Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunundvierzigstes Kapitel.

Ist lang und bedarf deshalb einer kurzen Vorrede. – »Zwischen Lipp' und Bechers Rand, steht noch manche Scheidewand.«

—————

Wir müssen nun mit wenigen Worten die Lage der ursprünglichen Veranlassung zu allen diesen Schrecken berühren – ich meine die Lage des Don Rodrigo Mantez, Kommandeurs der unkommandirten Santa Anna. Es gibt keine größeren Unterschiede in den Attributen des individuellen Menschen, als in den Eigenschaften, welche ihn befähigen, Schmerz zu fühlen. Auf die Einen machen die schwersten Leiden nur einen geringen Eindruck, und Andere nehmen sich unbedeutende Mißgeschicke höchst schwer zu Herzen.

Ein alter Philosoph hat gesagt, der körperliche Schmerz sei das Unerträglichste von allen Uebeln. Man muß ein großer Philosoph sein und eine fast unbegreifliche Geistesreinheit besitzen, um dies glauben zu können. Die Qual eines Uebels steigert oder mindert sich je nach der Empfänglichkeit des Mediums, durch welches es seine Thätigkeit äußert.

Der Träge muß stets die Ansicht unseres Philosophen theilen, daß ein körperliches Weh das Unleidlichste sei. Hierher gehören auch die Memmen und gemeine Seelen. Sie ließen sich lieber an dem Pranger verhöhnen, von dem Henker anspeien oder ihre Eltern mit Ehrlosigkeit brandmarken, als daß sie ein rundes Dutzend von der neunschwänzigen Katze hinnähmen. Für solche Geschöpfe ist freilich körperlicher Schmerz das größte Uebel. Ein Gleiches mag auch, wie ich zuvor gesagt habe, obschon aus einer ganz andern Ursache, bei einer sehr reinen Seele der Fall sein, da bei ihr ein übermäßiger geistiger Schmerz keinen Zugang finden kann. Alle Thüren sind verrammelt, denn Religion, Frömmigkeit und ein gutes Gewissen stehen an jeder Oeffnung Wache. Sie kann nicht einmal die Verbrechen, die Andere begehen, begreifen, weshalb ihr Gewissensqual und jedes Gefühl, das einen tödtlichen Stachel in sich birgt, unbekannt ist. Sie hat nichts zu fürchten, als physisches Leiden, und kann wohl wegen ihrer Unfähigkeit, andere kennen zu lernen, behaupten, daß »körperlicher Schmerz das unerträglichste Uebel ist«. So treffen die Extreme zusammen, und der Edle wie der Erbärmliche bekennen sich zu demselben Glauben.

Aber lassen wir den Stolzen, den Leidenschaftlichen und den Rachsüchtigen sprechen – hört auf die schrecklichen Worte des Schuldbewußtseins – oder auch nur auf das Rasen eines beraubten Geizhalses. Welche scharfsinnig erfundene Folter vermöchte ihnen einen ähnlichen Schmerz beizubringen? Mit triumphirender Freude würde vielleicht der Mörder nach dem Rade eilen, wenn er seine That ungeschehen machen könnte, und sogar der schmutzige Zusammenscharrer von Gold ließe lieber Verstümmelung und Amputation über sich ergehen, als das bittere Leid, sich nur von dem kleinsten Theile seines ihm nutzlosen Quarks zu trennen.

Nach diesen Betrachtungen kann ich – und wohl auch der Leser, einigermaßen denken, welcher Schmerz unablässig an dem Herzen des Don Mantez fressen mußte, welches jeder geistigen Qual so offen dalag. Er war stolz und jetzt ein Gegenstand der allgemeinen Verachtung, die man nicht einmal vor ihm bergen mochte. Dem Ehrgeize hatte er seine unsterbliche Seele geopfert, sich selbst zu einem vielfachen Mörder gemacht, aber dadurch nur Schande und Schmach auf sich gehäuft. Er war habsüchtig und sah jetzt den ganzen Gewinn, für den er Alles gewagt hatte, in den Händen derjenigen, die er für die Schlechtesten unter den Schlechten gehalten. Und sogar diese verachteten ihn jetzt.

