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Das freimaurerische Geheimniss.

Wer die Aufnahme zum Freimaurer etwa in der Hoffnung begehrt hat, dadurch Zugang zu einem auf keinem anderen Wege erreichbaren geheimen Wissen zu erlangen, wird sich sehr bald, vielleicht schon mit seiner Aufnahme selbst, nicht minder enttäuscht fühlen wie der, den die Erwartung äusserer Vortheile der Loge zugeführt hat.

Wie irrig solche Hoffnungen und Erwartungen sind, wird bereits bei der Aufnahme angedeutet, indem der Aufzunehmende ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass weder Verlockungen noch Ueberredungen, noch eitle Neugierde und kindische Vorstellung von seltsamen Dingen ihn bestimmt haben dürfen, die Aufnahme zu begehren, sondern dass ihn nur ein rühmliches Verlangen, mit einer durch Tugend, Treue, Freundschaft und Ehre bekannten Gesellschaft verbunden zu sein, fähig und würdig machen kann, eine Stelle unter den Freimaurern zu finden.

Die Freimaurerei maasst sich durchaus nicht an, im Besitze besonderer geheimer Kenntnisse zu sein, sie ist sich vielmehr sehr wohl bewusst, dass die profane Welt, wenn man ihr den ganzen Lehrinhalt der freimaurerischen Ueberlieferungen und Acten in zusammenfassender Darstellung vorlegte, darin durchaus nicht eine neue Offenbarung, sondern nichts Anderes als eine systematische Ineinanderarbeitung längst bekannter Anschauungen und Gedanken sehen würde. Dem kann auch gar nicht anders sein. Denn besässe die Freimaurerei in der That eine besondere geheime Kundschaft, die den Culturfortschritten der Menschheit förderlich sein könnte, so wäre es ja ein ganz unverantwortlicher Frevel, eine grausame Versündigung am ganzen menschlichen Geschlechte, wenn sie damit zurückhalten und nur denen davon Kenntniss geben wollte, die mehr oder weniger zufällig und oft recht unverdientermaassen in ihre geschlossenen Kreise Eintritt erlangen. Die Freimaurerei würde sich dadurch mit sich selbst in Widerspruch setzen und den Grundsatz reiner Menschenliebe, in dessen eifriger Bethätigung sie ihre höchste und vornehmste Aufgabe sieht, auf das Schmählichste verleugnen.

Das aber ist ganz unmöglich; denn sonst hätten die Recht, die in der Freimaurerei nichts Anderes sehen als eine plumpe Charlatanerie, einen einfältigen Humbug, wofür man höchstens das Achselzucken mitleidiger Verachtung haben könne.

Wenn nun die Freimaurerei trotzdem von ihren Geheimnissen redet, die keinem Unberechtigten offenbar werden sollen, so deutet sie damit keineswegs auf Erkenntnisse hin, die ihr allein zu Theil geworden sind und nur durch sie erlangt werden können, sondern sie versteht darunter nichts anderes als die ihr eigenthümlichen Mittel und Uebungen, wodurch jeder ihrer Anhänger zu einer ihn selbst befriedigenden Lebensanschauung gelangen kann.

Das Geheimniss der Freimaurerei besteht eben nicht in einem allen Nichtfreimaurern verborgenen Wissen, sondern einzig und allein in einer nur im geschlossenen Kreise wirksamen Erkenntnissweise, durch deren Anwendung ein gereifter, idealen Zielen zustrebender Mann eine befriedigende Lösung der Lebensräthsel finden kann.

Die grossen Räthsel des Lebens, die sich jedem tiefer denkenden Menschen immer wieder von selbst aufdrängende Frage nach Ursprung und Bestimmung seines Daseins, stehen im Mittelpunkte aller freimaurerischen Arbeit; aber eine allgemein gültige Lösung, eine von Niemandem anzuzweifelnde Antwort zu finden, ist, wie die Erfahrung von Jahrtausenden lehrt und immer von Neuem durch die Erfahrung bestätigt wird, dem in den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit befangenen und dadurch endlich begrenzten menschlichen Verstände versagt.

