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Einundfünfzigstes Kapitel.

Die Sühne.

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Ich verbrachte nun fast einen vollen Monat zu Hause, der für mich voll schwindelnden, überschwinglichen Glückes war. Wir arbeiteten mit Leichtigkeit, entwarfen neue Verbesserungen und waren den ganzen lieben langen Tag heiter und vergnügt. Ich gab meiner Schwester einen getreuen und ausführlichen Bericht über Alles, was ich auf meiner Wanderung durch mein Königreich gesehen, und auch sie fühlte gute Lust, mit mir kleine Reisen zu machen. Auf diesen Vorschlag einzugehen, war ich damals nicht vorbereitet und blieb daher unentschlossen, denn ich traute mir zu wenig, um allein mit meiner Schwester durch jene weiten üppigen und wollüstigen Einöden zu ziehen.

Ich muß den Leser angelegentlich bitten, zu glauben, daß mir nie ein unreiner Gedanke zu Sinne gekommen war. Im schlimmsten Falle spekulirte ich nur auf die Zukunft, so daß ich mich nur in dem Bereiche möglicher Zufälle für schuldig halten konnte; denn ich hatte mit mir selber einen feierlichen Vertrag abgeschlossen, Honoria meine Ansicht über unsere Lage nicht früher vorzulegen, bis sie ihr ein und vierzigstes Jahr erreicht hätte.

Was ich vom Alleinsein mit meiner Schwester in jener weiten Wildniß fürchtete, war einzig, daß ich mich versucht finden könnte, gegen sie auf ein nutzloses und voreiliges Raisonnement einzugehen und so die Sünde einer Untergrabung ihres noch unreifen Urtheils zu begehen. Zu Hause hatten wir unsere Geschäfte und Vergnügungen. Jugurtha war stets in der Nähe, und bei seinem possierlichen Treiben war es nicht möglich, lange ernst zu bleiben.

Endlich machte mich die Ueberfülle meines Glücks unruhig, und ich wünschte demselben Bestand zu geben, was ich am besten zu erzielen hoffte, wenn ich es wieder für eine Zeitlang verließe. Ich hatte mir vorgenommen, eine zweite und ausgedehntere Reise zu machen. Der Strom, den ich nach dem Meere hin verfolgt hatte, rann fast gerade nach Süden und hatte natürlich seine gelegentlichen Krümmungen; wäre übrigens eine Linie von unsern Hütten bis zur Mündung gezogen worden, so glaube ich, daß sie voll nach Süden gelaufen wäre.

Unmittelbar nach Westen und vor unserer Wohnung, desgleichen im Osten lag in nebeligter Ferne eine ziemlich hohe Gebirgskette, zwischendurch aber eine weite Vista, welche nur durch den Horizont begrenzt wurde. Ich folgerte daraus, wenn sich irgend ein beträchtlicher Strom westwärts ziehe, so könne er nur durch diese Oeffnung seinen Weg nehmen, weshalb ich mir vornahm, meine Wanderung nach dieser Richtung hin auszuführen.

Die Ankündigung meines Vorhabens hatte abermals eine Scene des Kummers zur Folge. Dießmal bestimmte ich meine Abwesenheit auf eine volle Woche und belud mich deshalb mit einer großen Menge getrockneten Mundvorraths. Da ich mir einen voll westlichen Weg vorgenommen hatte, so zweifelte ich nicht, meinen Rückweg wieder zu finden, wenn ich mir die Sonne zum Wegweiser nahm. Auch hatte ich außerdem noch andere Merkzeichen kennen gelernt. In dem hohen Gras blühete allenthalben eine schöne, blaue Blume, welche stets ihren zierlichen Kelch nach Südwesten neigte; ferner wuchs ein kleiner Baum in der Gegend, dessen Rinde im Süden eine weiße Linie hatte, und außerdem war ich in einem gewissen Grade bereits ein Waldmann geworden.