Auch in einem Punkte, wo der Mann am wenigsten Geringschätzung ertragen kann, sah er sich verschmäht – verschmäht in seiner Liebe. Aber trotz dieser ganzen Schaar herzzerreißender Empfindungen lebte doch noch sein leidenschaftlicher Durst nach Rache. Dieser war die ganze Stütze seines Daseins – Alles, was ihm geblieben war, um seine memmenhafte Seele in ihrem welken Körper festzuhalten.

Er blieb fast unausgesetzt in seiner Kajüte unter der Kampanje eingeschlossen. Niemand suchte ihn dort auf, und wie ein schmutziges, feiges Raubthier stahl er sich nur Nachts hinaus, um Nahrung und Wasser zu suchen. Dies wiederholte er blos nach langen Zwischenräumen, da er sich stets für viele Tage versah, und die Wenigen, welche ihm bei diesen seltenen Gelegenheiten begegneten, fluchten ihm oder mißhandelten ihn mit Fußtritten, da sie ihm ausschließlich alles erduldete Elend zur Last legten. Der Mannschaft war er ein Dorn im Auge und ein Gräuel

Von dem Zustande meines Vaters in jener Periode will ich nicht viel sagen. Ein ruhiger, possierlicher Kleinmuth hatte sich seiner bemächtigt. Er aß, trank und wurde auf eine recht trübselige Weis scherzhaft Seine Bücher mochte er nicht mehr untersuchen: er hatte auf jedem Blatte seines Hauptbuches die Bilanz gezogen und auf die Debitseite mit großen Buchstaben die Worte: »Dr. den widerlichen Zufällen an Bord der Santa Anna« geschrieben, ein Posten, der just die ungeheure Bilanz auf der Gläubiger-Seite, sein ganzes Vermögen, deckte und so Alles ausglich.

Er hatte mit der Zeit eine wunderbare Zuneigung zu dem Silberlöffel gewonnen, mit dem er sich jetzt nicht nur unterhielt, sondern auch speiste und trank. Er betrachtete ihn als einen Schelm, obschon nur in ganz bescheidener Weise, der vielleicht triumphirend Einen um ein Sechspencestück betrog, aber gewissenhaft ehrlich blieb, wenn man ungezählte Tausende seiner Obhut anvertraute. Ich glaube wahrhaftig, daß mein Vater ohne die Nasenstüber, welche dieser angenehme Deportirte seinen Gefühlen gab, der Summe seines Unglückes erlegen wäre. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte der Löffel meinen guten Vater zu einem Adepten des Damenbretts gemacht und ihn in alle Geheimnisse der Fingerhutkünste eingeweiht. Er war nicht nur unterhaltlich, sondern gerieth sogar in's Feuer, wenn er die Messen von Croydon und Westend schilderte, und sprach mit gebührender Verachtung von dem gemeinen kleinstädtischen Bartholomew-Jahrmarkte. Dann kam wieder die Geschichte seiner Liebe zu Mary East, und Watkins war stets am unterhaltlichsten, wenn er sentimental wurde.

Außerdem leistete er auch der ganzen Kajütengesellschaft die wesentlichsten Dienste. Man wußte nicht, wie es ihm möglich wurde, aber er blieb stets in voller Muskelkraft und ging ohne Unterlaß mit ein paar geladenen Pistolen, die recht augenfällig in seinem Gürtel stacken, umher. Man fürchtete ihn sehr, weshalb er denn auch ziemlich Gehorsam unter der jetzt halbverhungerten Mannschaft fand. Er trotzte ihren Messern und hatte Sorge dafür getragen, alles brauchbare Schießpulver selbst in Besitz zu nehmen. Die ganze Macht des Schiffes hätte jetzt den Staatskajüten nichts mehr anhaben können.