Weder durch dogmatische, auf angeblich übernatürliche Offenbarung gestützte Machtsprüche, noch auf dem Wege streng wissenschaftlicher Erkenntniss können wir zu einer solchen allgemein gültigen, jedem Zweifel entrückten Lösung gelangen. Die dogmatischen Machtsprüche der Kirchen werden um so mehr angezweifelt, je weniger sie vor den Ergebnissen streng wissenschaftlicher Forschung bestehen können; die wissenschaftliche Forschung selbst aber, so förderlich sie dem Culturfortschritte der Menschheit ist, bestätigt immer und immer wieder, dass das menschliche Denken in seiner Endlichkeit und Beschränktheit aus sich selbst heraus die Räthsel des Daseins in allgemein gültiger Weise nicht zu lösen vermag.

Weder auf dem Wege einer von aussen kommenden übernatürlichen Offenbarung, noch durch das Mittel wissenschaftlicher Erkenntniss ist es uns gegeben, in die Geheimnisse des Daseins einzudringen und zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Aus diesen trügerischen Quellen können wir keine Gewissheit über die Bestimmung des Menschen und die Gesetze seines Lebens gewinnen, überhaupt keine unbedingt gültige Antwort auf die letzten Fragen des Daseins, keine lautere Wahrheit schöpfen.

»Geheimnissvoll am lichten Tag,
Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.«

Wie es keine jedem menschlichen Zweifel entrückte unmittelbare, übernatürliche Gottesoffenbarung giebt, so giebt es auch für die wissenschaftliche Forschung keine Möglichkeit, zum Urgründe alles Seins und Lebens hindurchzudringen. Das Faustische Verlangen, zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, und »alle Wirkenskraft und Samen« zu schauen, überschreitet die Grenzen menschlicher Erkenntniss.

Gleichwohl erfüllt ein solches Verlangen jede denkende Menschenseele. An jeden Einzelnen treten die grossen Räthsel des Lebens mit der Forderung, sich mit ihnen abzufinden, um so dringender und unabweislicher heran, je weniger ihm ein rein sinnliches Dasein Befriedigung gewährt, und gerade die Faustnaturen kann langes vergebliches Ringen, diese Forderung zu erfüllen, zur Verzweiflung, zum Wahnsinn, zum Selbstmorde treiben.

Mitten hineingestellt in der Erscheinungen Flucht, empfindet der denkende Mensch das Bedürfniss, das Bleibende im Wechsel zu erfassen, vor Allem aber seine eigene Bestimmung zu erkennen; und es giebt für ihn keine Ruhe und keinen Frieden, bevor er diesem Bedürfniss Genüge gethan und eine sichere Grundlage gewonnen hat, von der aus er eine befriedigende Antwort auf die ihn selbst am meisten interessirenden Fragen erlangen kann: »Woher komme ich? Was ist meine Bestimmung? Wohin gehe ich?« Eine allgemein gültige Antwort auf diese Fragen ist, wie wir gesehen haben, nicht zu finden, aber eine individuelle, eine persönliche Lösung ist möglich. Die Grundlage dafür bietet die eigene Natur des Menschen. Aus der Erkenntniss seines eigenen natürlichen Wesens, wie es sich ihm im Verhältniss der kleinen Erde zur Unendlichkeit des Weltganzen, in allem organischen Leben auf der Erde, vornehmlich aber in der viel tausendjährigen Geschichte der Menschheit und durch eigene innere Erfahrung offenbart, muss der Mensch das Gesetz seines Lebens wie alles Daseins überhaupt abzuleiten suchen. Das Mittel dazu ist ihm in seiner Vernunft gegeben. Was unsere, durch eigene innere Erfahrung geläuterte und gereifte Vernunft für wahr hält, das hat für uns selbst den Werth unbedingter Wahrheit, gleichgültig, ob es andere anzweifeln, oder ob dem nun auch wirklich so ist.

