Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Esbekieh Karakol

Vierundzwanzig Stunden später sitze ich im Zuge, der von Alexandrien nach Kairo fährt.

Es dunkelt schon, und von der Landstraße jenseits des Kanals, der uralten Straße, die vom Meer den Nil hinauf ins tiefe Afrika hineinführt, ist nur ein undeutlicher Schimmer zu sehen. Vor drei Jahren: wie erschütterte da plötzlich mit einem gewalttätigen Stoß das Bild des Orients, zum erstenmal in diesem irdischen Leben erblickt, dort, jenseits des Kanals, bunt, betörend, wogend bewegt und doch ehern ruhevoll wie das jahrtausendalte, unwandelbar heilige Angesicht der östlichen Welt. Die Karawanen, langsam unter der Führung des wie ein Effendi beturbanten Leitkamels dahinziehend, vom Mittelmeer dem Äquator zu, durch blühendes Land in die tote, rieselnde Wüste; der blaue Scheich auf weißem Roß; Schiffzieher, braun und nackt, vor schwere Kähne gespannt; Segelboote mit leichter Fracht und zart gebogenen Masten; die Ziegelformer, die mit dürftigen uralten Quirlen Schlamm aus dem Kanalbett ziehen; die Eseltreiber, neben ihren Tieren einherlaufend und die aufrecht, mit schwebendem Gang unter schlanken Tonkrügen dahinschreitenden Fellachenweiber überholend; da – die kleinen Familien, uralt und heilig: die Mutter mit dem Kindlein auf dem silbernen Maultier, der Vater mit hohem Stecken in der Hand langsam neben dem Tier – und die dunklen Gruppen eilig in bunten Burnussen Dahinwandernder die Lehmdörfer der Straße entlang.

Mit meinem kranken Arm muß ich rasch nach Kairo. Die Nachtstunden verschlingen die Straße, der Schmerz ist unter 13 Betäubungsmitteln halb begraben. Auf einer Station, Damanhour, es kann auch Tanta sein, sehe ich beim Einfahren in die Stadt den Glühlichterkranz um die Spitze des Minaretts vorüberflirren. Hier vorn aber, wo der Zug hält, auf dem schmalen Bahnsteig der Station, kniet unter einer Bogenlampe ein Beter, ganz in sich versunken, richtet sich auf, wirft den Kopf zurück, beugt sich dann wieder mit einem Ruck tief, berührt mit der Stirn den Bahnsteig, die schmutzigen Pflastersteine, befreit von allem Hienieden, während der Zug schon pfeifend, eisern in seinen Gelenken rasselnd weiterfährt.

In meinem Wagen sitzen Leute aus der »Helouan«. Es ist der Wagen erster Klasse, ich bin allein in meinem Abteil, ein wenig betäubt, doch froh, von meinem Unfall nicht allzusehr belastet. Bis Bagdad werde ich jetzt festen Boden unter den Füßen behalten. Was sage ich, bis Bagdad – bis Bassorah, bis zum Persischen Golf, auf dem ich, wenn der Arm erst geheilt ist, zu Schiff nach Karachee weiterfahre . . .

Madame de Thèbes . . . der Friseur von der »Helouan« . . . das Geschwätz vom Schicksal! Ein dummer Zufall, Sturz, erst der Aberglaube macht einen Fall daraus, der Trieb, Lebensgesetze zu suchen außerhalb des vernunftmäßig Bestimmbaren. Löst sich der Trieb aus der Umklammerung der kontrollierenden Vernunft los, dann erst ist der Seele die Herrschaft über das Geschehen genommen und das Leben wird hilflos hin und her gestoßen zwischen Zufall und Absicht und dem Willen, zu entrinnen – fliegt endlich in die Selbstaufgabe hinein, versinkt in orientalischen Fatalismus. All dies windet sich mit Mühe aus dem von anästhetisierenden Giften schwer gelähmten Bewußtsein herauf, aber es beweist – holla! – die Seele hat noch ihren Widerstand, wenn der Körper auch seinen Hieb abbekommen hat! Die Seele, jung und spannkräftig in dem immerhin gealterten mürben Fleisch – denn dieser Sturz, er ist nicht der einzige in den letzten Monaten, die mürben Knochen sind nicht allein hier, unter dem rechten Handgelenk, entzwei . . . Schicksal, Zufall, Aberglaube – vor dem Schreibtisch hätte all das ein anderes Gesicht und wird es vermutlich auch bekommen, wenn ich erst wieder einen Schreibtisch, das heißt festen Boden unter meinen Händen habe – jetzt aber, auf dem Wege nach Indien, China, der sagenhaften Mandschurei, dem fernen, östlichen Tor, beschwingt und trotz allem selig über die Welt . . .

