Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Birke Sibiriens . . .

. . . du armer frierender, zitternder Baum, wie glühst du im Morgenrot. Endlos, ungeheuer, millionen-, milliardenfach bedeckst du das gelbe, graue, endlose Land. Im Morgenrot glüht deine bleiche Rinde, im Abenddämmer leuchtet sie gespensterhaft, ehe sie in Nacht versinkt.

Vom fernen Amurgebiet endlos, endlos, tagelange Reise, nördlichen Tundren zu, dann immer weiter nach Westen; die tragischen Straßen entlang, über die, kaum ein Jahrzehnt ist es her, müde verzweifelte Scharen Verbannter von den Verbrecherhorden des zaristischen Militärs angetrieben wurden, geht es vorwärts, heim, durch das riesige heilige Rußland.

Berge tauchen auf, blaue, und mit ihnen der Gedanke an kettenschleppende Sträflinge in den Platin-, Kohlen-, Erzbergwerken. Städte, kleine Dörfer über die Wüste Sibiriens verstreut, Siedlungen ehemaliger Deportierter! An den Stationen stehen Menschen, wir steigen aus unseren Wagen und sehen sie an. Wunderbar gemeißelte Köpfe, in denen etwas vorgeht, Gesichter von Menschen, die in ihrem Leben etwas erfahren haben – es sind die Nachkommen . . .

Hierher in diese Stadt waren die Dekabristen verbannt, Offiziere des Zaren, mit ihren feinen Händen, zarten Seelen, die ersten willensstarken Aufrührer des leidenden Rußlands. – Das Zentrum Nertschinsk taucht auf mit mächtigem Gefängnis, aus dem strahlenförmig in das Bergwerkselendland ringsum die Scharen der armen Verurteilten getrieben wurden. – Tschita, nahe an der Grenze der Mongolei, ein Ansatz nur zur Großstadt, mitten in die Wüste des weiten, grauen Ostens gestellt, kaum recht erbaut und schon verfallen. – Der in Eis donnernde Baikalsee: arme Lehmhütten der Fischer mit rötlichen Lichtern in der Dämmerung; Felsen aufsteigend an der Südspitze des mächtigen, weit dahingestreckten Wassers. – Irkutsk mit vielen Türmen, flüchtig berührt im Morgendämmer – Irkutsk: ein Klang aus der Jugend: 342 Michael Strogows Stadt, das Buch von Jules Verne! – Und dann dem Ural entgegen – jetzt Swerdlowsk, das vor kurzem noch Jekaterinenburg hieß, tief im Schnee versunken. In der Bahnhofshalle, die von Menschen wimmelt, umgeben von ehrfürchtig dastehenden, sich ehrfürchtig zu ihm niederneigenden alten Bauern und Bäuerinnen ein sitzender, rundlicher, mit roten Bäckchen heiter vor sich hinblickender Pope, offenbar ein heiliger Mann, verehrt von Bäuerlein und alten Weibern, in dieser, so scheint es, von Komsommolzen noch nicht genugsam beackerten Gegend der Sowjetrepublik. Aber knapp neben der Popengruppe, vor der Verkaufsbude der herrlichen Uralsteine, aus denen hier Miniaturfelsengrotten, bunte Säulen und erstarrte Springbrunnen gestaltet sind: ein paar ganz junge Mädchen aus der Stadt, in schicken Hüten, Seidenstrümpfen, die unter dem bunten Fohlenpelz die mächtig frierenden zierlichen Beine bedecken, langherunter baumelnde modische Ohrgehänge, grell weiß und rot geschminkte Gesichter – ach, jetzt sind wir Europa schon ganz nahe, wenige Stunden noch, und wir sind in Europa!

 

Dieses Jahr, im Orient verbracht:

Stier, Schlange, Kuh, Fuchs, Affe wird als Gottheit verehrt,

milde, gottähnliche Menschen, gräßlich verzerrte Dämonenfratzen blicken von Altären hernieder,

zartgefaltete Hände mit ruhenden Daumen, die sich berühren, und grausam verkrampfte, langnäglige Fäuste, die den Dreizack und das scharfe Schwert schwingen,

brünstiger Götzenkult, Opfertiere an blutige Steine kläglich angebunden, und daneben die abgeschiedene Heiligkeit in seligen Träumen versunkener irdischer Geschöpfe . . .

