Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Rote Parade in Canton

Nur wenige Tage in Hongkong, dann mache ich mich auf den Weg nach Canton, der Hauptstadt des revolutionären Südchina, dem Hauptquartier des großen chinesischen Befreiungskampfes.

Der Verfasser unter chinesischen Arbeitern auf der Fahrt nach Canton

Der Verfasser unter chinesischen Arbeitern auf der Fahrt nach Canton

Die Kuo Min Tang – und zwar ihr linker Flügel – hält in den nächsten Tagen – wir schreiben den 1. Januar 1926 – ihren zweiten Kongreß in Canton ab. Zu Ehren dieses Ereignisses sowie der aus allen Teilen Chinas herbeigeströmten Delegierten der revolutionären Volkspartei findet auf dem Paradefeld eine Truppenschau und der Aufmarsch der Arbeitergewerkschaften und des Streikkomitees statt.

Es ist auf dem Feld eine riesige Tribüne erbaut. Sun Yat Sens überlebensgroßes Bildnis, umrahmt von chinesischen Glasflittern, Blumen, Schleifen und den Fahnen der Südrepublik, ragt über die Ränge der Tribüne empor. Unter dem Bild ein Tisch, an dem die Führer der Kuo Min Tang, die Generale der revolutionären Südarmee Chinas und die Mitglieder der Regierung der vereinigten Provinzen Kwantung, Exekutive und Rat der Stadt Canton stehen. Außerdem sind etwa ein Dutzend Europäer zugegen: die russischen Genossen, Gannett von der New Yorker »Nation« und ich.

All dies erinnert mich an die denkwürdigen Aufmärsche der Roten Armee auf Moskaus Rotem Platz, auf dem Platz vor dem Winterpalais in Leningrad. Die jungen Soldaten. Die jungen Offiziere, Generale, Admirale. Der Enthusiasmus der Vorbeidefilierenden und die begeisterten Zurufe von den Tribünen. Rechts und links haben sich auf den Stufen der Seitentribüne die Delegierten des Kongresses, die Studenten der Universitäten aufgestellt, und wenn ein Regiment unten vorbeimarschiert, eine Gewerkschaft mit ihren Fahnen auf dem weiten Felde sichtbar wird, erbraust ein tausendstimmiges Geschrei, in das die Menge auf dem Felde einstimmt: 209

»Die 9. Division lebe zehntausend Jahre!«

»Die Republik China, sie lebe zehntausend Jahre!«

»Tschun wa min ko – man szü, man szü!«

Und mit besonderer Begeisterung:

»Kuo min tang – man szü, man szü!«

Während die Soldaten vorbeimarschieren – es sind blutjunge Leute, Knaben darunter, kaum ausgebildet, erträglich equipiert (ich höre, vor einem halben Jahr noch gingen sie in grotesk zusammengewürfelten »Uniformen«, ungenügendem Schuhwerk), die meisten stammen aus den nördlicheren Provinzen Hunan und Kiangsi –, habe ich Gelegenheit, mein Einführungsschreiben Herrn Wang Tsching Wei, dem Obmann des Regierungsexekutivkomitees, zu übergeben. Er steht im Gespräch mit dem berühmten revolutionären General Tschang Kai Chek, dem Anführer der siegreichen Whampookadetten im letzten Südfeldzug. Beide, Wang und Tschang, sind noch junge Leute, wie die übrigen Würdenträger im allgemeinen. In Kleidung und Attitüde gleichen sie den Moskauer Kommissaren, ihr Leben ähnelt dem der Moskauer Kommissare während der ersten Jahre der Revolution. Doch wenn ihr Leben auch stündlich bedroht ist, Mord und Überfall auf der Tagesordnung Cantons wie auch des übrigen China stehen, wenn sie auch, wie es von Wang heißt, allnächtlich anderswo zu schlafen gezwungen sind – diese Volkskommissare tragen ihr gefährdetes Leben bei weitem nicht so tapfer durch die Stadt, wie ich es in Rußland in jenen ersten Jahren beobachten konnte. –

Über die Straßen Cantons jagt ein Automobil. Auf den Trittbrettern rechts und links je drei Soldaten aufgepflanzt, Revolver in der Hand, Finger auf dem Trigger – je zwei nach vorn, zwei nach hinten, zwei nach der Seite Auslug haltend. Im Wagen sitzt wohlverborgen ein General oder ein Mann der Exekutive. Nicht ihre Macht allein bedroht ihr Leben. Ihre Jugend, der Neid der Mitstrebenden, der Haß der feindlichen Partei, die Gesinnung des aufgeregten Cantonvolkes vergrößert die Gefahr.

In Moskau sah ich solche Bewachung nie und bin doch Trotzki, Lenin, ja sogar Djershinski wiederholt in den Straßen begegnet! –

Herr Wang liest den Brief, läßt mir durch den Dolmetscher sagen, 210 daß er mir in den nächsten Tagen Bescheid geben werde. (Ich glaube nicht sehr daran, dafür werde ich bald Gelegenheit finden, mit einem ebenso wichtigen und einflußreichen Mann, dem Bürgermeister C. C. Wu, Wu Ting Fangs Sohn, zu sprechen.)

