Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Talare vor dem Toten Meer

Eigentlich bin ich ja als Gast der Zionistischen Exekutive nach Jerusalem gekommen; die Einladung galt zur Eröffnung der Hebräischen Universität auf dem Skopus. Das Land war neu zu besichtigen, denn drei Jahre sind in dem jungen, gewaltig vorwärtsdrängenden politischen und ökonomischen Gemeinwesen eine bedeutende Zeitspanne, in der sich manche Veränderung ergeben mag. Natürlich lehnte ich sofort bei der Annahme der Einladung jedwede Verpflichtung ab, etwa propagandistisch für Palästina, das heißt »Erez Israel« zu wirken, falls mir die Entwicklung dieses jüdischen Staates im Staate dazu keinen Anlaß böte, es sogar verböte. Doch habe ich, das sei gleich im vorhinein bemerkt, jawohl eine bedeutsame Entwicklung konstatiert, und so darf ich die Hand, die bereits etwas leichter und lockerer in dem geheilten Gelenk sitzt, mit gutem Gewissen nach der Feder ausstrecken, um Gesehenes, Empfundenes zu verkünden.

In der Tat, es ist eine Entwicklung in diesem von Energien, 38 Spannkraft, positivem Willen und hysterischer Überspannung brodelnden Kessel zu bemerken. Sie strömt nach einer ungeahnten Richtung, aber doch in die Höhe, wenn auch nicht gerade in dem Sinne, daß es eine Vorwärtsbewegung zu ökonomischen und politischen Idealen genannt werden mag. Eher schon darf man sie einen Aufschwung zu metaphysischen Höhen nennen. Aber auch dies mit Einschränkung von mancherlei Graden.

Über die Universität und die charakteristische Feier ihrer Eröffnung muß einiges gesagt werden.

Das Haus der Universität steht, aus Steinen in arabischem Stil erbaut, nicht sehr umfangreich, aber schmuck und solid, auf dem Skopus, der den Bergzug um Jerusalem vom Ölberg her in nordwestlichem Bogen fortsetzt. Fährt man von Jerusalem nach dem Skopus, so passiert man ein riesiges Gräberfeld, den Kriegsfriedhof, in dem englische, arabische und jüdische Soldatengräber, militärisch stramm und einheitlich in Reihen ausgerichtet, wie beim Paradeexerzieren nach dem Kommando: Stillgestanden! unter Betongedenksteinen von der Form der Gesetzestafeln Mose daliegen. Mitten aus dem Friedhof ragt ein schlankes Betonkreuz empor, das statt des Leibes des hier in der Nachbarschaft hingerichteten Menschenfreundes ein Schwert aus Bronze aufgeschraubt trägt. Dieses ragende Denkmal wird von Gethsemane aus sehr deutlich sichtbar sein . . .

Wenn man auf der Höhe des Skopus atemschöpfend stillsteht und den Blick von der Heiligen Stadt ab und ostwärts wendet, gewahrt man in ungeheurer Tiefe den bleiernen Schimmer des Toten Meeres und an seinem jenseitigen Ufer, in bläulich-rosafarbener Ferne, die Geisterlandschaft der Berge Moab. Moabs Bergzüge, tot und abgestorben, seit Jahrtausenden durchsichtig wie Mondlandschaft, neigen sich zur bleiernen Flut, die ohne Leben ruht, versunkene Welten, vergessene Religionen, Seelen und Blut von Äonen in Staub und Vergessenheit aufgelöst hat.

Dieses Tote Meer, diese Mondlandschaft des rätselhaften Hauran jenseits der Jordansenkung gab den Hintergrund, die Kulisse für die Feierlichkeiten ab, die sich im Garten der Universität, im Amphitheater unter freiem Himmel abspielten – einem Auditorium Maximum, wie es keine zweite Lehranstalt der Welt besitzt.

39 Auf den Stufen des Amphitheaters gewahrte man, inmitten der festlich und europäisch gekleideten Gäste, einiger tausend aus allen Ländern der Erde zusammengeströmten Juden eine Reihe Burnusträger, arabische Häuptlinge mit silbernen Säbeln und bunten Tüchern um die vermummten Köpfe, Würdenträger aus dem Betschangebiet – jedoch keinen einzigen Kaftan, der auf die Anwesenheit orthodoxer Juden hätte schließen lassen; die alten Ansiedler des jüdischen Jerusalem hielten sich ferne; wie bekannt, ist diesen die Lehranstalt, die in der Sprache der Schrift, der dreimal heiligen, sich Profanes zu künden unterfängt, ein Greuel und Abscheu. Giftig und hämisch waren die Orthodoxen dem Fest der Zionisten ferngeblieben. –