Ich brach Morgens früh auf, ohne diesmal den Hund mit mir zu nehmen; auch duldete ich nicht, daß Jugurtha oder Honoria mich eine Strecke weit begleiteten. Wie bei meinem früheren Ausfluge bewaffnet, hielt ich so viel möglich eine gerade Richtung ein, schritt über Savannen, kletterte über Berge, stampfte durch sumpfigten Grund und brach mir durch dichtes Gebüsch Bahn, so daß ich gegen ungefähr zwanzig Meilen zurückgelegt hatte, als ich endlich an dem Fuße des Gebirgslandes anlangte.

Ich wählte mir einen großen alten Baum, der seine Zweige sehr bequem wie die Radien eines Kreises ausbreitete, und nahm auf demselben mein Nachtquartier. Da ich nach meinem scharfen Gange ein gutes Mahl eingenommen hatte, so that ich einen sehr gesunden Schlaf.

Als ich nach dem höher gelegenen Lande hinaufstieg, fand ich die Gegend viel offener. Endlich erreichte ich den Gipfel des höchsten Berges und entdeckte daselbst mehrere kleine Bächlein, welche nach links liefen. Auf der andern Seite wanderte ich über weite Ebenen, die mit Waldbäumen von edlem Wuchs bedeckt waren. Dieser Theil des Landes war sehr ausgedehnt und endigte gegen Westen in ein ziemlich offenes Waldland, wo die Bäume dichter standen, desgleichen auch das Unterholz sich reichlicher vorfand.

Ich hatte jetzt bereits einen so weiten Strich durchwandert, ohne eine Spur von Einwohnern zu finden, daß ich meine Hoffnungen aufgab und der festen Ueberzeugung lebte, daß ich und meine kleine Gesellschaft die einzigen Inhaber des Gebietes seien. Aber man denke sich meine – ich kann nicht gerate sagen freudige Ueberraschung, als ich in meinem achtlosen Weitergehen durch's Gebüsch an einem Kaffeestrauch etwa fünf Fuß über dem Boden etliche Zweige abgebrochen fand. Einige von den zarteren Zweigen waren auf die Erde gefallen, andere aber zurückgebeugt und nicht ganz von dem Mutterstrauch abgebrochen.

Ich hatte noch kein so großes Thier gesehen, welches ich für die Ursache hätte halten können, obschon daraus nicht gerade folgte, daß nicht dennoch ein solches vorhanden war. In tiefem Brüten über dieses Merkzeichen hielt ich meine Waffen in Bereitschaft und ging mit größerer Vorsicht weiter. Meine Bedenken, ob ich mich in der Nähe von Menschen oder Thieren befinde, wurden bald zerstreut, denn ich war keine weiteren zweihundert Schritte vorgerückt, als ich an ein geplündertes Bienennest kam.

Der schöne Traum von meinem künftigen Königreich brach bei dem Anblicke des hohlen, alten Baumstrunks zusammen, der niedergeworfen und zum Theil angebrannt war. Ich wußte in der That damals nicht, und weiß es auch jetzt noch nicht, ob ich über diese Entdeckung mehr erfreut oder bekümmert war.

Wie man's bei dergleichen Dingen zu halten pflegt, begann ich alsbald über die Sache Erwägungen anzustellen. Vielleicht war das Ganze nichts, als eine Spur von dem Treiben einiger Wilden, welche in ihren Kanoes gelandet, sich mit einem Spaziergang vergnügt und dann wieder Abschied genommen hatten. Die Eindringlinge mußten nicht gerade Bewohner des Landes sein, so daß also die Herrschaft der Insel noch immer mir belassen blieb. Je weiter ich ging, desto fester wurzelte diese Ansicht, denn ich konnte keine weitere Merkmale der Anwesenheit von Menschen finden.

Da jetzt der Abend herannahte, so hatte ich nicht weiter zu thun, als nach einem Nachtquartier zu fahnden und mich dem Hotel der Natur anzuvertrauen. Das Gemach, mit welchem sie mich Tags zuvor versehen, wollte mir nicht zum Besten gefallen, denn wie bequem, sicher und luftig es auch sein mochte, waren doch die Dielen schrecklich uneben gewesen, und obgleich ich gut geschlafen hatte, fühlte ich mich doch beim Erwachen sehr krämpfig in den Gliedern. Ich beschloß daher, mir eine Kammer und ein Bett aufzusuchen, von dem ich nicht herunterzufallen fürchten mußte, wenn ich mich in einem unruhigen Schlummer bewegte. Ich hatte nicht weit zu spähen. Eine Masse von Felstrümmern bot mir eine hohe, recht hübsche Platform, auf welcher ich meinen Mantel ausbreitete. Nachdem ich reichlich zu Nacht gespeist und für die Sicherheit derjenigen, welche ich zurückgelassen, gebetet hatte, legte ich mich auf den Rücken, faltete meine Hände über der Brust und schloß meine Augen, geduldig dem beschwichtigenden Schlafe entgegensehend.