Eine solche individuelle Lösung der Lebensräthsel zu suchen, ist nun die vornehmste Aufgabe, die die Freimaurerei ihren Jüngern stellt, und die hierzu nothwendige innere Erfahrung will sie in ihnen durch die ihr eigenthümliche Art der Belehrung über das Wesen des Menschen hervorbringen. Dass dies in gemeinsamer Arbeit geschehen kann, dafür sorgt der Erziehungsplan der Freimaurerei, der auf bewährten uralten Ueberlieferungen beruht und auf das natürliche Gesetz aller geistigen Entwickelung des Menschen gegründet ist. Denn trotz aller persönlichen Geistesfreiheit giebt es einen natürlichen, Allen gemeinsamen Weg inneren Fortschritts und innerer Erleuchtung, den zu wandeln dem Einzelnen ebensowenig als ein unnatürlicher Zwang erscheint, wie die natürliche Entwickelung seines Körpers. Aber nicht plötzlich, sondern nur allmählich, nur stufenweise fortschreitend kann eine solche Erziehung wirksam werden; denn in allmählicher und nur stufenweise erkennbarer Entwickelung, wie der Körper, reift auch die Vernunft.

Daher muss die Freimaurerei, will sie ihre Jünger in der rechten Weise über die geistige Natur des Menschen aufklären und belehren, ein der natürlichen geistigen Entwickelung des Menschen entsprechendes Verfahren einschlagen und ihre erzieherischen Mittel und Uebungen stufenweise zur Anwendung bringen. Wie bei der geistigen Entwickelung des Menschen der Uebergang aus einer Stufe in die andere nur ganz allmählich erfolgt, wie sich der Culturfortschritt der Menschheit stufenweise vollzieht, so muss dies auch in der Freimaurerei geschehen. Dies ist der Grund, warum die Freimaurerei das, was sie ihr Geheimniss nennt, auf verschiedene Erkenntnissstufen vertheilt, mit deren Inhalte sie ihre Jünger erst allmählich bekannt macht. In dem erzieherischen Zwecke der Freimaurerei ist also die eigentliche Erklärung des freimaurerischen Gradwesens zu suchen, während dessen besondere Gestaltung in den einzelnen Lehrarten oder Systemen auf geschichtliche Verhältnisse zurückzuführen ist. Aus dem innersten Wesen der Freimaurerei entsprungen, müssen die einzelnen Erkenntnissstufen aber auch in harmonischem Zusammenhange mit einander stehen; die erste muss die tragende Grundlage aller folgenden sein, und jede folgende muss die vorhergehende verbessern und vervollkommnen.

Vor dem eben aufgenommenen Johannis-Lehrlinge liegen jedoch bereits Grundriss und Plan zu dem geistigen Tempel ausgebreitet, dessen Errichtung das Ziel der Freimaurerei ist und zu dem die freimaurerische Erziehung die Bausteine herbeischaffen soll. Dieser geistige Tempel aber ist nichts anderes als das Reich Gottes auf Erden, zu dem Jesus von Nazareth in seiner Lehre von der Gotteskindschaft aller Menschen den Grund gelegt hat.

Wie vor neunzehnhundert Jahren Jesus von Nazareth mit der frohen Botschaft von der Gotteskindschaft aller Menschen und der Bruderliebe als heilendem Balsam für alle mit dem menschlichen Dasein unzertrennlich verbundenen Uebel und Leiden der damals in sich verfallenen Menschheit der alten Welt ein neues Ziel geistigen und sittlichen Lebens und Strebens offenbarte, so hat die wahre Freimaurerei von jeher in der reinen Jesuslehre die höchste und vollendetste Form religiös-sittlicher Lebensanschauung gesehen, die die Jahrtausende gezeitigt haben, das Ideal, in dem sich immer die streitenden Elemente einer zerfallenden und einer werdenden Welt zu höherer Einheit zusammenfinden und versöhnen können.

