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Durch Wahrheit zur Klarheit.

Die Begründung des Humanitätsprincips auf die Lehre Jesu von einem alle Völker und alle wahre Gottesverehrung umfassenden Reiche Gottes ist auch unter der Behauptung bekämpft worden, dass der Begriff dieses Reiches Gottes zu unbestimmt und zu vieldeutig sei. Diese Ansicht beruht aber auf ganz irrigen Voraussetzungen.

Wenn das Reich Gottes aufgerichtet werden müsste auf dogmatische Lehrsätze, dann wäre dies allerdings ein unbestimmter Begriff, welcher noch der Klarstellung bedarf, aber wohl bis an das Ende aller Zeit unentschieden bleiben muss. Dann könnte von einem alle Völker und alle wahre Gottesverehrung umfassenden Reiche Gottes überhaupt niemals die Rede sein. Aber die Lehre Jesu vom Reiche Gottes ist nicht von unserer Dogmatik abhängig.

Die vielen ganz verschiedenartigen Auffassungen über die Person Jesu können den Begriff seines Gottesreiches nicht vieldeutig machen. Wie Jesus gekommen und wie er gegangen ist, bleibt für den Inhalt seiner Lehre unwesentlich. Es ist sogar denkbar, dass ein Mensch diese Lehre vom Reiche Gottes als das höchste menschliche Ideal anerkennt und auch in diesem Gottesreiche mit voller Ueberzeugung und Hingebung steht, obgleich er über die Person Jesu noch im Unklaren ist, wie man auch von den Gesängen Homers begeistert sein kann, obgleich man an einem geschichtlichen Homer zweifelt. Die Lehre Jesu vom Reiche Gottes hat ihren felsenfesten, unerschütterlichen Grund in ihrer inneren Wahrheit und Hoheit. Und ihre göttlichen Wirkungen zeugen genugsam von ihrem göttlichen Ursprung.

Theologische Streitigkeiten, Glaubenszwietracht und Bekenntnissfanatismus sind dem Ausbau des Reiches Gottes, welches Jesus gewollt und gelehrt hat, nicht förderlich. Und wenn wir sogar darüber noch streiten, ob zu solchem Gottesreiche im Geiste Jesu nur Katholiken, nur Lutheraner, nur Reformirte oder nur irgend welche andere christliche Gemeinschaften ausschliesslich berufen und ob nichtchristliche Bekenntnisse selbstverständlich davon ausgeschlossen seien, dann stehen wir dem Geiste Jesu noch nicht nahe genug, dann haben wir auch noch kein Urtheil darüber, ob dieses alle Völker und alle wahre Gottesverehrung umfassende Reich Gottes ein klarer Begriff sei.

Das Bild Jesu und seines Gottesreiches ist allerdings vielfach entstellt. Es berufen sich Viele auf Jesum, welche ihn nicht verstehen. Manche sogar bekennen ihn, die in der That seine Widersacher sind. Vieles ist in Jesu Namen geschehen, was Frevel gegen ihn war. Hochmuth, Herrschsucht und Bekenntnissfanatismus haben in seinem Gottesreiche keinen Raum. Dort giebt es auch keine Vorrechte und keinen Glaubenszwang, in ihm gilt die Gleichheit aller Kinder Gottes und völlige Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Wenn wir das Reich Gottes so auffassen, wie es nach der Lehre Jesu in Wahrheit sein soll, nicht wie es durch mancherlei von dieser Lehre abweichende und mit ihr in Widerspruch stehende Anschauungen dargestellt wird, dann ist der Begriff keineswegs vieldeutig, sondern völlig klar und keiner Missdeutung unterworfen. Abweichungen von einem an sich klaren Princip können trotz aller Verschiedenheit dieser Abweichungen die Klarheit des Princips selbst nicht beeinträchtigen.

Das Reich Gottes bedeutet die Gotteskindschaft der Menschen. Wir sollen den in uns liegenden Keim göttlichen Wesens zur Entwickelung bringen, damit dieses Göttliche die uns angeborene thierische gemeine Natur überwinde und uns zu Kindern Gottes mache, welche nicht mehr von Fleisch und Blut, sondern von Gott geboren sind. Dann durchleuchtet der Lichtglanz der Ewigkeit unsere Seelen, dann sind wir nicht mehr hoffnungslos irrende Pilger zum Grabe, sondern Wanderer, welche zur Heimath gehen.