14 Draußen auf dem Korridor geht der Wiener Rothschild von der »Helouan« vorbei, schaut in mein Abteil, sagt zu seinem Begleiter, mit einem Blick auf mich, im schleppenden Jargon des Jockeiklubs: »Der oame Kerl hat sich den Oam gebrochen!«

Hilf mir lieber beim Aussteigen! denke ich mir. Die gelinde Wut, in die mich die wienerisch mitleidigen Worte versetzen, weckt mich vollends auf. Es sitzt seit Damanhour, oder war es Tanta, ein Mann in meinem Abteil mit unzähligen französischen und englischen Zeitungen, die er aus einer kleinen Suitcase nacheinander herausnimmt und methodisch und aufmerksam zu lesen scheint. Wir nähern uns Kairo. Die Lichter der Stadt funkeln bereits auf durch die ägyptische Finsternis. Ich taste meine linke Körperhälfte entlang, wo ich Portefeuille mit Paß und Geld verstaut habe, schiebe den Paletot über die rechte Schulter, den kranken, festgebundenen Arm und Ellbogen, der Zug verlangsamt sein Tempo, hält.

Im letzten Augenblick fällt mir ein: ich hätte Ernst telegraphieren sollen, daß er mich von der Bahn abhole. Aber da steht schon der Portier des Hotels, in dem ich ihn in einer halben Stunde finden werde; die Träger des Hotels stehen auf dem Bahnsteig, ich rufe, flink steigt einer durch das Fenster in den Wagen herein, hebt mein Gepäck hinaus, springt aus dem Fenster auf den Bahnsteig hinunter.

Mein Arm schmerzt. Bei jeder unbedachten Bewegung bohrt ein Dolch sich aus dem Gelenk in den Ellbogen. Vorsichtig taste ich mich in den Korridor hinaus. Die Stufen des Waggons zum Bahnsteig, diese verdammten ägyptischen Waggonstufen, sind steil, eine Kletterkunst, wie komme ich da hinunter?

Im Korridor stehen noch Leute. Sie versperren mir den Weg zum Ausgang. Ich trete zurück, um sie erst aussteigen zu lassen. Unten der Träger mit meinem Handkoffer und Tasche läuft schon den Bahnsteig entlang. Ich gehe wieder auf den Korridor hinaus, da stehen die drei noch. Ich bemerke, es sind nicht Mitfahrende aus diesem Wagen, nicht Mitreisende von der »Helouan«, sie haben gar die verkehrte Tür nach dem falschen Bahnsteig geöffnet, ich aber muß durch, mein Gepäck . . . was suchen die da noch, der Zug ist ja leer, ich muß mich zwischen ihnen durchdrängen, fühle mich vorwärts geschoben, nach der offenen Tür zum falschen Bahnsteig zu, schreie auf, »take care, you 15 see, my arm«, umklammere schützend die kranke Rechte mit der heilen Linken, die drei steigen aus, einer murmelt eine Entschuldigung, sie steigen . . . nach dem falschen Bahnsteig hinunter, geben mir den Weg frei . . . im Nu taste ich meine linke Seite ab . . . weg . . . mein Portefeuille ist weg, mit Paß, Geld, Notizbuch, Kreditbrief . . .

Ich stürze den dreien nach, zur Tür, durch die sie hinaus sind . . . der Bahnsteig leer! . . . nach der anderen Seite, steige, rufend, die steilen Stufen hinab: »Police!« – da steht die Bahnhofpolizei, etliche zehn Mann, schreiend, gestikulierend um einen armseligen Araber herum, den man soeben bei einem Taschendiebstahl erwischt hat . . . meine Räuberskerle waren europäisch gekleidet, drei unauffällig gekleidete Ägypter in europäischer Tracht. – Zu spät. – –

 

Im Hotel sagt man mir: Ernst sei vor einer Stunde in ein arabisches Varieté gefahren, »Tausend und eine Nacht«, ein paar Minuten weit vom Hotel. Ein Dragoman fährt mit mir, hilft mir in den Wagen. Ich fahre durch das nächtliche Kairo.

