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Was ist uns Christus?

Ich weiss nicht, ob und in welchem Sinne diese Frage in den letzten Zeiten von Freimaurern beantwortet ist. Dass sie sonst schon sehr häufig aufgeworfen und je nach dem Standpunkte des Autors in der verschiedensten Weise beantwortet wurde, war unvermeidlich. Ist sie doch die Cardinalfrage des confessionellen Christenthums. Von dieser Seite derselben sehe ich ab, denn confessionelle Fragen gehören nicht in eine freimaurerische Discussion. Ja, selbst wenn ich sie als religiöse Frage gelten lasse, so geschieht das nur in dem Sinne des Satzes: »Der Freimaurer muss Gottesverehrer sein«; von Christo als Stifter des Christenthums, mit dem uns ein wenn auch noch so vereinfachtes Bekenntniss verbände, will ich gleichfalls jetzt absehen; ich will mich möglichst auf den Boden meiner nichtchristlichen Brüder oder, wenn man lieber will, auf den Boden der humanistischen Freimaurerei stellen und von da aus die Frage thun und zu beantworten suchen. Damit bin ich aber auch an die Grenze der nach meiner Ansicht dem Freimaurer möglichen Concession gekommen. Den Satz: »Der Freimaurer muss Gottesverehrer sein«, kann ich nicht fallen lassen. Einen Stütz- und Ausgangspunkt müssen wir haben. Dies kann nicht die Natur des Menschen sein, die ist in ihrer völkischen und individuellen Variation und vor Allem im Ergebniss ihres Erkennens so schwierig, so verschieden und verschwommen, dass sie als Grundstein eines allgemeinen ethischen Gebäudes ganz unbrauchbar ist. Noch weniger kann es die menschliche Gesellschaft sein, weder in ihrer abstrahirt allgemeinen, noch in ihrer augenblicklich actuellen Form, die letztere ist keine Einheit und die erstere ist zu inhaltarm. Aus demselben Grunde können wir auch das »allgemeine Glück« als obersten Leitpunkt nicht brauchen; wirklich »allgemeines Glück« giebt es kaum und das individuelle ist tausendfach verschieden, zum Theil widerstreitend. Das bestehende Recht endlich oder die öffentliche Moral wird ja wohl Niemand zu jenem Ausgangspunkte der Freimaurerlehre machen wollen, das wäre ja schlimmer, als die Magd über die Herrin setzen.

Ich sehe thatsächlich nichts, was jenen Satz, »der Freimaurer muss Gottesverehrer sein«, ersetzen könnte und daher verdrängen dürfte. Ich halte daher die Gottesverehrung als Wurzel und Ausgang aller Freimaurerei fest. Ich verhehle mir dabei nicht, dass auch ihre Art und Innigkeit sehr verschieden sein kann. Aber es wird wohl Niemand widersprechen, wenn ich als wesentlichen Lehrinhalt derselben bezeichne: Die Anerkennung eines ewigen, allmächtigen und allweisen, heiligen und seligen Schöpfers, dessen Motiv zur Weltschöpfung die Liebe war.

Was ist uns dabei nun Christus? Selbstverständlich kann hier in dieser maurerischen Frage unter Christus nur die historische Persönlichkeit, nicht die dogmatische gemeint sein. Wir sehen also Christum als den grossen Propheten vom Jordan, wie er lehrend und helfend einherzog, ohne zu fragen oder darüber zu streiten, ob er auch noch mehr gewesen. Als solcher ist er es nun

I. Der beste Lehrer.

Es gab ja auch Lehrer vor ihm und neben ihm, und es wäre gewiss Unrecht, diesen alles Verdienst um die religiöse Erkenntniss und sittliche Erziehung der Menschheit absprechen zu wollen. Aber ein Grösseres bei Christus war in mancher Beziehung nicht das, was er lehrte, sondern wie ers lehrte. Immerhin ist ein Fortschritt gegen Moses und die Propheten bei ihm nicht zu verkennen, das müssen uns die jüdischen Brüder schon zugeben, er steht in der Sache vielfach auf den Schultern seiner Vorgänger, ist ihnen aber in der Methode zu lehren unendlich weit überlegen. Und die nach dem Meister gekommen sind, ich glaube nicht, dass einer beansprucht oder verdient, ihm gleichgestellt zu werden, mit wie hoher Verehrung wir auch zu unseren Geistesheroen aufsehen. Sie sind alle in seine Schule gegangen, desto mehr, je höher sie stehen.