Er kam, weilte aber nicht lange. Nachdem er mir einige angenehme Dinge in's Ohr geflüstert und in seinem traumumwölkten Spiegel viele schöne phantastische Bilder gezeigt hatte, verließ er mich wieder, damit ich der kalten Nachtluft und des auf meine Stirne niederfallenden Thaues bewußt würde.

In Anbetracht der mühsamen Reise, die ich für den andern Tag vorhatte, freite ich mit derselben Beharrlichkeit um den Schlummer, als er mich zu fliehen geneigt schien. Ich besann mich auf die vielen einfachen Hülfsmittel, von denen ich gehört hatte, und versuchte sie der Reihe nach, ohne übrigens einen Erfolg davon zu sehen. Endlich beschloß ich an eine ermüdende Aufgabe zu gehen – ich fing nämlich an, die Myriaden Sterne zu zählen, welche so klar und wohlwollend auf mich niederzublicken schienen. Da das tiefe Blau über mir immer dunkler und die kleinen Punkte immer heller wurden, so verwirrte ich mich unaufhörlich in meiner Beschäftigung. Dieses Hervortreten in ein leuchtenderes Dasein vereinigte sich so innig mit meinen Vorstellungen von Bewegung, daß ich mich zu wundern begann, warum die größeren und helleren Sterne nicht dasselbe Privilegium ausübten; aber bald nachher begann ich zu bemerken, daß sie von dem, was ich für ihre Berechtigung hielt, wirklich Gebrauch machten, wenn ich anders nicht träumte.

Um mich von der Wirklichkeit des einen oder des andern zu überzeugen, raffte ich mich aus meiner ruhenden Stellung zum Sitzen auf und blickte umher. Ich konnte sehen, daß hier keine Täuschung obwaltete, denn in dem klaren Sternenlichte war Alles wie zur Zeit, als ich mich niedergelegt hatte. Ich konnte sogar, obgleich nur matt, den Bananasbaum entdecken, von dem ich kurze Zeit zuvor gepflückt und gegessen hatte. Die untere Welt stand unbeweglich in ihrer schattenhaften Wirklichkeit. Die Bäume, die offenen Stellen und die Umrisse der wenigen Berge wechselten nicht; aber oben am Himmel fand eine harmonische Bewegung statt. Mit aufgeregtem Geiste, obwohl mein Körper von dem erdrückenden Gefühle der Ermattung überwältigt wurde, legte ich mich wieder auf den Rücken nieder und sah dem langsamen, wirren Tanze der Sphären zu.

Dumpf und doch großartig tief, wie das ferne Stöhnen sich legender Meereswellen, drang jetzt eine Musik und die Stimme zahlloser Harmonien in mein Ohr. »Dies,« sagte ich zu mir selbst, »ist nur das mystische Werk eines alten Aberglaubens und neckt meinen Geist, der, so zu sagen, im Gleichgewicht zwischen Schlafen und Wachen liegt. Ich sehe, aber ich glaube nicht – ich höre, kann aber das Vorhandensein eines Tones nicht anerkennen – es ist Alles Sinnentäuschung. Doch wenn dies,« fuhr ich fort, als der Hymnus voller tönte, »wenn dies kein Traum ist, so laß mich mit Bestimmtheit die Worte hören und ich will glauben. Ich bin kein Dichter – ich habe in meinem Leben nie einen Vers machen können – was über mir vorgeht, ist nur eine hehre Täuschung – nichts Anderes, als eitel Illusion.«

