. Die Angst hatte sich verflüchtigt, nur ihre gewohnte Trauer blieb zurück. Nach seiner Abreise wurde alles finster, farblos und matt. »Es ist wie eine Suppe ohne Salz,« sagte sie im Scherze.

Erst jetzt merkte sie, daß Taganrog ein ekelhaftes Nest war. Auf den Straßen sah man nur verschlafene Beamte, zerlumpte Bettler, Soldaten in abgetragenen Uniformen, schwarze Griechen und türkische Matrosen mit Räubergesichtern. Die Fischtrockenschuppen verbreiteten einen Geruch von faulen Fischen. Im Hafen war das Meer so seicht, daß, wenn der Wind von der Steppe blies, der schlammige Grund zum Vorschein kam und die ganze Luft mit übelriechenden Ausdünstungen verpestete. Der Nordostwind war scharf wie Zugluft. Selbst an heiteren stillen Tagen kam plötzlich vom Meere her der schwarzgelbe Nebel, der nach Moder und Gräbern roch. Und auf der Kirche des heiligen Konstantin und Helena läuteten die Glocken so traurig wie Sterbeglocken.

Auch das Palais war eigentlich gar nicht so schön, wie es ihr anfangs schien. Durch alle Fenster zog es, die Öfen rauchten. Es gab eine Unmenge von Mäusen und Ratten. Eine Maus sprang einmal der Hofdame Walujewa auf den Schoß; sie starb beinahe vor Schreck. Eine Ratte schleppte der Kaiserin ein Taschentuch fort. Nachts machten sie großen Lärm, als ob sie die ungebetenen Gäste vertreiben wollten. Vor den Fenstern heulten Hunde; man versuchte sie zu vertreiben, sie kamen aber immer wieder. Walujewa sah in allem schlimme Vorzeichen; sie hatte immer Angst, schmollte, weinte, heulte wie ein Hund und machte schließlich die Kaiserin so nervös, daß diese ihr untersagte, ihr je wieder unter die Augen zu treten.

Zwei Tage nach der Abreise des Kaisers erhielt die Kaiserin die Nachricht vom Tode des Königs von Bayern, des Gemahls ihrer Schwester Karoline. Sie war ihrer Schwester sehr zugetan und der Tod des Schwagers machte ihr großen Kummer; doch in der Tiefe ihrer Seele war die gleiche Freude, die ein Soldat in der Schlacht empfindet, wenn eine Kugel dicht an seinem Kopf vorbeisaust und seinen Kameraden trifft: »Gott sei Dank, es galt ihm und nicht mir!« Sie erschrak vor dieser Freude. »Und wie wäre es, wenn ...« stieg in ihr ein Gedanke auf; doch sie konnte ihn nicht zu Ende denken; das Herz stand ihr plötzlich still wie damals im Traume.

Am nächsten Tag bekam sie einen Brief vom Kaiser aus Perekop:

»Der so unerwartete Tod des Königs von Bayern erinnert uns wieder daran, wie sehr ein jeder von uns auf das Ende bereit sein muß. Es ist traurig, daß Sie diese Nachricht gerade während meiner Abwesenheit erhielten. Ich weiß zwar, daß Sie vernünftig sind, es wäre aber besser, wenn ich an Ihrer Seite sein könnte. Schreiben Sie mir sofort, wie Sie sich befinden. Ich fürchte über alles, daß Sie sich mit Karoline identifizieren werden. ( Que vous vous identifierez à Caroline.)«

»Ich werde mich erst dann beruhigen, wenn ich Sie wiedersehe, was, wie ich hoffe, schon in acht Tagen geschehen wird,« schrieb er ihr am 30. Oktober aus Bachtschissaraj.

Sie verfolgte auf der Karte alle Etappen seiner Reise: Perekop, Simferopol, Aluschta, Gursuf, Oreanda, Alupka, Bajdary, Balaklawa, das Georgskloster, Sewastopol, Bachtschissaraj, Eupatoria und dann, auf der Rückreise, wieder Perekop. Je näher er kam, um so lebendiger und heller wurde alles; es war, als ob die Sonne aufginge; alles bekam wieder Farbe und Geschmack: »Man tat Salz in die Suppe.«

»Nein, man darf nicht so lieben; es ist eine Sünde, Gott wird mich dafür strafen!« sagte sie sich voller Angst.

Der Kaiser sollte am 5. November nach Taganrog zurückkehren. Am 4. November war es wieder so sommerlich, wie es in Petersburg im August zu sein pflegt. Am Tage zogen am heiteren Himmel weiße Lämmchen, und die Sonne schien durch, bleich wie der Mond; gegen Abend verzogen sich die Wolken und die Nacht war so sternenklar, wie man es nur im Süden im Spätherbst sieht.

Abends vor dem Schlafengehen machte sie noch das Fenster im Schlafzimmer auf und atmete gierig die frische Luft ein, die so still war, wie das Atmen eines Kindes im Schlafe. Sie atmete und atmete und konnte sich gar nicht satt trinken. Nicht nur ihre Seele, sondern auch ihr Körper empfand eine selige Ruhe. Sie mußte an den Psalm denken: »Darum freuet sich mein Herz, auch mein Fleisch wird sicher liegen.« – »Wie schön, mein Gott, wie schön! Woher dieses Glück?« Kam es daher, daß sie ihn morgen wiedersehen sollte? Nein, nicht dies allein! sondern alles machte sie so glücklich: die Stille, das Meer, der Himmel, die Sterne. Alles was gewesen, was war und was noch kommen sollte war schön. Auch das, daß sie sich ihr ganzes Leben lang hatte so quälen müssen, und daß sie jetzt so glücklich war, war schön und sollte in alle Ewigkeit so bleiben.

Sie kniete nieder, hob die Augen zum Himmel, lächelte und weinte. Die Strahlen der Sterne brachen sich in ihren Tränen und schienen blau, lang und spitz. Es war ihr, als ob sie nicht vom Himmel, sondern aus ihrem Innersten kamen, als ob sie und die Sterne eins wären.

Sie weinte, betete und dankte Gott. »Karoline hat ihren Mann verloren,« fiel es ihr plötzlich ein. »Nun, es ist Gottes Wille ... Sie hat ihren Mann verloren ...« – »Und mein Mann ist noch am Leben,« hätte sie sich beinahe gesagt. Sie erschrak wieder: »Mein Gott, mein Gott, was habe ich wieder! Wie schlecht bin ich! Es kommt nur daher, daß ich ihn zu sehr liebe; – man darf nicht so lieben, es ist eine Sünde, Gott wird mich dafür strafen, vergib es mir, Gott, vergib es mir!«

Sie lächelte wieder und weinte: sie wußte, daß Gott es ihr vergeben werde, daß er es ihr schon vergeben hatte, und daß alles schön und gut war und in alle Ewigkeit so bleiben werde.


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