In Betreff der Lebensmittel hatte er gleichfalls vorsorglich gewirthschaftet, denn obgleich die Santa Anna bereits sechs Monate sich auf den Wellen hin- und hertrieb, war doch die Kajüte gut mit Mundvorrath versehen. Er speiste mit der Familie, welche ihn wie einen Verbündeten und auf dem Fuße der Standesgleichheit behandelte.

Von meiner ruhigen Mutter habe ich nur wenig zu sagen. Von ihrer religiösen Schwärmerei und dem festen Glauben an die Sicherheit ihres Sohnes gehoben, nahm sie alles Mißgeschick so freudig dahin, wie eine Buße, welche ihr ein geachteter Beichtvater auferlegte. Eine stille Ergebung lächelte stets auf ihrem Antlitz. Es war ein Trost, sie anzusehen, und ein Entzücken, Zeuge zu sein, wie sie über die Scherze ihres Gatten lächelte; sie freute sich über seine Zufriedenheit, obschon sie kein Wort davon verstand, da die Witze gewöhnlich in englischer Sprache abgefeuert wurden.

Don Julian war dahingeschwunden wie ein eingesperrter Falke. Er hätte groß sein können im Handeln, aber im Leiden war ihm dieß unmöglich. Seine Wunden, welche weit schwerer gewesen, als die meines Vaters oder des Silberlöffels, waren nur langsam geheilt. Er befand sich stets in einer sehr reizbaren Stimmung und quälte dadurch nicht nur sich selbst, sondern auch Andere. Hin und wieder erfaßte ihn die Grille, in die Abgeschiedenheit des Don Mantez einzubrechen – zu keinem bessern Zwecke, als um eine Operation zu wagen, die ihm das Leben gekostet haben würde, denn Mantez war durch und durch ein Meuchelmörder. In einer solchen Geistesstimmung und unter derartigen Umständen konnte ein Liebesverhältniß nicht gut gedeihen. Er verständigte sich mit Isidora über den Fall, und so weit Leidenschaft in Frage kam, waren wirklich beide recht verständig geworden.

Im Anfang war Isidora schnell und furchtbar dahingewelkt, erholte sich aber gegen den Schluß ihrer Haft in dem unseligen Schiffe auf eine überraschende Weise. Ihre Gestalt war nicht mehr hager und gebeugt; auch hatten ihre Wangen wieder Einiges von dem früheren reichen Roth gewonnen. Sie kokettirte mit dem Silberlöffel, obgleich dieses nützliche Werkzeug nie ihren Lippen nahe kam, und machte sich's zu einer Lust, Monsieur Auguste Epaminondas zu necken. Außerdem pflegte sie den armen Julian, behandelte ihn während seiner mürrischen Laune mit Schonung und zankte sich mit ihm, so oft er vernünftig war. Sie unterhielt sich viel mit meiner Mutter und that dergleichen, als verstehe sie die Scherze meines Vaters.

Mit Sennor Zurbano schien sie jedoch ein festeres Bündniß zu knüpfen. Sie schraubte ihn unbarmherzig mit seinen Abneigungen, und forderte ihn heraus, auch gegen sie eine Antipathie zu fassen. Das konnte sie freilich ohne Gefährde thun. Zum Danke für die glücklichen Stunden, welche sie ihm bereitete, würde er sie bereitwillig in der Chemie unterrichtet und tief in die Physiologie eingeführt haben, aber sie wollte nichts davon wissen. Dagegen interessirte sie sich um so angelegentlicher für die Astrologie – nicht daß sie an dieselbe geglaubt hätte, aber es war so angenehm, in einer so gefährlichen Lage sich durch die Aussicht gesichert zu fühlen, daß Mantez gefangen und durch Zurbano secirt werden würde. Da nun Zurbano drei theure Eide geschworen hatte, er werde die Gliedmaßen des Elenden zusammensäbeln, wenn sie wohlbehalten am Ufer wären, so lag in dem Galgengesichte des vormaligen Commandeurs eine angenehme Sicherheit, an welcher die Dame mit Gier haftete.