Kaum hatte ich so mit mir selbst gesprochen, als die großartige Choralsymphonie betäubend mein Ohr traf; sie stürmte nicht länger dahin in Strömen unbestimmter Harmonieen, sondern ich vernahm Worte mit vollkommener Intonation. Nie zuvor hatte ich mir die menschliche Sprache so erhaben vorstellen können. Der Hymnus, der triumphirende Hymnus der Sterne wird sich nie aus meinem Gedächtnisse verwischen lassen. Ich will ihn den Spöttern nicht vorlegen, denn wenn das geistige Auge nicht von dem Nebel der Sünde, der vor ihm liegt, gereinigt ist, so kann er das nicht begreifen, was sein Spott so leicht abzufertigen weiß. Sind ja nicht einmal die heiligen Worte der Gottheit von Entweihung frei geblieben.

Nachdem der Lobgesang, dem ich mich unwillkürlich angeschlossen, zu Ende war, schien das ganze Universum in langsam abgemessenem und wehmüthigem Tone zu rufen:

»Wir werden vergehen – unser Licht muß in die Nacht der Vergessenheit sinken; aber die Söhne des Menschen und die Erben Gottes werden in einem Glücke leben, der für immer dauert. Der Mensch darf sich freuen, denn für ihn gibt es keinen Tod.«

Dies war der Inhalt des tieftönenden Valets. Ich gebe nicht die Worte oder ihre Metrum, obgleich Beides unzerstörlich in mein Gehirn eingebrannt ist.

Hierauf hüllte sich für eine Weile Himmel und Erde in ein furchtbares Schweigen. Von dem Mittelpunkte des gewölbten Domes über mir rollten die Sterne, wo sie sich am meisten häuften, auseinander, wie Diamanten aus einem Metzen, und das unzerstörliche Blau des Firmaments riß, meinem Auge die Vorhöfe der Engel enthüllend. Ich sah ein gewaltiges, aber sehr mildes Licht, das, trotz seiner ungemeinen Helle und Reinheit, doch meine Augen nicht blendete. Während ich mit festem Blicke in diese Vista von Schönheit schaute, bemerkte ich drei Throne, den einen rechts, den andern links und den dritten in der Mitte erhöht. Ich erkannte in ihnen den Thron der guten Gaben links und den Thron der Barmherzigkeit rechts, der mittlere aber, der Thron der Gerechtigkeit war furchtbar anzusehen, denn Blitze zuckten von seinem Baldachine nieder.

Diese Throne waren leer, und weder die Engel der Erkenntniß, noch die Engel der Liebe befanden sich in den weiten prachtvollen Höfen. Mein Herz wollte vor Sehnsucht bersten und drängte mich, hinzugehen, mich vor dem Throne der guten Gaben auszustrecken und inbrünstig zu beten. Ich wußte jedoch, daß ich mich nicht auf Fittigen eines Seraphs in die Nähe des Unsichtbaren schwingen konnte, um daselbst niederzufallen und anzubeten. Wie ich regungslos dalag, entströmten reichliche Thränengüsse meinen Augen. Inmitten meines Weinens entdeckte ich eine weibliche Gestalt, die in meiner Nähe stand und in süßgedämpfter Stimme zu mir sagte: »Ardent, stehe auf!« Ich antwortete: »Ist es Honoria?« und die Stimme sagte wieder: »Blicke auf und siehe.« Es war nicht Honoria, die an meiner Seite stand, sondern Donna Isidora.

Nachdem ich sie eine Weile angesehen, bemerkte ich, daß sie überschwenglich schön war, und aus dem milden Glanze ihrer Augen regnete sie Wohlwollen und herzerhebende Liebe auf mich nieder. Ich wunderte mich sehr, daß ich sie schon so oft angesehen und doch nie zuvor entdeckt hatte, wie ihre Anmuth von Ewigkeit her geschaffen zu sein schien zu einer Begleiterin für mich, sobald Reue und Vergebung mich von allen sterblichen Mackeln gereinigt hätte.