Die Wahrheit des Christenthums liegt in der weltgeschichtlichen That, durch die Jesus das Judenthum, d. h. die zwingende Herrschaft des Gesetzes und des Kastengeistes der alten Welt, stürzte und durch seine Lehre von der Einheit des Menschen mit Gott und von der Alleinherrschaft der Freiheit und der Liebe das Ideal des Menschenthums verkündete.

»Der Herr ist der Geist, wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.« – »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm.« – »Ihr seid allzumal Gottes Kinder; hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, sondern ihr seid allzumal Einer in Christo.« – »Wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllet; denn die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.« In diesen und ähnlichen Aussprüchen ist der Kern der Botschaft Jesu an die Menschheit enthalten, der Geist jener die antiken Volksideale verdrängenden christlichen That, die als solche noch immer welterobernd fortwirkt. Und nur an dem Maassstabe dieser That, nicht aber an den Mythen und Dogmen, die sich um sie angesammelt haben, kann die Wahrheit des Christenthums erkannt werden. Was dieser weltgeschichtlichen That des grossen Nazareners widerspricht in Glauben und Lehre, in Vergötterung und Verketzerung ist zeitlich und vergänglich, ist Verkehrung der ursprünglichen christlichen Wahrheit, der reinen Weltanschauung und Lebensauffassung des Meisters von Nazareth. Diese Jesusthat sprengte den engen Begriff des Volkes und erschloss den Gedanken der Menschheit und der Welt. Der Jude trug als Höchstes das Gesetz in seinem Inneren; der Christ aber hat nichts Geringeres in sich als das All, den ganzen Gott, dadurch, dass Gottes, des Alls, Leben und Gesetz seines eigenen Daseins Richtschnur geworden sind. Hinfort blickt er nicht mehr nach Sinai und der Bundeslade; der Himmel ist überall, und Gott ist die Einheit der Liebe und Freiheit, die eine Kraft, die des Menschen ganzes Leben allgewaltig durchpulst. Und diese Jesusthat der Verkündigung der Einheit der Menschheit mit Gott in Freiheit und Liebe war nicht ein nur einmal Geschehenes und dann Vergangenes, noch war es ihr Zweck, bloss den Geist des einzelnen Menschen zu befreien oder bloss im Himmel des Gedankens zu verharren; sie trug vielmehr in sich den Keim und Drang zur Welterlösung, zur wirklichen Herstellung des Reiches Gottes auf der Erde. Der Gedanke des Reiches Gottes ist dem Meister von Nazareth aber nicht bloss ein schöner Traum, mit dem sich die Armen in ihren Leiden ruhig trösten sollten, über den die Weisen und Schriftgelehrten wie über alles andere in ihrer Zelle Betrachtungen anstellen und den am Ende auch die Reichen in einem geistig angeregten Augenblicke ihres Wohllebens herzerhebend und schön finden sollten – der Gedanke des Reiches Gottes soll vielmehr verwirklicht werden, indem er das ganze Leben dessen, der ihn in sich aufnimmt, umgestaltet und immer mehr das Leben der ganzen Menschheit bestimmt. Jesus wollte keine bloss einseitige politische und sociale Umgestaltung, er forderte die Erneuerung des ganzen Menschen. Aber der Verkündigung von der Nothwendigkeit der Hingabe des ganzen Menschen an die Mitarbeit am Reiche Gottes widmete er seine volle Kraft, ihr brachte er sein Leben selbst zum Opfer. Er schied, nachdem er, als der grösste aller Vorkämpfer des Menschenthums, der Menschheit sein Beispiel gegeben und jenes hohe Ziel gesteckt hatte. Darum sehen die Freimaurer in ihm ihren Obermeister, das leuchtende Vorbild ihres Strebens, den Grund- und Eckstein ihres Tempelbaues. Darauf wird der Johannislehrling bereits hingewiesen, vornehmlich durch den Schutzpatron der Johannisloge, Johannes den Täufer, und damit ist ihm das eigentliche wirkliche Geheimniss der Freimaurerei enthüllt.

Br. Otto Kuntzemüller.


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