Aber dieß ist die sonnige Stelle – die einzige sonnige Stelle in dem Gemälde, denn überall sonst herrschte grenzenloses Elend in dem Schiffe. Zwei Horden von Wesen, die einen wirklich und die andern imaginär, begannen nun die Santa Anna zu überlaufen und der unseligen Mannschaft zu Leibe zu gehen. Ratten von ungeheurer Größe und Wildheit, die sich in einer fast wunderbaren Weise vervielfältigt hatten, und Schaaren von Gespenstern umspuckten nach Einbruch der Nacht jede Stelle und jeden Winkel. Die eingebildeten waren die schlimmsten Quäler; denn wenn es zum Aeußersten kam, so konnte man doch die Ratten verzehren, aber was ist mit einem Geiste anzufangen? Ein guter Priester kann ihn vielleicht erlösen, aber man ist nie im Stande, eine Mahlzeit aus ihm zu machen, da er den Hunger allein dadurch zu stillen vermag, daß er die Leute zu todt ängstigt.

Sogar der Skeptischste der Skeptiker, den man zu keinem andern Glauben, als zum Glauben an die Astrologie bewegen konnte, mußte zugestehen, daß er bei nächtlicher Weile bisweilen ein seltsames, unnatürliches Getöse vernehme. Insekten von so ungeheurer Größe, daß sie zu einer höheren Klassifikation berechtigt schienen, machten dem Menschen den Besitz des unteren Deckes streitig; auch zeigten sie sich in solcher Unzahl und unter so seltsamen Gestalten, daß Zurbano neue freiwillige Formationen zu argwöhnen begann und die Santa Anna im Begriffe war, der Tummelplatz einer frischen, garstigen Thierwelt zu werden. Die trostlose Einbildungskraft der wenigen überlebenden Matrosen hatte eine andere Erklärung für diese Erscheinungen – sie glaubten nämlich fest, die Seelen ihrer ermordeten Schiffsgefährten hätten solche Gestalten annehmen müssen, um in denselben ihr Fegefeuer zu erstehen.

Watkins lachte im Geheim über alles dies, während er den ungereimten Glauben nach Kräften zu ermuthigen bemüht war. Er haßte das ganze Gesindel mit nicht erlahmender Feindschaft und mit einem Grimm, welcher der Partheigänger eines Religionskrieges würdig gewesen wäre.

Noch immer rollte das massige Fahrzeug weiter, träge auf den Wellen einherstampfend. Endlich kam eine kleine Brigg in Sicht. Das gab nun ein Gewühl auf dem Schiff! Augenblicklich wurden Nothsignale angefertigt und überall aufgehißt, wo sie möglicherweise gesehen werden konnten. Die Gesichter glühten – die Glieder zitterten – und mit einemmale wurden nach vielen schwülen Tagen des Müßiggangs die Spanier thätig. Jeder bereitete sich auf sein Mährlein vor und verbarg von den ungesetzlich gewonnenen Schätzen so viel wie möglich an seinem Leibe. Koffer wurden mit doppelten Stricken umwunden und die Säcke zum Platzen vollgestopft. Jeder sah seinen Friedenstagen entgegen und hatte das Auge auf irgend einen Lieblingswinkel des Landes geheftet; die Tage der häuslichen Herrschaft sollten beginnen, und sie hofften, in Glück, Frieden und Wohlstand zu Grabe zu gehen.

Don Mantez kroch aus seinem Schlupfwinkel heraus und zeigte in seiner Miene die Autorität, die er jetzt noch nicht anzunehmen wagte. Er erging sich in dem süßen Traum, nach einer kurzen Stunde die widerspenstigen Gemüther, welche sich gegen ihn empört hatten, zum Gehorsam gebracht zu sehen. Jeder mußte seinen Raub wieder herausgeben, und der ganze Reichthum des Schiffes – oder wenigstens fast der ganze – sollte an ihn fallen.