»Woher kommt Ihr, Isidora, in dieser Schönheit? Sagt mir, täuschen mich meine Sinne oder seid Ihr wirklich in meiner Nähe?«

»Ich bin's.«

»Woher kommt Ihr?«

»Von dem durch Zeit und Sturm morsch gewordenen Schiffe, das auf dem Wasser hin- und hergeworfen wird. Ich bin nur im Geiste bei Euch; der gebrechliche Leib liegt, meiner Trennung von ihm unbewußt, in einem lethargischen, aber doch unruhigen Vergessen. Er ist nicht, wie Ihr mich seht; nein, jener Leib ist welk und abgezehrt.«

»Guter Gott!« rief ich mit Nachdruck. »Aber welche Kunde bringt Ihr mir von meinem Vater – von meiner Mutter?«

»Verschont mich – ich kann nur meine Sendung erfüllen. Ich bin hier, um Euch zu den Füßen des ewigen Thrones zu führen – steht auf und kommt.«

»Ich wollte, daß du Honoria wärst – gemeinschaftlich könnten wir dann ihre Sache vortragen.«

» Deine Sache! Aber komm.«

»Machst du mich zur Zielscheibe deines Spottes, Isidora? Ich kann nicht einmal meine schwere Rechte von der gelähmten Seite erheben; mein Körper ist nichts weiter als ein Thonklumpen, an die Erde gefesselt.«

»Verlaß ihn.«

»Aber wie, meine englische Isidora?«

»Du darfst nur wollen und glauben. Ich habe keine Schwingen, und siehe, ich steige nieder. Was kann nicht der Glaube vollbringen?«

Wie soll ich das Gefühl schildern, das mich durch schauderte, als ich empfand, daß sich meine Seele von ihrer sterblichen Hülle loslöste! Alle meine Besinnung blieb mir und mein Wesen war ganz dasselbe, obschon es mir vollkommener vorkam. Endlich stand ich auf der Brust meines kalten Erdenleibs und blickte darauf nieder, wie etwa der Bildner des Marmors auf ein Werk seiner eigenen Hände.

»Du hältst dein sterbliches Tabernakel für Etwas, das Bewunderung verdient,« sagte die sanfte Stimme meiner Begleiterin.

»Ich bekenne offen die von der Erde stammende Eitelkeit.«

»Könntest du dich nur sehen, Ardent, wie ich dich schaue.«

»Mein gegenwärtiger Zustand von Sein birgt eine so glückliche Aufregung, daß ich ihn gerne nie wieder verlassen möchte; aber dennoch fühle ich eine so große Zuneigung zu der leblosen Masse unter mir, daß ich weinen könnte, wenn ich sie vermodern und in Fäulniß übergehen sehen muß.«

»Du wirst noch viele Jahre mit ihr zu thun haben. Doch verlasse sie jetzt für eine kleine Weile – erhebe dich.«

Ich gehorchte und schoß in einem Nu durch einen fast endlosen Raum. Ich meinte, das Schlagen vieler Schwingen und den feierlichen Tritt zahlloser Heerscharen zu hören; aber Engel, Himmelsfürsten, Gewalt und Herrschaft sah ich nicht. Mein Herz und meine Adern schienen so voll thätigen Blutes zu sein, als wühlte ich noch auf der schlammigen Erde; aber es erstarrte plötzlich, als ich jene unsterblichen Höfe betrat. Dennoch eilte ich rasch weiter und kniete ehrerbietig vor dem Throne der Gaben nieder. In diesem Momente blickte Isidora liebevoll, aber mit Zweifeln und Besorgniß auf mich herab.

Zitternd betete ich um das, woran zu denken schon ein Verbrechen war.