Und was lehrte er denn? Von Gott etwa das, was schon oben als Lehrinhalt der Gottesverehrung angegeben, mit dem Hinzufügen, dass dieser Schöpfer alle Menschen (nicht nur ein Volk) wie seine Kinder liebe und nach dem Tode den Seinen ein besseres Dasein geben werde. Von den Menschen aber, dass sie an sich Kinder des heiligen Gottes, also der Wahrheit und Gerechtigkeit zu Dienst verbunden, unter einander aber Brüder seien, die nur durch gegenseitige Liebe und Hülfe ihres Vaters Wohlgefallen und eigenen Frieden erwerben können.

Ein reiner Gottesdienst besteht im Gebet, in Thaten der Milde, in fleckenlosem Wandel. Das Gebet ist der Verkehr des Menschengeistes mit seinem Urquell und wird, wenn es recht ist, vernommen und gesegnet. Der Bruder soll den Bruder nie hassen (auch bei Beleidigungen nicht), soll seine Rechte, Eigenthum und guten Namen respectiren und schützen, vor Fehlern und Schaden ihn zu bewahren suchen und in jeder Bedrängniss ihm helfen, so weit er kann. Ein Kind Gottes wird nicht gebunden von den Sorgen, Genüssen und Gütern dieser Welt, es sucht vielmehr in jeder Lage den Willen seines Vaters an sich zu erkennen und zu thun.

In dieser Lehre Christi ist nichts enthalten, was uns als Freimaurer nicht geläufig wäre. Aber andererseits ist doch Alles darin enthalten, was wir brauchen auf unserem Standpunkte, auch der beste kommt schwerlich darüber hinaus; ja, ich bin geneigt zu glauben, dass über diese Grundlagen eines gottgeweihten Menschenthums die Welt nie hinauskommen wird. Der Fortschritt, an den wir glauben und für den wir arbeiten, wird in einer allgemeineren Befolgung, nicht in einer Aenderung jener Lehre bestehen. Und wie in der Sache, war Christus auch in der Methode der beste Lehrer. Was noch heute manchem Prediger auf der Kanzel und manchem Lehrer in der Klasse abgeht, die Anschaulichkeit, die Unmittelbarkeit des Verständnisses, das Packende und Unvergessliche, Christus wusste es zu geben. Wenn er, um die Pflicht der Schoosszahlung zu begründen, sich die Zinsmünze zeigen lässt; wenn er, um die aufgebrachte Schaar milde zu stimmen gegen die Ehebrecherin, sagt: Wer unter Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie; wenn er, um den Werth der Anspruchslosigkeit zu zeigen, seinen Jüngern ein Kind zum Muster hinstellt; wenn er, um zu zeigen, wer unser Nächster ist, die Geschichte vom Samariter erzählt, der an einem Judäer die Barmherzigkeit übt, zu der Priester und Levit, seine engsten Glaubensgenossen, sich nicht verpflichtet gefühlt hatten – so sind das Alles nur Anzeichen, wie es kam, dass seine Predigt gewaltig war über die der Pharisäer, dass Hunderte, ja Tausende von Leuten ihm nachzogen, dass man von so wunderbarem Lehrer auch Wunderthaten erwartete. Wahrlich, seit 40 Jahren bin ich diesem Religionsunterrichte der Volksschule entwachsen, aber noch heute glüht mir das Herz, wenn ich an diese Seite meiner Knabenzeit denke und ein Sonntagsevangelium mit solchem Inhalt kann mich noch heute begeistern.

Aber jene erhabene, anschauliche, packende Lehre ist nur das eine, was wir an Christo haben, er ist