Er hatte bereits seinen Bericht über den Stand der Dinge vorbereitet. Seine Passagiere hatten einen Theil der Mannschaft bestochen und sich mit diesen Verräthern meuterisch gegen ihn erhoben. Zuverläßig mußten in dem Schiffe, das so rasch auf sie herunterkam, Vorgesetzte sein, und seine Sache war zugleich auch die Sache eines Jeden, der ein Kommando behauptete. Stolz trat er auf den Hackebord. Er hatte sich abermals mit allen seinen Kapitänsauszeichnungen bedeckt und seine beste Uniform angezogen (wir haben nämlich schon früher bemerkt, daß er das Offizierspatent der spanischen Marine besaß); die Epauletten blinkten auf seinen Schultern und sein ungeheurer Eckenhut schwankte anmaßend in dem Winde.

Kein Mensch dachte damals an die gekränkten, lange beschimpften und viel gefährdeten Beraubten. Alle hatten sich vorgenommen, die Passagiere, die Eigenthümer der Schätze und des Schiffes zu verlassen und sie – wenn es nicht anging, sie an Bord der zerfallenden Santa Anna ihrem Verderben preiszugeben – entweder nicht anzuerkennen oder der Verbrechen zu zeihen, die sie selbst begangen hatten. Bei dieser eigentümlichen Sachlage verließ sogar der galante, zierlich gekleidete Auguste Epaminondas Montmorency die Partie, welche sich rühmen konnte, die Damen zu ihren Mitgliedern zu zählen. Seine ganze Aufmerksamkeit war einem recht festen Zusammenschnüren dreier großen, festen und schweren Kisten geweiht. Nachdem er dieß besorgt hatte, schaffte er sie, zum Aufbruch bereit, nach der Laufplanke und wartete daselbst, das Ganze in zurückgelehnter Haltung mit seiner phantastisch geputzten Person bedeckend.

Der Silberlöffel war dagegen ein ganz anderer Mann als der Montmorency. Er hatte nichts von dem Gelde angerührt – ja noch nicht einmal sein Salair an sich genommen, denn er erwartete seine Belohnung von der Zukunft. Noch immer hing er treulich an unserer Familie, die keine Schätze zu bergen und nichts hatte, um die herankommenden Fremden zu bestechen, als die einfache Geschichte des erlittenen bitteren Unrechts. Aber die Hoffnung röthete ihre Wangen. – Sie stießen ein kurzes Dankgebet aus für die so nahe Rettung, und sahen mit Zuversicht glücklicheren Tagen entgegen.

Es ist Nachmittags vier Uhr – noch immer drei gute Stunden Tag und der Augenblick der Rettung nahe. Das kleine, aber festgebaute Fahrzeug kommt ritterlich herunter. Es sind nur Wenige zu retten, und tumultuarisch klopft das Herz in eines Jeden Busen! Sie sind in das Takelwerk geklettert – einige kühnere sogar nach den Fock- und Besanmarsen hinaufgestiegen. Dem großen Marse nähert sich Niemand, denn die Leiche des alten Priesters hält dort seine Wache. Man glaubt, er werde am Ende doch ein wässeriges Grab finden, denn wer möchte sich wohl mit einigen modernden Knochen belästigen?

Die Leute von der Brigg haben die Santa Anna bemerkt und sehen noch immer nach ihr aus. Es ist augenscheinlich, daß den Fremden die Außenseite des Schiffes nicht gefällt. Ein Segel nach dem andern wird herabgenommen, und, o Gott! die Nacht kommt schnell heran. Sind denn dort lauter Steinherzen?