Ich schauderte, als ich meine unheilige Bitte vollendet hatte. Als ich mich umwandte, um auf meine Begleiterin zu blicken, fand ich ihr schönes Antlitz von Grauen entstellt und in Thränen gebadet. Ein ergreifender Vorwurf träufelte aus ihrem Auge und mischte bittere Galle in mein Herz. Allein lange sollte ich nicht Zeuge ihres Schmerzes sein. Ohne zu wissen, ob mein sündiges Gesuch erhört war, wurde ich unwillkürlich vorwärts gedrängt an den Thron der Gerechtigkeit, und nun begann das Elend meiner Vision. Alles, was zu sehen und zu hören am schrecklichsten ist, brach mit einemmale auf mich herein. Zungen lebendigen Feuers ohne eine Hand, sie zu leiten, kamen und brannten auf meine Stirne das entsetzliche Wort – nein, ich will es nicht niederschreiben. Mein neuer Leib, tausendmal empfänglicher, als der irdische, schien in Stücke zerrissen zu werden, blieb aber dennoch stets ungetrennt. Jeder bebende Nerv war eine gesonderte, lebendige Qual. Aber alle diese körperlichen Foltern waren nichts gegen die Leiden meines Geistes. Die Furcht erkältete mich zu Eis und der erstarrendste Schrecken bemächtigte sich meiner. Die Verzweiflung stieß ihr bitteres Anathema aus, das für immer, immer und immer dauern sollte. Schreiend, entsetzt, und wie vom Donner gerührt, suchte ich zu fliehen, um den Thron des Erbarmers zu erreichen; aber neidische Klüfte von unermeßlichen Tiefen, thaten sich zwischen mir und dem leuchtenden Altare, den ich suchte, auf. Ich stürzte hinunter und fiel – fiel – fiel in eine Ewigkeit fort. Und während meines Falles kam ich durch eine Hitze, die unverträglicher brannte, als das Schlimmste, was wir uns von dem höllischen Feuer denken können. Dann durch eine grimmige Kälte, welche mir jedes Glied so spröde erstarren zu machen schien, wie das feinste Glas. Kreischend stürzte ich weiter – endlich durch eine erstickende Leere. Wie schmerzlich mühte ich mich nach ein wenig – nach ein klein wenig Athem; wie sehnte ich mich, zu platzen und zu vergehen, wie eine Blase; aber immer noch fiel ich – weiter – weiter und weiter.

Die Zeit hatte ihre letzten Berichte ausgelöscht und konnte nur nach Ewigkeiten messen. Der Schmerz eines menschlichen Augenblickes schien die Gewalt und Dauer von Menschenaltern zu haben. Qualen hatten kein anderes Maß, als das der furchtbarsten Heftigkeit. Und noch immer fiel ich. Nachdem ich dies, so weit meine Leiden zu rechnen gestatteten, Jahrhunderte erstanden hatte, sagte ich zu mir selbst: »Ich will meinen allgewaltigen Willen – allgewaltig wenigstens über mich selbst – anspornen. Wenn er mich von der Erde nach dem Thron des Himmels zu heben vermochte, so ist er vielleicht auch im Stande, dieses Gefühl zu bannen, damit es nicht ewig fortdaure. Meine Augen sollen nicht länger abwärts gerichtet sein.«

Und im Nu hörte das Stürzen auf. Meine nach oben gerichteten Augen erschauten den unermeßlichen Abgrund, durch welchen ich gefallen war. Zu meinem unaussprechlichen Trost vermochte ich noch immer den Thron der Gnade zu schauen, an dessen Füßen Isidoras Gestalt ausgestreckt lag. Ich rief sie bei Namen und sie erhob sich. Ich rief ihr zu, daß ich aus dem Grunde meines Herzens bereut habe, und bat sie, meine Fürsprecherin zu werden. Sie kniete dann zum Gebete nieder und ich rief den Einen heiligen und erhabenen Namen. Augenblicklich minderten sich meine Qualen. Die Wände der ungeheuren Kluft, in welcher ich frei schwebte, wichen zurück und rollten in die Ferne, wie die Nebel eines Sommermorgens.

Und Isidora war wieder in meiner Nähe. Noch einmal traten meine Füße auf die feste Erde, und die flockigen Wolken schwebten über meinem Haupte an dem blauen Himmelsgewölbe hin. Hand in Hand wandelten wir weiter in wehmüthigem, süßem, ergreifendem Gespräche.