In diesem Bewusstsein einer über das Irdische und seinen Gedankenkreis hinausreichenden höheren Bestimmung regelt sich unser Denken und Empfinden nach höheren Gesetzen. In dieser Verwandelung unseres Wesens, in dieser Veredelung unserer Natur gewinnen wir erst die Menschenwürde. Die Gemeinheit der sinnlichen Natur, das natürliche Princip der Selbstsucht ist dann überwältigt und die Liebe, welche das Wesen Gottes ist, wird unser höchstes Gesetz, jene Liebe, welche nicht um Dank und Lohn liebt, sondern welche nicht anders kann, als lieben und segnen. Dass dieses mit unserer irdischen Natur in Widerspruch stehende Princip der Menschenliebe die natürliche Selbstsucht besiegt, zeugt von einer höheren Macht als Naturkraft, von einer Macht, welche die Natur überwindet.

Es wird Niemand behaupten, dass Menschenliebe ein unklarer Begriff sei.

Sobald wir aufhören, die Gotteskindschaft als eine Wissenschaft zu behandeln, welche ihre Forschungen noch nicht beendet hat, sobald wir anfangen, diese Gotteskindschaft als eine stetige unmittelbare Offenbarung Gottes im Menschenherzen anzusehen, dann sind wir nicht mehr in Zweifel darüber, was das von Jesu verkündete Gottesreich bedeutet. Dann gelangen wir auch zu der Ueberzeugung, dass der symbolische Tempelbau der Freimaurerei mit diesem Gottesreiche völlig identisch ist.

Der Freimaurerbund ist nicht gegründet auf einen unbestimmten vieldeutigen Humanitätsbegriff, sondern auf den symbolischen Bau eines Tempels. Wenn dieser Tempelbau nicht die feste, das Wesen des Bundes genau bestimmende Grundlage hätte sein sollen, dann würden die Stifter des Bundes sich nicht Maurer genannt haben. Und was ein Tempel bedeutet, darüber sollte doch auch kein Zweifel entstehen können. Aber Viele, welche sich Maurer nennen, sind keineswegs Bauleute an einem Tempel, sondern haben vielmehr, unter einem vieldeutigen Humanitätsbegriff Deckung suchend, sich Ziele gesteckt, welche mit der Freimaurerei gar nichts gemein haben.

Wenn der allen Gottesdienst der Menschheit in seinem einheitlichen Mittelpunkte sammelnde symbolische Tempel der Freimaurerei dasselbe ist, als das von Jesu verkündete, alle Völker und alle wahre Gottesverehrung umfassende Reich Gottes, dann darf auch kein Bedenken vorwalten, diese Wesenseinheit ausdrücklich zu declariren. Denn durch diese Declaration allein kann eine einheitliche Grundlage für alle Systeme hergestellt und damit der Boden geschaffen werden, auf welchem wir zur Einheit gelangen. Ausserdem wird durch die Begründung des Humanitätsprincips auf die Lehre Jesu vom Reiche Gottes nicht nur der religiöse Charakter der Freimaurerei für alle Zeit gesichert und allen durch einen unbestimmten Humanitätsbegriff begünstigten Abweichungen davon ein Ende gemacht, sondern es wird auch durch die Berufung auf das Gottesreich Jesu der über allem Formenthum und allem Confessionalismus erhabene Standpunkt der Maurerei festgestellt und damit jede Ausartung in confessionelle Einseitigkeit verhindert.

Wir glauben als Freimaurer an Gott, den liebreichen Vater der Menschen, und an unsere über die Erde hinausreichende höhere Bestimmung – das ist die Vorbedingung für unsere Bundesangehörigkeit. Und wir müssen als Maurer ferner den hohen, über alle Bekenntnissformen erhabenen Standpunkt der Anbetung ohne Formenthum, der Verehrung Gottes im Geiste würdigen können. Damit brauchen wir keinem besonderen Bekenntniss untreu zu werden, damit werden wir nicht schlechtere Christen und schlechtere Israeliten, sondern im Gegentheil vollkommener, als Diejenigen, welche nur auf ihr Formenthum schwören und damit bekunden, dass sie, obgleich sie sehr würdige Glieder ihrer Gemeinde sein mögen, für den hohen maurerischen Gedanken nicht frei und vorurteilslos genug sind.

Es ist dringend nöthig, dass endlich Klarheit herbeigeführt, dass deutlich festgestellt wird, was Freimaurerei ist. Unklarheit ist unser schlimmster Feind. An Unklarheit kann der Bund zu Grunde gehen. Darum muss die Wahrheit gesagt werden, unbekümmert darum, ob sie Allen gefallen wird. Dann wird der Stern des Maurerthums aus seiner Verschleierung heraustreten und in neuer Klarheit aufleuchten. Durch Wahrheit zur Klarheit.

Br. Friedrich Holtschmidt.


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