Während wir vorn an der Rampe stehen, ist ein begeisterter junger Chinese auf ein Geländer gestiegen und hat den revolutionären Gesang des Südens angestimmt. Die Kuo Min Tang-Delegierten, Studenten und Studentinnen – letztere haben sich, mit kurz geschnittenem Haar und verwegenem Gesicht, ganz ihren Moskauer Vorbildern angepaßt –, auch einige von den Würdenträgern in der Mitte, unter dem Bild Sun Yat Sens, stimmen aus voller Brust mit ein. Den Text kann ich natürlich nicht verstehen, die leuchtenden Gesichter der Singenden jedoch beweisen zur Genüge, daß es ein aufrüttelnder revolutionärer Gesang sein muß. Die Melodie aber, ich sollte meinen, die kenne ich! Und tatsächlich, es ist der bekannte Kanon, den wir als Kinder zu singen pflegten:

»Bruder Jakob, Bruder Jakob,
Schläfst du schon, schläfst du schon?
Es läuten die Glocken,
Es läuten die Glocken,
Bim bam bum,
Bim bam bum!«

Nachdem der Gesang verklungen ist, zieht der junge Chinese eine Visitenkarte aus der Tasche und liest von ihr eine lange Reihe von Titeln oder Namen ab. Nach jedem ertönt das vieltausendstimmige

»Man szü, man szü!«

 

Jetzt sind die Formationen der Armee, die Maschinengewehrabteilungen, Kavallerie auf festen, kleinen mongolischen Ponys, die Whampookadetten (die die Keimzelle der chinesischen Roten Armee vorstellen, ungeheuer beklatscht!), Infanterieregimenter, Pioniere, Marinedivision, salutierend an unserer Rampe vorbeigezogen. Kinematographenkurbler sind in fieberhafter Tätigkeit. In den Lüften kreist ein Aeroplan (von einem deutschen Flieger gelenkt) und wirft rote Flugblätter aufs Feld herab. Die Menge drängt sich unter den 211 Klängen der Musikkapelle enger und dichter zu unseren Füßen zusammen, um die Männer zu sehen, die hier versammelt sind.

Es erscheint eine riesige rote Fahne mit chinesischer Inschrift, dem Sowjetstern und seinen Emblemen, der Sichel und dem Hammer, im Zuge. Im selben Augenblick werden von begeisterten Chinesenfäusten die Russen, die auf einem Fleck der Tribüne im Hintergrunde beisammen gestanden haben, nach vorn geschoben, den Blicken aller auf dem Felde entgegen. Die Fahne hebt sich, senkt sich, hebt sich wieder vor den Genossen. Einer von ihnen wird gepackt, auf die Schultern gehoben, schwenkt den Hut, ich erkenne ihn jetzt, es ist Borodin. Ich sah ihn in Moskau. Hier ist er der wichtigste Mann, Delegierter der Sowjets und politischer Berater der Südregierung.

Ein einziger, lang anhaltender Schrei tönt vom Feld herauf. Mützen fliegen in die Luft. Die Russen stehen da wie eine Mauer, vor der Armee, vor dem revolutionären Proletariat Chinas. Es ist nur eine kleine Gruppe, ein Häufchen Menschen. Sie stehen da, diese wenigen Menschen, in fremdem Land, im Angesicht der fremden Millionen. Wahrhaftig: es sind Eroberer und Pioniere, aber von einer anderen Art als jene Portugiesen, Holländer und Engländer es waren, die sich hier vor Hunderten von Jahren festgesetzt und eingenistet haben: Pioniere einer Idee, die die Welt zu erobern im Begriff steht. Die östliche Welt ist von ihr bereits ergriffen. Willig oder mitgerissen wird die westliche ihr eines Tages folgen.

 

Und nun strömt, fahnenüberschwenkt, ein endloser Zug von Arbeitern über das Feld, dicht an unserer Tribünenrampe vorbei. Mitunter sieht man kostbar geschmückte Banner, die von der altberühmten Kunstfertigkeit der Cantoner Seidensticker zeugen. Viele, einfachere, tragen Sun Yat Sens Bildnis zur Schau, zwischen den gekreuzten Fahnen der südchinesischen Revolution: der weißen Sonne auf blauem Felde und der blauen Sonne in der Ecke eines roten Feldes. Gewerkschaftsfahnen sind mit den Emblemen der Arbeit geschmückt, einem Kessel, einer Spindel, einem Zahnrad. Es sind auch sehr bescheidene, zerzauste Fahnen im Zug, Fahnen der Armut, die heiligen Fahnen des Proletariats. Aber aus der Mitte des Zuges taucht mit einemmal, wie ein Überrest des alten, versunkenen China, ein phantastischer 212 Drachenkopf empor. Weiß und blau, mit rollenden Augen, bewegt er sich vor einem langen, sich windenden Drachenleib daher. Durch Stangen gelenkt, die junge, geschickte Leute tragen, ringelt sich der Leinwandkörper, der züngelnde Schwanz des Fabeltiers durch die Menge. Unter dem Kopf sitzt ein Bursche in Hemdsärmeln. Der Kopf wirbelt in die Höhe, versinkt, wird abermals mit einem Ruck emporgeschleudert, er klappt das schreckliche Maul auf, so daß zwischen den Zähnen das bebrillte Gesicht des Burschen zu sehen ist, klappt das Maul wieder zu, wieder auf, huldigend erst vor Borodin, dann vor Wang, vor dem General, vor Herrn Wu, vor der gesamten Kuo Min Tang, und zieht schließlich den Fahnen folgend, wildbewegt zu Häupten der Fahnen in der Luft sich windend, über das Feld hinweg. Die Parade ist vorbei. Ich habe gesehen, was ich zu sehen erwartet habe.

 


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