Zweifel und Grauen beschleicht die Spanier – die Brigg hält nicht länger auf sie ab – sie legt bei, und man kann deutlich sehen, wie ihre Offiziere das ungeheure Wrack durch ihr Fernglas betrachten. Es ist augenscheinlich, daß sie aus einer so großen und verdächtigen Ruine nichts zu machen wissen. Sie bemerken seltsame Erscheinungen – parasitische Pflanzen schlingen sich durch das zerrissene Takelwerk, und der grüne Schleim der Vegetation bedeckt ihre Seiten.

Und dann ihre Insaßen – so abgezehrte Gestalten – so bleifarbige Gesichter! Es ist augenscheinlich, daß sie mit Vorsicht handeln wollen – die Pest kann an Bord sein – die Mannschaft ist vielleicht zahlreich und hält sich verborgen – möglich, daß alle die ausgesteckten Nothsignale nur ebenso viele Köder sind. Es ist nöthig, hier vorsichtig zu Werk zu gehen.

Ueber diese herzlose Zögerung geräth die sehnende Mannschaft außer sich – die Matrosen werfen ihre Arme wild in die Luft und geberden sich wie Wahnsinnige; aber zur Antwort auf diese ungestümen Demonstrationen entfaltet sich nun das amerikanische Banner, majestätisch in der Brise wehend, an dem Gaffelende.

Dies scheint nur wenig besser, als Hohn zu sein. Wozu bedurfte es auch aller Zeichendiplomatik? Waren sie nicht in Noth – waren sie nicht Mitchristen und Matrosen? – Hatten sie nicht selbst die englische und spanische Flagge halbmasthoch aufgehißt – die englische zum Zeichen der großen Noth umgekehrt?

Statt ihnen mit offenen Armen entgegenzueilen, um den Hungrigen Nahrung, den Kranken Arznei und Allen Rettung zu bringen, bewaffnen sie sich sogar – die Enterpiken glänzen auf dem Deck, und durch das Takelwerk sieht man die Säbelklingen blitzen, deren Schneide der bedächtige Enterer prüft.

Die Zeit schleicht dahin, und die rothe, durstig aussehende Sonne berührt den Horizont. Es ist Neumond, und die Dämmerung währt in jener klaren Atmosphäre nur einige Minuten. Berathen sie sich wohl mit einander? – Nein, endlich scheint ein großmüthiges Gefühl die Oberhand zu gewinnen. Sie haben deutlich entdeckt, daß Frauenzimmer – Damen an Bord sind. Sie sahen, wie anmuthige Arme ihnen entgegenwinkten und die weißen Zeichen des Friedens flattern ließen. Wer kann einer weiblichen Bitte widerstehen? Die Brigg zögert nicht länger – sie füllt ihr großes Marssegel und hält langsam auf den massenhaften zerbröckelnden Rumpf ab.

Eilt, eilt – es ist keine Zeit zu verlieren – die Wunder der Tiefe sind mannigfaltig! Es ist schon zu lang gezögert worden, denn zum erstenmal seit der Abfahrt von Barcellona steigt, wie durch Zauberei in's Dasein gerufen, eine dichte Nebelbank auf. Die Dünste ziehen aus dem Lee näher, scheinen sich gegen den Wind zu bewegen und hüllen die Santa Anna ein, wie in ein Leichentuch. In demselben Augenblicke fällt der Schleier der Nacht mit einem übernatürlichen Schwarz nieder; der Wind hat plötzlich nach dem entgegengesetzten Striche des Kompasses umgeschlagen, sich zu einer Bö gesteigert und stürzt ungestüm über die Oberfläche der sich hebenden Wellen hin.