»Und wohin gehen wir, meine Isidora?«

»Ardent, Geliebter meiner Seele, nach den Ufern des Meeres.«

Und wir wanderten fort – auf einem Wege, der mir endlos lang dünkte, aber doch sehr angenehm war. Meine Frage lautete noch immer: »Wohin gehen wir?« Und die Antwort war stets dieselbe: »Nach dem Meeresufer.«

»Aber warum, meine Isidora?«

»Du wirst dort deinen Vater, deine Mutter und mich finden.«

»Aber bist du nicht segnend hier an meiner Seite?«

»Ich bin nur bei dir, Ardent, um zu hören, wie du im Namen dessen, der auf dem Throne der Gerechtigkeit und des Erbarmens sitzt, dem heißgehegten, obschon noch unbegangenen Verbrechen deines Herzens entsagst.«

»Meine Augen sind offen, Isidora – ich habe die ewige Güte geschaut und kenne sie jetzt. Bei jenen gefürchteten Namen entsage ich für immer meinem verbrecherischen Wunsche, den ich bitter bereue. Nur an dich, Isidora, will ich mich anklammern, als an meine Braut.«

»Es ist genug. Wenn du den Kelch der Reue bis zur Hefe getrunken hast – wenn deine Sühne vollständig ist, steht dir noch ein lange andauerndes Glück bevor.«

»In dir?«

Ich blickte nach Antwort auf – und war allein. Nun versank ich in eine tiefe Schwermuth und glaubte gelegentlich die Luft bitter kalt zu empfinden, da sie meiner nur allzu empfindlichen Verkörperung bis in die Knochen schnitt. Meine Seele sehnte sich nach ihrem gröberen Leibe. Der Wille allein war nicht länger zureichend für die Ortsbewegung. Ich hatte mich durch die frostige Luft vorwärts zu arbeiten, bis ich mich nach einer Wanderung vieler Stunden der Stelle näherte, von wo aus ich, wie ich wußte, mit Isidora aufgebrochen war. Dann begann ich heftig zu zittern, wenn ich mich erinnerte, wie viel Jahre ich meine vergängliche Hülle verlassen hatte; ich fürchtete, nur noch eine faule Masse von Verwesung oder ein Häuflein gebleichter Knochen zu finden. Aber wie groß war meine Freude, und wie laut mein Dank, als mein Leib noch immer in seiner männlichen Schönheit dalag, ohne von Moder berührt zu sein. Ich sehnte mich in denselben einzutreten, wie das gezankte Kind nach dem Mutterbusen verlangt. Einen Augenblick fürchtete ich, für immer körperlos bleiben zu müssen, und doch dem Schmerz der Kälte, dem Hunger und der Ermattung zugänglich zu sein – ein Wesen, dem der Zugang zum Himmel verschlossen war, und das doch von den Menschen nicht anerkannt wurde – ein wildes Spielzeug der Winde – denn ich wußte, daß ich, obgleich unendlich verfeinert, doch kein bloßer Schatten, keine bloße Eigenschaft, kein bloßer Gedanke war. Mein veränderter Zustand hatte mir übrigens keine größeren Kenntnisse verliehen – ich wußte nicht, wie ich mich wieder mit meinem Ich amalgamiren sollte, und die Kälte wurde mittlerweile immer eindringlicher.

Die Sonne ging unter, und ich dachte immer noch über meinen kläglichen Zustand nach, als ich zu meinem grenzenlosen Entsetzen und Zorne einen ungeheuren Geier, den unfläthigsten von dieser schmutzigen Rasse sah, der sich auf die Brust meines Leibes niederschwang, seinen kahlen Hals ausstreckte und den scharfen, krummen Schnabel dem rechten Auge meines sterblichen Ichs näherte. Die Trennung eines einzigen weiteren Momentes, und er hätte ihn durch die Augenhöhlen bis in mein Gehirn begraben. Ich packte den fleischfressenden Epikuräer an seinem langen, klebrigten Halse, drosselte ihn, bis das Ungethüm todt war, und schleuderte dann das schnöde Aas weit hinweg.