Wie viele Arten, die Toten zu begraben:

auf Scheiterhaufen verbrannt, in heilige Gewässer versenkt, den Vögeln des Himmels preisgegeben, in ehrfurchtumwitterte Maulwurfshügelgehege vergraben –

wieviel verschiedene Arten, den Körper zum Dienst der Gottheit zu weihen:

durch Abtötung, Überernährung, Aufpeitschung, wirbelnden Tanz und todähnliche Reglosigkeit –

343 Erlebnisse des Schönheitskultes, der Erotik:

Inderinnen, Tibetanerinnen, Singhalesen: von Gold strotzende Körper in bunten Seidentüchern; Chinesinnen, die ihre zierlichen Formen unter blassen, nichtssagenden Gewändern verbergen; Japanerinnen, die durch entstellende Wülste ihre Glieder im farbenbunten Kleid verzerren; die unnatürlich kleinen Füße der Chinesin, die auf klappernden Getas in klauenförmigen Socken dahintrippelnder Japanerinnen; schlichte Haartracht der Mädchen und Frauen Indiens, gefährlich komplizierte Haargebäude der Mandschufrauen –

wie viele Trachten, Bekleidungen, Bemalung, Bräuche und Moden, den Leib, den gottgegebenen, das Haupt, das gottgeweihte, die Stirn, den Scheitel, Sitz und Instrument des göttlichen Willens, dem Unbekannten darzubieten –

wie viele Formen der Begrüßung, der Ehrfurcht, dem Mitmenschen zu bezeugen:

das liebliche Händefalten vor den lächelnden Lippen, zu tiefe Beugung des Knies, Sichniederwerfen, die Handfläche nach vorn Drehen! – – –

Tagereisen weit ändert sich die Form des Lebens, des Gottesdienstes, Menschendienstes, der Ehe, des Todes; das Weltbild:

Unzucht, Askese, Blutrausch, milde Liebe zu aller Kreatur, sinnende Anbetung und selbstvergessene Ekstase – –

wie fallen Vorurteile, welkes Laub, Schuppen vor den Augen nieder – die Menschen, der Mitmensch, Mitbewohner dieses unergründlich wunderbaren Planeten, Genosse dieser Zeit –

jeder in seiner Atmosphäre – seiner Tradition – seiner Verwandlung, Umwandlung – in der Unerschütterlichkeit seines Glaubens, seiner Bekehrung und Seligkeit –

jeden, jeden zu erkennen, zu verstehen suchen, lieben wenn möglich – – –

 

Denn das ist es: Liebe zum Volk empfinden, zum niederen Volk, dem noch nicht auf den gemeinsamen Nenner dieser öden westlichen Maschinenzivilisation gebrachten Volk – das Erlebnis des Fahrenden durch so viele geheimnisvolle, ungenügend ergründete 344 Länder, kaum geahnte Kulturen, Zeuge und Miterlebender sein dürfen und wollen so vieler fremder, befremdlicher, ehrwürdig heiliger Bräuche –

das Erlebnis des Verstehens, der Hingabe an das niedere Volk, das nichts weiß außer seinem Gott, nichts annehmen will, was aus jener Himmelsrichtung des entgötterten Abendlands zu ihm herüberschallt, in wirrem Getöse aus Maschinengestampf, Kanonendonner, dem wüsten Treiben der übervölkerten Stadt, dem wilden Tumult des Wettbewerbs, der Zerstreuung, des Neides – die die Unfähigkeit zur Sammlung gebären, Unwilligkeit zur nötigen Sammlung auf das einzig Nottuende, und wäre es nur die Erkenntnis der Eitelkeit alles Seienden, irdischen Tuns – auf den unvermeidlichen Tod, die unentrinnbare Verbundenheit mit dem schrecklichen, unfaßbaren Geschick!

 

Ja, das ist das herrliche Erlebnis des Ostens. Ob es Indien, China, Japan, die Mandschurei, das weite Rußland ist: ein letztes, nur selten, nur unwillig getrübtes, schließlich überwältigendes Gefühl für das arme, niedere, unwissende, seinen Instinkten nachlebende, der Not, dem Geschick der Zeit überantwortete Volk, für den Niederen, den Armen! – –

Ein paar kleine, bescheidene Erinnerungszeichen, im Koffer verborgen, geringe, wohlfeile Produkte der Volkskunst, des Alltagsgebrauchs, des naiven religiösen Kultes: kleine geschnitzte Maske, Messingfigur der Kali, Steinbild des Lingam, Pilgerstab aus Benares, Flitterschmuck aus Macao, Holzdose aus sibirischer Einöde . . .

Gern mit Kulis, Arbeitern, armen Studenten, kleinen Leuten aus den Kramläden der Vorstädte beisammen sein, wohl auch in ihren Garküchen, ihnen an die Stätten folgen, wo sie sich auf ihre Art vergnügen . . . Obzwar ich ihre Sprache nicht verstehe, gelingt es mir dennoch so leicht, mich mit ihnen zu verständigen – –

denn über alle Hindernisse der Rasse, der Klassen, der Länder, der Klimate hinweg offenbart sich in einem Strahl des Augs, im Lächeln eines Menschen die Verbundenheit alles Lebenden, alles Beseelten auf Erden. Kaum benötige ich Dolmetscher unterwegs, so gut verstehe ich die Sprache des Menschenantlitzes, so geheimnisvoll schwingt meine Seele mit den wunderbaren Schwingungen aller Menschen auf 345 dieser lieblichen und wilden, anheimelnden und beängstigenden Menschenerde im Takte mit, im Takt . . .