Am 1. April nun, nachmittags um drei, marschierte, als auf den Stufen des Amphitheaters all die Tausende erwartungsvoll versammelt saßen, von Händelschen Chören mit Hallelujah begleitet, eine Gruppe bunter mittelalterlicher Gestalten in feierlich langsamem Aufzug an der Zuschauerschar vorbei und nahm auf der erhöhten Rednerestrade Platz, den vorderen Reihen die Aussicht auf das Tote Meer und die Berge Moab raubend. Es waren Professoren, Würdenträger geistiger, politischer und militärischer Instanzen, die sich zwischen dem Toten Meer und der lebendigen Judenschaft niedergesetzt hatten. Zum größeren Teil jüdische, aber auch christliche Professoren, kein Moslem in der Gruppe, von vielen Universitäten der Welt Delegierte, auf erhöhten, festlich geschmückten Sitzen, in bunten mittelalterlichen Talaren, zum Teil mit komischen Kopfbedeckungen, die mich lebhaft an die Ulanentschapkas der weiland kaiserlich-königlichen Armee erinnerten. Alles in allem mittelalterlicher Prunk, welcher den Ursprung der höheren Bildungsstätten der Welt wie auch ihre Zurückgebliebenheit in unserer heutigen, vorwärtsstrebenden Geschichtsepoche sinnfällig vor Augen führte. Da saßen sie nun, diese weltlichen Würdenträger der Wissenschaft, neben den Generälen, die das Heilige Land für Englands Imperium erobert hatten, neben den hohen und höchsten Verwaltungsbeamten, die das Land für Englands Imperium verwalteten; es waren aber auch Rabbiner unter ihnen, sogar ein Dichter oder gar deren zwei, diese stachen von den anderen durch etwas schäbigen Rock und Unbehagen ausdrückende Haltung ab.

Auf die ersten Reihen des Auditoriums hatte man, gegenüber der 40 Estrade, gewichtige Vertreter der anderen Weltmacht plaziert, nämlich der hochbegüterten, opferwilligen, das heißt zu außerordentlichen Spenden bereiten jüdischen Bourgeoisie des Erdballs, insbesondere der nordamerikanischen Breitengrade. Denn nicht nur Professoren und für die Propaganda brauchbare Intellektuelle waren eingeladen worden, sondern auch und vor allem reiche Leute, die der Universität aus ihren Kinderschuhen zur blühenden Entfaltung verhelfen sollten.

Die Feier erhielt ihr besonderes Gepräge dadurch, daß sie von Ansprachen zweier Rabbiner eingerahmt wurde. Den feierlichen Reigen der Ansprachen, die über die Köpfe der kapitalkräftigen ersten Reihen hinweg in trefflicher Akustik bis zur letzten, auf deren ungepolstertem Beton die Gäste geringeren Grades saßen, hinweghallten, eröffnete der Oberrabbiner Kuk von Palästina, ein Mann von großem Wissen, Klugheit und Ansehen, von dem hier noch die Rede sein wird. Mitten in seiner hebräischen Ansprache begann er plötzlich zu singen. Es war wohl ein Psalm, den der Rabbiner hier angesichts der Heerscharen der heutigen Welt anstimmte. Er wurde bei dieser Verrichtung aber gar bald von dem designierten Dekan der Universität, Dr. Magnes, gestört, verließ gekränkt und betreten die Estrade, und nun kamen in Talaren die geistigen und in Gehröcken mit übergeworfenen Talaren die weltlichen Würdenträger Palästinas und Großbritanniens an die Reihe, unter ihnen Lord Balfour, der Ehrengast der Zionisten, Verfasser und Pate jener berühmten Deklaration, die den Juden eine Heimat sicherte, das Recht gab, sich wieder, nach zweitausend Jahren, als Nation zu fühlen, und die eine Woche später im syrischen Damaskus dem greisen Staatsmann fast das Leben gekostet hätte. Den Reigen aber beschloß wieder eine hebräische Ansprache, diesmal des Oberrabbiners von England, Hertz.

All dies Zeremoniell, einigermaßen mittelalterlich, wenn nicht prähistorisch anmutend, schien mir und vielleicht auch noch einem und dem anderen unter den Geladenen und Herbeigeströmten befremdlich und nicht ganz zum Sinn und dem Gedanken einer jüdischen Universität zu passen. Ich mußte an die obersten Namen der heutigen jüdischen Wissenschaft denken, an Einstein, Bergson, Brandes, Freud. Jeder von diesen hatte auf seine Art die Grundlagen, die Festen seines eigenen Wissensgebietes erschüttert, um auf den zertrümmerten 41 Postamenten eine neue Lehre, eine revolutionäre Doktrin zu errichten. Und hier, angesichts des Toten Meeres, aber den Blick dem lebendigen Judentum zugewandt, versuchte man anachronistisch Wissenschaft wieder mit dem offiziellen lieben Gott zusammenzukleben.

(Auch schien es unangebracht, daß in den Ansprachen auf der Estrade die Wissenschaft auf der anderen Seite mit dem Militarismus zusammengeklebt wurde; der Eroberer Palästinas, der Soldat Allenby, hatte mitten unter den Professoren seinen Stuhl, sein Name fand des öfteren unter enthusiastischem Beifall der Menge Erwähnung, während der Name des Dr. Theodor Herzl meines Wissens kaum einmal fiel, obzwar Herzl ja im Himmel immerhin seinen Anteil an der Feier beanspruchen durfte.)