II. Unser vollkommenstes Vorbild.

Damit ist wieder nicht gesagt, dass wir auch nicht anderen Vorbildern zur Nachfolge und Dank verpflichtet wären. Es wird sich ja kaum ein so beklagenswerther Mensch finden, dass er in seiner Familie oder Verwandtschaft, in Schule, Kirche und Bekanntschaft Niemanden wüsste, von dem er hätte Gutes lernen können, wenn er ihm gefolgt wäre. Gewiss, es giebt neben den zahlreichen schlechten Vorbildern im Leben auch gute, und selig ist, der ihnen unbeirrt folgt. Unbeirrt, da liegt die Schwierigkeit. Unsere guten Vorbilder, wenn wir so recht aufmerksam sie beobachten, haben doch recht häufig auch ihre schwachen Seiten, ihre Mängel, wenn nicht gar ausgesprochene Fehler. Das macht das Gute an ihnen nicht weniger nachahmenswerth, gewiss nicht; es verdammt sie auch nicht, nicht einmal in unseren Augen; aber – ihren Werth für uns erhöht es sicher nicht, Diesen und Jenen lassen wir doch wohl fallen, und, was das Schlimmste ist, wenn wir sie entschuldigen wegen eines Mangels, entschuldigen wir uns gar leicht wegen zweier Mängel; einer bedenklichen Neigung, die wir ihnen durchgehen lassen, werden wir selbst nur desto lieber und leichter folgen. Ja, es kann vorkommen, besonders wenn das betreffende »Vorbild« mit uns verwandt ist, dass wir bestimmte Schwächen, Uebertreibungen und Incorrectheiten desselben gar nicht als solche erkennen, sondern sie als charakteristische Seiten ansehen und sie bewusst nachahmen, um so leichter, wenn sie im Blute liegen.

Wie anders ist das, wenn Christus unser Vorbild ist! Welche Klarheit und Reinheit des Wesens nach jeder Richtung hin! Welche Liebe und Folgsamkeit gegen seine Eltern, welche Sorgfalt gegen seine Jünger, welche Milde gegen Jedermann, welches Erbarmen gegen Arme und Elende, welche Nachsicht und doch zugleich welch offener Ernst gegen die Fehlenden und Sünder! Da sind keine Schwächen, keine bedenklichen Wesensseiten, kein Sichgehenlassen, kein Liebäugeln mit fleischlichen Neigungen, sondern überall der reine Gottesdienst, die selbstlose Hingabe in der Arbeit an seinen Mitmenschen und für sie.

Will man hiergegen etwa einwenden, die damaligen Lebensverhältnisse und zumal Christi seien von den unserigen zu verschieden, als dass wir von ihm lernen könnten? Gewiss, wir haben andere Tagesgeschäfte, andere Aufgaben und Ziele. Aber in derselben Lage sind wir doch mit den allermeisten anderen Vorbildern auch. Oder können wir von Bismarck keine Königstreue und Vaterlandsliebe, keine Selbstachtung und zielbewusstes Streben lernen, weil wir nicht Kanzler sind? Cest le ton qui fait la musique, es ist die Denkungsart, die unsere Handlungsweise adelt oder erniedrigt, es ist der Geist, auf den es ankommt, auch in der Freimaurerei; ob wir noch einen Gott haben, einen Vater im Himmel und eine Hoffnung ewigen Lebens, oder ob wir als »die elendesten unter allen Kreaturen« wissend der Vernichtung gegenüber gestellt sind; ob wir mit unserem Thun und Streben dem Ideal dienen in Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe, oder den Götzen, dem Ich, dem Mammon und dem Genuss. Und dieser Geist, der Geist Gottes und zugleich der Geist des reinen, edlen Menschenthums ist es, der aus Christi Wort und Werk hervorstrahlt, reiner und voller als irgendwo anders, wer ihn annimmt und ihm folgt, wird nicht nur inne werden, dass er auf dem rechten Wege ist auch in der Freimaurerei, er wird auch keines anderen Meisters mehr bedürfen.