Wir wollten diese Reise nach Indien, der Südsee, China, Rußland zusammen machen. Meine Absicht war, ihm als erfahrener Reisekamerad über die schwierigen Wege einer solchen Weltfahrt hinüberzuhelfen; er sollte Europa entrinnen, den Erinnerungen an Haft, Gefängnis, seine fünf schweren Jahre Niederschönenfeld – jetzt begegnen wir uns im Orient, wie's verabredet war, und er ist's, der mir helfen muß, ich bin es, der einen Dienst von ihm fordert, und dieser Dienst ist: in ein Polizeiamt mit mir zu fahren, in ein anderes, noch in dieser Nacht, Protokolle aufsetzen . . .

»Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit.«

 

Spät nachts gehe ich in mein Zimmer hinüber und bin allein. Unter dem Fenster lärmt die Gasse. Das Saxophon drüben in Ciros Klub inmitten des Gartens von violettem Gebüsch, Palmen, Sykomoren. Kutscher keifen, debattieren, auf Fahrgäste lauernd, bis zum Frühlicht. Das Moskitonetz fällt nieder über mein Bett, in dem ich mit offenen Augen liege – tausend kleine stechende Gedanken, Myriaden kleiner summender Sorgen schwirren innen um meinen wachen Kopf. Wach liege ich, bis die Falken, die Sperber ihre schwingenden Flüge vor dem 16 Fenster zu vollführen beginnen, die großen, dunklen, kreischenden Tiere, Wächter der Toten in den alten Gräbern Ägyptens, die heiligen Vögel des Rha.

Weiß Teufel, gründlich bestohlen! Nach dem Sturz der Raub. Alles, mit einem Griff, Paß, Geld, Notizen, der Kreditbrief – die Welt, noch vor Stunden offen, lockend da, die Meere, Kontinente – versperrt, versunken. Hier aus der Tasche dieser Jacke holte die flinke Hand die Welt heraus. Teufel nochmal, geschickter, geschickter Dieb!

Nebenbei bemerkt, ist's ja nicht das erstemal, daß ich bestohlen werde. Ja, ich kann mich rühmen, daß ich ein besonderes Talent besitze, ein ganz besonderes, einzigartiges Talent zum Bestohlenwerden! Talent; denn wie zum Reichwerden, zum Berühmtwerden, zum Familienglück, zum Regieren, Massenmord, Stehlen, Lügen, ja zum Selbstmord Talent, angeborenes Talent gehört, so kann man auch zum Bestohlenwerden Talent haben, und ich besitze es in ausgiebigem Maße.

An den Fingern meiner heilen Hand werde ich's kaum herzählen können, wie oft an Gut, Arbeit, Ruhm, Lebensglück bestohlen . . .

Und jetzt: die drei im Zug, unauffällig aus einem fremden Wagen in meinen eingestiegen, um mir die Welt aus der Tasche zu stehlen . . . wahrhaftig, Talent zum Bestohlenwerden, wenn zu nichts anderem – zum Bestohlenwerden ein mitgebrachtes, herrliches, einzig bewährtes Talent! – –

 

Die Nacht, in der ein Mensch alt wird, in der das Leben einen Schritt über dich hinüber macht, vergeht langsam. Wie stumme Tränen rinnen die Sekunden über dein erstarrtes Gesicht, und jede läßt eine Furche zurück.

Alles ist aufgelöst wie ein Brei, Morast, in dem die Seele versacken muß, schier versacken. Ringsum ist nichts, um den Schrei, die Qual nichts, luftleerer Raum ohne Schall – für den Wehschrei, den der wüste Gott aus dir herauspreßt, sind die Wellen des Äthers nicht vorhanden. Dem vergehenden Menschen wird sein Atem ins Herz hinuntergestoßen, die Luft geht ihm aus, hilflos, preisgegeben das zermarterte Herz, ein Gefäß geworden für alles Bittere der Welt; die Zirkulation ist unterbrochen, der Strom versickert, du bist der passive 17 Teil der Welt, keine Strahlen sendet dein Herz mehr aus, das entsetzliche Schicksal, das es also doch gibt, obzwar du gestern in einer Stunde der Auflehnung nahe daran warst, es zu leugnen, verleugnen, das entsetzliche Schicksal gräbt in dir herum, als wärst du scheintot, gräbt sozusagen mit fünf Fingern in deiner Tasche herum, ob da noch etwas wäre, was es dir nehmen könnte. Und mit einer verzweifelten Anstrengung richtest du dich auf, zeigst alles Verborgene her: bitte, hier, und dies da – das gehört mir noch, greif zu – alles tust du von deiner Seele ab, schamlos bietest du deine nackte, armselige, zerschundene Seele dem Schicksal dar, dem zynischen Dieb: da, bitte, greif zu, schlag mich nieder . . .