 

Um es kurz herauszusagen: aus dieser Universität ist, auch wenn man Geld genug findet, um ihr die Kinderschuhe aus- und solide breite amerikanische Patentlederstiefel anzuziehen, in absehbarer Zeit keine ausgewachsene Lehranstalt zu machen. Heute dürfte das Haus auf dem Skopus sich überhaupt nicht den Titel einer Universität anmaßen, denn zu einer Universität fehlt's an den drei wichtigsten Dingen: Dozenten, Hörern und Lehrbüchern. Sogar eine Terminologie steht der obligaten hebräischen Unterrichtssprache noch nicht zur Verfügung, und die bereits vorhandenen »Skripta« haben sich, wie mir Sachverständige versicherten, als in völlig unzulängliches Hebräisch übersetzt erwiesen. –

In Haiderabad, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz Britisch-Ostindiens, sitzen gegenwärtig an die hundert Übersetzer beisammen, die die wichtigsten Werke der Weltliteratur in die Urdu-Sprache übersetzen; nach Beendigung ihrer Arbeit wird die Urdu-Universität ihre Pforten öffnen. So schafft man einer ernsthaften Lehranstalt ihren wissenschaftlichen Grundstock.

Die hebräische aber, um die solcher Lärm in der Welt geschlagen wurde, ermangelt dieses Grundstocks in verhängnisvollem Maße. Daher Kopfschütteln, Kritik, Verstimmung und mannigfache Aufregung in den beteiligten Kreisen. Besonders boshafte Menschen erachten dieses Phantom einer Universität überhaupt als Lockmittel, um Geld, viel Geld, immer noch mehr Geld herbeizuschaffen, eine Schnurrpfeiferei 42 zu Schnorrzwecken. Jedenfalls hat die grenzenlose, durch den Galuth gezüchtete Geschicklichkeit der Juden, für alle möglichen Zwecke, mit allen möglichen Mitteln Geld zu sammeln, hier in einer ganz neuartigen Abart Triumphe gefeiert. Nur die ganz Verstockten sahen, daß der König überhaupt keine Kleider anhatte.

In den Arbeitern der Kolonien, den Chaluzim (d. h. Pionieren) der Ebene Jesreel, die kaum zu beißen haben, in den armseligen verhungerten Volksschullehrern, die bei einer monatlichen Besoldung von zwölf Pfund bereits ein halbes Jahr lang vergeblich auf Bezahlung ihrer Bezüge warten mußten, ja auch in einem der wichtigsten Dozenten dieser Universität, einem Breslauer Hebraisten von Weltruf, der infolge ungenügender Bezahlung seiner Arbeit die Universität schleunigst wieder verlassen hat, muß die Feierlichkeit auf dem Skopus seltsame Gefühle geweckt haben.

Hat eine hebräische Universität in Palästina überhaupt Existenzberechtigung? Sie ist, von Europa wie von Palästina aus gesehen, ein Produkt des Chauvinismus, der sich in dem alten Lande in den letzten Jahren verhängnisvoll rasch entwickelt hat. Den jungen Juden Palästinas kann gar nichts Besseres gewünscht werden, als daß sie für ein paar Jahre an wirkliche Universitäten Europas gehen und mit gründlichen Kenntnissen nach Palästina zurückkehren, um diese Kenntnisse dem Lande zugute kommen zu lassen. Das Geld, das für die Schaffung einer ephemeren Universität auf dem Skopus verwendet wird, wäre in Stipendien für den Besuch europäischer Lehranstalten besser angelegt. Wäre Palästina bereits ein im nahen Orient verwurzeltes Gebilde, so wäre eine hebräisch-arabische Universität, ein der Erforschung der besonderen Bedingungen des nahen Orients, seiner klimatischen, ethnographischen, politischen, religionswissenschaftlichen Eigenart gewidmete Lehranstalt wohl am Platze. Als einer Lehranstalt aber, deren Unterrichtssprache in der Nachbarstraße nicht gekannt noch verstanden wird, ist ihr jede Existenzberechtigung abzusprechen. Bei der labilen Stellung, die Palästinas Judenschaft gegenwärtig innerhalb der sie umgebenden Völker des Islam einnimmt, muß die Universität auf dem Skopus als ein gefährliches Element der Provokation aufgefaßt werden.

Mag sein, daß diese Auffassung der berüchtigten, dem Schnorren 43 entgegengesetzten Fähigkeit des Juden, nämlich der Krittelsucht entspringt. Nichts wäre tiefer wünschenswert, als daß die Entwicklung Palästinas und seiner Universität die Skepsis, deren sich mancher von uns am 1. April nicht erwehren konnte, Lügen strafte.

 


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