»Komm, Ardent,« sagte ich zu mir selbst, meinen rechten Arm anfassend, »es ist hohe Zeit, daß du aufstehst und dich rührst. Was würde im besten Falle Isidora zu einem einäugigen Freier sagen? Raffe dich auf, Mensch, oder wir werden nicht nur die Brüder oder die Schwestern des Gentleman mit der nackten Kehle, sondern auch seine ganze Verwandtschaft zu Hunderten abfertigen müssen; denn ich sehe eine ganze Heerde von schwarzen Schwingen die Scheibe der untergehenden Sonne verdunkeln.«

Ich machte einen gewaltsamen Ruck, um mich aus meiner liegenden Stellung aufzuraffen – und ich, der arme, wahrhafte, mit Haut und Knochen bekleidete Ardent Troughton, fand mich allein mit rheumatischen Gliedmaßen, während ein lebendiger Geier mit langsamen, schlagenden Schwingen schwerfällig und widerstrebend von mir wegflog.

Die Sonne war jedoch nicht im Untergange begriffen, sondern erst seit etwa zwei Stunden am Himmel. Anfangs war ich ganz steif und spürte viel Schmerz; als ich mich jedoch aufraffte, fühlte ich mich sehr hungrig. Ich hatte mich gut vorgesehen, und deshalb diese gemeine Widerwärtigkeit bald beseitigt, obschon ich mich nicht genug über die Masse von Nahrung wundern konnte, die ich zu mir nehmen mußte. Um mich einer einfachen, aber nachdrücklichen Phrase zu bedienen, stand ich auf, nahm meinen Stab und ging weiter, anfangs zwar steif und lahm, obschon allmählig meine gewöhnliche Kraft und Gliederelasticität wiederkehrte.

Aber mein Geist war ein wahres Chaos und nur mein Gedächtniß vollkommen. Dieses berichtete mir treu jedes Jota, das ich in meinem schlafenden Gesichte oder in meinem visionären Schlafe gesehen. Sechsunddreißig volle Stunden hatte ich im Traume oder in einer Entzückung gelegen – eine Thatsache, die sich nachher über alle Möglichkeit des Zweifels herausstellte. Man wird sich auch nicht darüber wundern, wenn man erfährt, daß ich mich mit einer narkotischen Beere, von den Einwohnern einiger Südseeinseln Kircurru genannt, die ich irrthümlicherweise für wilde Trauben gegessen, vergiftet hatte.

Ich entsann mich eines jeden Wortes aus den Hymnen, die ich gehört zu haben glaubte, fand aber, als ich sie bei hellem Tage wiederholte, daß es nur sehr unbedeutende Verse waren. Sterne können übrigens recht gute und helle Sterne sein, ohne sich gerade auf Dichtkunst zu verstehen, und es wäre fast sündig, zu glauben, daß sich unter den himmlischen Heerschaaren nur ein einziger Poet befinde – denn wenn dies der Fall wäre, würde sich wenigstens ein streitsüchtiges und unglückliches Wesen darunter bergen.

Soviel ist übrigens gewiß, daß ich, sobald mein Geist seine Spannkraft wieder gewonnen, aus dem, was ich gesehen hatte oder gesehen zu haben glaubte, eine tiefe Lehre zog. Reinere und bessere Gedanken faßten allmählig in mir Wurzel. Ich rief mir das Andenken an Isidora häufiger und inniger zurück; auch begann ich mit weniger Widerwillen auf die Wahrscheinlichkeit zu blicken, daß ich wahrscheinlich nicht länger im Stande sein werde, ein mächtiges Reich zu gründen. Aber alle diese Betrachtungen dienten zu einer tiefen Demüthigung meines Inneren, und ich hielt mich nicht mehr für einen gerechten Menschen. Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß ich meine Fehler durch die maßlosen Leiden, die ich erstanden, gesühnt habe. Wäre ich ein Katholik gewesen, so würde ich fest an die Thatsache geglaubt haben, daß ich in wenigen Stunden Jahrhunderte des Fegfeuers durchmachte. Was hat menschliche Zeitberechnung mit der Allmacht zu schaffen? Aber ich nahm mir vor, mich nicht von der Verbindlichkeit einer tiefen Reue entbunden zu halten. Mein ganzes Leben sollte ein Leben der Sühne sein – nicht bloßer Lippendienst aus Gebet und lauten Hymnen, sondern eine Aufopferung meines eigenen Glückes zum Besten Anderer – der feste Wille, in Demuth vor Gott meinen Mitmenschen alles das Gute zu erweisen, das in meinen Kräften stand.

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