Nie zuvor war eine so plötzliche, tiefe Finsterniß eingetreten. Die herannahende Brigg mußte ohne Zweifel zurückgeworfen worden sein, und die beiden Schiffe trafen nicht mehr zusammen. Die Matrosen jenes schmucken Amerikanerschiffes mochten sich wohl manche seltsame Mähr von dem gewaltigen Rumpfe erzählen, den sie so weit in den südlichen Breiten getroffen. Sie hatten das zerrissene Takelwerk, die moosbedeckten Seiten, die verschieden gestellten Raaen, die zerfetzten Wimpel und die durchlöcherten alten Segel gesehen, welche in phantastischen Guirlanden niederhingen. Aber das Wunder war am größten, wenn sie auf die hagere, gespenstische Mannschaft zu sprechen kamen. Sie bestand aus Geistern – denn hatten sie nicht unter Anderen einen Pariser Stutzer bemerkt, der mit hellgrünen Pantalons und himmelblauem Frack auf dem Deck einherspazierte, des Mannes in dem vollen Putze einer neuen Seeuniform gar nicht zu gedenken? Dann die schönen Damen mit Armen so weiß, wie sie bei Menschen sonst nicht zu sehen, und alte Gentlemen mit gepuderten Perücken und Brillen – nein, was konnte das Schiff anders sein, als ein Tummelplatz für verdammte Geister?

»Ist der Zuhörer nicht überzeugt? Was wird er dann sagen, wenn er den ehrlichen alten Matrosen sich zu einem Eid auf seine Familienbibel erbieten hört, – wohl gemerkt, er ist ein religiöser Mann und hat seine junge Familie gut erzogen – daß er mit seinen eigenen Augen das Schiff in einer schwarzen Rauchwolke habe verschwinden sehen – »und in demselben Augenblicke, als es fort war, blies Euch solch' ein Sturm!«

In dieser Weise wurden viele Konvertiten für den Glauben an das Gespensterschiff gewonnen, gute Matrosen betrachteten den fliegenden Holländer nicht länger als ein fabelhaftes Ding.

Auf der Santa Anna erscholl ein langes, klägliches Geheul der Verzweiflung, als der Nebel alle Hoffnung ausschloß. Die Matrosen fühlten nicht den plötzlichen Sturm – sie schrieen, fluchten, weinten – und dann schrieen sie wieder. Aber alle ihre Mühe war vergeblich, nutzlos ihr Weheklagen.

Mantez warf sich vor dem Hackebord nieder und stieß seine Stirne gegen das Deck. Er wagte nicht länger zu hoffen, denn sogar Wunder mußten auftreten, um sich gegen ihn zu verschwören. Ja, es war vorbei, und er durfte nicht erwarten, mit der ewigen Gerechtigkeit zu temporisiren. Nie sollte er wieder in den Kreis der Civilisation kommen, und es bot sich ihm keine Gelegenheit, seine Sünden zu bereuen und mit dem gestohlenen Gelde den allmächtigen Priester zur Absolution, zur Versicherung einer kurzen Fegefeuerdauer zu bestechen. Er war einer von denen, welche sich stets darauf verlassen, den Allwissenden zu überlisten und nach Herzensgelüsten zu leben, bis sie des Lebens müde werden, um dann die werthlose Ruhe und die übrig bleibenden Schätze der Kirche zu weihen, welche sie vor dem Allmächtigen vertreten soll. In jener schrecklichen Nacht verließ ihn diese trügerische Hoffnung, die ihn bisher aufrecht erhalten, für immer.

Auguste Epaminondas Montmorency benahm sich bei dieser Täuschung ganz anders. Mit einer Salve von sacre Dieux schleppte er seine Kisten wieder nach ihrem Verstecke – schwor, es sei Alles la fortune de la guerre – schniegelte eine Locke zurecht, welche der schwere Nebel aus ihrer Ordnung gebracht hatte – summte sein vive la bagatelle, und bat dann ergebenst um die Erlaubniß, den Damen seine Achtung bezeugen zu dürfen.

Die Mehrzahl der Matrosen wachte die ganze Nacht über auf dem Decke; aber am andern Morgen war nichts zu sehen, als der zürnende Himmel und wild bewegte Wellen.

*


 << zurück weiter >>