Wenn das nun so ist, dass die Gottesverehrung der Grund der Freimaurerei und Christi Lehre und Leben die beste Darlegung derselben ist, warum wollen wir das denn nicht annehmen und auf diesem Grunde uns einigen? Ich muss gestehen, dass ich hinreichende Gegengründe weder selbst gefunden noch bisher von anderen Brüdern gehört habe. Ich kann ja verstehen, dass eine schöne Befriedigung, ein geistiges Vergnügen darin liegt, von einfachen, unbestreitbaren Sätzen ausgehend, sich ein eigenes ethisches System aufzustellen. Ich selbst habe es vor Jahren versucht, ausgehend von dem Satze der Identität und Proportionalität ein solches rein vernünftiges System aufzubauen (und hätte es beinahe drucken lassen), ich ermangle auch nicht der Hochachtung vor Spinoza und Descartes, aber ich bedaure doch andererseits Verirrungen, wie sie uns bei dem gewaltigen Schopenhauer und seiner Schule entgegentreten. So verdienstlich es ist, zu der Oel- und Petroleumlampe, dem Gas- und Acetylenlicht, dem Glüh- und Bogenlicht noch immer neue, bessere, gesunde und billige Lichtquellen hinzu zu erfinden, so verkehrt wäre es doch, daneben das Tageslicht vergessen und zurückstellen zu wollen. Ist doch schliesslich sowohl die kraftspendende Affinität der Steinkohle, wie die lebendige Energie des Wasserfalles im Grunde nichts anderes als Wirkung der Sonnenwärme, und ist doch unser bestes ethisches Denken und Empfinden auch nur möglich in der auf Christo und dem Christenthume beruhenden Kultur unserer Zeit. Und wie ein Licht desto besser und angenehmer ist, je mehr es sich dem Tageslichte nähert, so steht eine Ethik oder Moral desto höher, je mehr innerliche Congruenz sie hat mit Christo. Gern mag ja Jeder die Schätze unserer Königlichen Kunst anordnen, auswählen und darstellen, wie es für seine Zeit und seine Kreise angemessen ist, es giebt der Farben viele im Sonnenlichte, und manche wonnige Augenweide bringt es zu Stande, nur muss man über dem abgeleiteten Brunnen die Quelle nicht vergessen und das, was ewig Regulativ und Correctiv aller Menschen-Satzungen und Meinungen bleiben wird, nicht zurücksetzen wollen. So gut ich es verstehen kann, wenn ein jüdischer Bruder aus Pietät bei dem Bekenntnisse seiner Väter bleiben will, so wenig kann ich ihm zustimmen, wenn er entweder einen Fortschritt der Ethik durch Christum ganz leugnet oder diese Christusethik als gemeinsame Grundlage der verschiedenen Richtungen der Freimaurerei für unbrauchbar erklärt. Und ähnlich ergeht es mir mit den Trägern eines anderen Bekenntnisses. Sagt mir Jemand: Christus ist mir viel mehr als ein Lehrer und ein Vorbild, er ist mein Erlöser und Sündenopfer; er ist auch nicht bloss Mensch, sondern wahrer Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit, so kann ich das sehr verstehen und würdigen und will diesen seinen Glauben gewiss nicht antasten; behauptet er aber, dass jeder rechte Freimaurer das auch glauben müsse, dass daher jene Anerkennung Christi als Lehrer und Vorbild ganz unzureichend und als Einigungsboden verwerflich sei, so kann ich das wieder nur bedauern, denn die allermeisten Mitglieder des Bundes werden damit verurtheilt und die Einigung ad calendas graecas vertagt.

Wenn die Vertreter der sogenannten humanistischen Maurerei sich nicht meinen mit uns vereinen zu können zu der Arbeit für das Reich Gottes nach Maassgabe der Lehre und des Lebens Jesu, so werden wohl manche jüdische Brüder unter ihnen durch ein Stammesvorurtheil beeinflusst sein, während andere Brüder die Bezeichnung unseres Ausgangspunktes (von der Gottesverehrung u. s. w.) perhorresciren. Bei diesen scheint mir zunächst das Missverständniss unterzulaufen, als ob die maurerische Humanität ihrem Inhalte nach etwas Selbständiges wäre oder wenigstens sein könnte. Dass sie nicht originell ist, bedarf, glaube ich, keines Beweises, wir haben in ganz Europa heute keine andere Kultur als die christliche und folglich auch keine andere Humanität und Maurerei als nach christlichen Grundsätzen (wenn auch ohne Bekenntniss). Wenn man trotzdem die Maurerei von ihrem Untergrunde trennen möchte, sich wenigstens gegen die Bezeichnung desselben sträubt, so kann das einen doppelten Grund haben. Entweder man will damit die Thür recht weit aufmachen, damit jeder, der noch Mensch sein will, eintreten könne, wie sehr er auch Schiffbruch gelitten; oder aber, man hofft unter der Flagge des Humanismus, der ja jederzeit in seinem Wesen discutabel, in seinem Umfange erweiterungsfähig sein wird, eine besonders glückliche Fahrt zu haben. Ich muss gestehen, dass das Erste mir weder der Sache angemessen noch opportun erscheinen will, zumal in unserer Zeit, wo die Nachfrage nach geistigen Gütern und ewigen Wahrheiten so gering ist, und dass zugleich jene zweite Hoffnung mir aussichtslos, ja fast bedenklich vorkommt. Ich glaube nicht, dass es den Menschen beschieden ist, noch neue religiöse oder ethische Wahrheiten zu entdecken (der Fortschritt liegt, wie oben gesagt, wo anders), und halte zugleich eine stete Discutirbarkeit selbst der Fundamentalsätze für wenig zuträglich, ja für gefährlich. Sehe Jeder, wie ers treibe, sehe Jeder, wo er bleibe. Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen.

Br. Friedrich Röver.


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