 

Eines Tages, gegen Ende des achten Monates meiner Reise, stehe ich wieder, nun das viertemal schon in meinem Leben, auf dem Roten Platz zu Füßen der Kremlmauer im alten heiligen Moskau.

Es ist ein frostiger, von Eis klirrender Aprilnachmittag. Tausend Menschen reihen sich im Zug von der Basilius-Kathedrale an, stapfen langsam vorwärts, einem viereckigen, niederen, dunkelroten Holzbau zu, der bei der Mauer errichtet ist, nicht weit von dem Tor, das die alte Kapelle der Iberischen Mutter Gottes zwischen ihren Bogen trägt. Am Fuße der Kremlmauer, dort, wo die Gräber der Revolutionshelden unter dem Schnee verschwinden, birgt das rote Holzmausoleum den Sarg und den Körper Lenins.

Langsam bewegt sich der Zug dem Mausoleum zu. Es dauert lange, bis wir den Eingang erreicht haben. Zwischen einem Spalier stummer Rotgardisten steigen wir langsam die Stufen zum Grabgewölbe hinab. Es sind viele Stufen, denn der Raum mit Lenins Leichnam liegt tief unter dem Straßenniveau. –

Als dieses Mausoleum gebaut wurde, hat der Verkehr der Straße tagelang gestockt. Man mußte die wichtigste Trambahnlinie, die die beiden Ufer der Moskwa miteinander verbindet, verlegen, denn das Mausoleum wurde mitten auf die Trambahnstrecke gestellt. Der Verkehr, das symbolische Leben der uralten Stadt, des weiten heiligen Reiches stockte, der Herzschlag, der Puls stockte, wie der Verkehr der Stadt. Tag und Nacht ritten, auf schwarzen Rossen, in stürmischem Galopp, Reiter der Roten Armee unaufhörlich um dieses Mausoleum herum. Ritten, ritten, ritten Tag und Nacht, in nie aufhörendem Galopp, schwarz und schweigend, um den dunkelroten Holzbau, der den Leichnam des toten Führers in der Tiefe birgt.

Schwer und schweigend steigen wir die vielen Stufen unter die Erde hinab, zwischen den stummen, mit vor sich hingestellten Gewehren schwer dastehenden Soldaten. In einem hellbeleuchteten Glassarkophag liegt Lenin, so wie ich ihn zuletzt vor drei Jahren auf dem Podium des Kremlsaales gesehen habe – es war das letztemal, da er, schon todkrank, aber noch Herr seiner Energie und geistigen Vollkraft, vor den 346 Delegierten des Kongresses der Dritten Internationale sprach – schwere Worte, die zum letztenmal in die Zukunft eine Bresche zu schlagen versuchten, die uns einen Weg zu zeigen suchten, den wir der Menschheit weisen sollten. So schritt der große Führer, schon todkrank, die irdische Auflösung vor Augen, seinen Weg in die unbegrenzte Zukunft, in die Ewigkeit vorwärts. –

Die Wissenschaft hat die Auflösung verhindert. Wie sein Geist lebendig ist, sein Glaube weiterwirkt, ist sein Körper erhalten. In grauem Arbeitskittel, ein schwarzes Fell über die Füße gebreitet, den roten Stern der Sowjets auf die Brust geheftet, liegt Lenin im hellbeleuchteten gläsernen Sarg vor unseren Blicken. Sein Körper scheint kleiner geworden durch den Prozeß der Einbalsamierung, im luftleeren Raum; die Haut wächsern, das sehr ruhige Antlitz, die geballte Rechte, die ausgestreckten Finger der Linken ruhen. Stumm und mit zitternden Lippen gehen wir um diesen furchtbaren Sarg herum, der, grell beleuchtet, einen seit zweieinhalb Jahren toten Menschen birgt, zur Schau stellt.

Hier bei diesem, dem Irdischen entrückten, ins Göttliche erhobenen Bild des Menschenschicksals endet meine Reise. Alles, was ich an Göttlichem, an irdischem Widerschein und Ewigkeitsabglanz im Orient gesehen habe – hier scheint es, in einem durchsichtigen Sarg wie in einem Brennpunkt von Aufgang und Untergang ineinander geflammt: Gottesglaube, Menschheitsglaube, Zeit und Ewigkeit, Liebe, Wille, Macht und das Gesetz!

 

Ende

 


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