Schlag mich doch nieder.

 

Der Schmerz des Körpers ist willkommen. Der ziehende, bohrende, zerrende Schmerz ist herrlicher Wohltäter der Seele. Er reißt den Schmerz der Seele mit gewaltsamem Ruck zu sich hinüber, löst das fressende Weh der Verzweiflung auf in einem starken, realen, soliden, unleugbaren Element. Der kranke Arm, das zerbrochene Gelenk, die ganze rechte Körperhälfte brennt lichterloh, erst in unbestimmtem, hier und dort wild aufflackerndem Lodern, dann, wenn die Wirkung der Betäubungsgifte gänzlich verschwunden ist, in einem gewalttätigen, schaukelnden, schwingenden Rhythmus, der den Körper rollt, schleudert, so daß er wie ein leckes Schiff mit geborstener Maschine auf dem Ozean des Leidens ohne Land versinkt.

Gestern, auf der Fahrt von Karakol zu Karakol, das heißt vom einen Polizeirevier zum zweiten, hat sich der Notverband verschoben, und seither sind der Arm, die Hand aus der Lage. Ehe der Chirurg morgen die Aufnahme macht, den Gipsverband anlegt, werde ich zum American Express müssen, um den Kreditbrief zu sperren – der Brief! Wäre Ernst nicht da, der hilfbereite Freund, ich stünde ohne Pfennig in dieser Stadt. Nur wenige Pfunde haben die Diebe in dem Portefeuille gefunden, der Kreditbrief aber, die ganze große Summe war noch intakt. So habe ich ein Programm für morgen: erst der Express, die Riesenorganisation über die ganze Erde, sie wird doch die Sperrung veranlassen können, vielleicht ist nichts verloren, das Tor der Welt nur zugelehnt! – dann der Chirurg, der körperliche Schmerz, der kaum mehr 18 zu ertragende, nimmt ein Ende – und dann, gegen Mittag: die Stadt, diese phantastische Stadt an der Wüste, das Wiedersehen mit dem Orient, dem tiefen, bezaubernden, hier, wenige Schritte vor dem Haus – dem weiten, brausenden Orient, der offen steht, mir keineswegs verschlossen . . . nein . . .

Ich atme jetzt ruhiger. Bemerke, daß mein Atem viel ruhiger geht, als ob der Körper den Kampf mit dem Schmerz aufgegeben hätte, der Schmerz sich besänne. Unter dem dumpfen, dröhnenden, heißen Schmerz im Arm, dem Handgelenk – ein feines, rieselndes, zirpendes Kribbeln. Leises, haarfeines Vibrieren, Oszillieren der Magnetnadel – die zerrissenen Nervenfasern senden ihre Spitzen aus – über die zerbrochenen Knochen, Knorpel, Muskeln weg suchen sich die Enden der feinen Nerven, ziehen sich an, greifen der Heilung vor . . .

Schon treibt der Körper, schwerer und müder, dem Schlaf auf sanften Wellen des Atems entgegen. Im Entschwinden des Bewußtseins erfaßt die Seele noch den wunderbaren Prozeß: geheimnisvolle Anziehung, geheimnisvoll waltender Lebenstrieb, leise, im Körper, der in Schlaf versinkt, mit zarten, engelgleich singenden, sich sehnsüchtig suchenden Nervenspitzen tastet der Wille nach der verlorenen Welt, regen sich feine sehnsüchtige Strahlen von dir hinaus, von der Welt nach dir, die Heilung ist im Gange, der Mut, die Freude vielleicht, durch das geheimnisvolle Wesen entfacht, das in deinem Körper, deiner Seele wach ist, unbegreiflich wach, während dein Gesicht im Schlaf hingezogen nach Osten sich wendet, dem himmlischen Jerusalem zugekehrt.

 


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