Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Theater

In dem himmlischen japanischen Theater, das für den Europäer ein Erlebnis bedeutet, wie der Orient deren nur ganz wenige zu verschenken hat, ist Sinn und Essenz all des Schönen, Erhabenen, Eigenen eingeschlossen, das Japan dem Fremden und seinem eingeborenen Volke aufbewahrt. Ein Ausruhen der Sinne, des Herzens und des Verstandes von dem wirren Getümmel des öffentlichen Lebens ist in den weiten, feierlichen, von einer Atmosphäre der Andacht erfüllten Theatern Japans wohl zu erreichen. – Ehe ich aber von diesem Erlebnis der japanischen Schaubühne spreche, muß ich ein paar Sätze dem chinesischen Theater widmen, das ich in Canton, Schanghai und besonders in Peking besucht habe.

 

Chinas Theater erinnert bezwingend an das Gebilde der Shakespeare-Bühne. Das Tun und Treiben der nicht auf die Szene Gehörenden, zwischen den agierenden Darstellern; die Gestaltung des Schauplatzes; die Männer, die Frauenrollen spielen, usw. Das chinesische Theater ist eine Kuriosität, für uns Europäer als Kunststätte völlig unverständlich; seine Darbietungen fast ungenießbar. Weitaus unverständlicher noch als die befremdliche, verwirrend undurchsichtige Rasse der Chinesen, die sich in ihrem Theater einen Ort der Freude, der Erholung, der Pflege ihres Schönheitskults, ihrer Kunsttradition geschaffen zu haben scheint!

Das chinesische Theater beruht und lebt zum großen Teil von Akrobatik; nicht allein des Körpers, auch der Stimme. Die weit ausschreitenden, ausholenden Gebärden des chinesischen Männerspielers, die zarten, zimperlichen Falsettöne, Flageolettöne, die der Männer- und der Frauendarsteller von sich gibt!!

In einem Park Pekings sah ich an einem glashellen Februartage vier Männer bei einer sonderbaren Verrichtung. Sie hatten ihre Pelze abgelegt, standen vor einem kleinen Teich, im schneidenden Frost, und turnten. Breitbeinig dastehend, wiegten sie ihre Körper in rhythmischen Bewegungen. Dies sah so aus: die Arme bogen sich wie langsame Schlangen leise und zart erst nach links, hoben sich bis zur Gesichtshöhe, schlängelten sich nieder bis zu den Knien, ganz leise und zart, 329 plötzlich aber schossen sie nach rechts, mit einer solch rapiden, blitzgleichen Boxerbewegung, als wollten sie einen unsichtbaren Gegner, der sich durch die zarte Langsamkeit ihrer schlangenhaft geschmeidigen Bewegung in Sicherheit lullen ließ, heimtückisch niederschlagen! Diese abwechselnd langsamen und gewalttätig schnellen Bewegungen wiederholten sich innerhalb einer Viertelstunde – solange konnte ich im kalten Sonnenlicht den Männern frierend zusehen – in etwa zwanzig Varianten. Aber immer dieses Nacheinander von graziöser Langsamkeit und rapidem Stoß. Ich hörte von meinem Dolmetscher, daß die Vier Schauspieler eines der größten Theater Pekings wären. Am Abend sah ich sie dann agieren. Es waren Akteure des Tiwutai-Theaters unten im chinesischen Stadtteil Pekings.

Chinesische Schauspieler-Eleven kommen von der Himmelsmauer

Chinesische Schauspieler-Eleven kommen von der Himmelsmauer

Und eines Morgens, außerhalb des Tores Tien-Men, begegnete ich einer Prozession von niedlichen Knaben, die mit rotgefrorenen Nasen, aber mit Fächern in den Händen, hinter einem alten Mann im Gänsemarsch rasch der Stadt zutrippelten. Es waren Theaterkinder, junge Schauspieleleven, und sie kamen von dem weit außerhalb der Stadt liegenden Himmelsaltar daher, und zwar von ihrer allmorgendlichen Stimmübung. In der Nähe des Himmelstempels nämlich befindet sich eine hohe Ziegelmauer. Vor dieser Mauer üben junge und alte Schauspieler täglich in den frühen Morgenstunden ihre Stimme: hier zwitschern, miauen, minaudieren sie in den Fisteltönen, die der Schönheitsbegriff des Chinesen, seine Auffassung von Theaterkunst von ihnen verlangt.

Warum gerade vor dieser Mauer in der Nähe des Himmelsaltars? Die einen meinen, es sei dort eine außerordentliche, ja mysteriöse Akustik wahrzunehmen, die der Stimmbildung zur Hilfe komme. Andere aber meinen, diese Übung vor der Himmelsmauer habe einen geheimen Grund in religiösen Vorstellungen.

Das chinesische Theater verfügt über eine Anzahl feststehender Typen. Sofort, wenn ein chinesischer Schauspieler die Szene betritt, verrät sein Gang, sein Kostüm, sein Kopfschmuck und die Bemalung seines Gesichtes Stand und Charakter. Die Generale und großen Feldherren tragen hinter ihren wunderbaren bunten Brokatkostümen viele kleine bunte Fahnen auf den Rücken gesteckt, fast wie ein Pfauenrad. Haben sie auf ihrem kostbaren, schillernden Kopfschmuck noch 330 eine riesige dünne Paradiesvogelfeder befestigt, die in breitem Bogen hinter ihnen daherwippt, so will das besagen, daß sie über ferne, barbarische, mandschurische, nördliche Heere gebieten. Wenn sie einen langen Stab mit vielen kleinen Roßhaarbüscheln in der Hand schwingen, so bedeutet dies, daß man sie sich hoch zu Roß vorzustellen hat. Pantomimisch steigen sie, diesen Stab schwingend, mit realistischen Gebärden vom Pferde ab und besteigen es dann, ebenfalls mit wunderbar realistischen Gebärden, vor den Augen der Zuschauer, denen der Stab mit den Roßschweifen als Phantasievehikel genügt. Männer mit rotbemaltem Gesicht und langen Bärten sind menschliche Wesen, die Tscheng und Tsching. Die letzteren aber können auch ein buntes, weiß, rot und schwarzes Muster über ihre Gesichter gemalt tragen – dann muß man sie als Dämonen ansprechen. Kreideweiß Geschminkte sind Intriganten. Mit einem weißen Schmetterling quer über die Nase und die Backen Bemalte sind komische Personen, Rüpel. Die Schauspieler, die Frauenrollen darstellen, haben ein herrliches Spiel mit ihren weiten Ärmeln; zierlich strecken sie ihre zarten Fingerchen, zierlich biegen sie ihren zarten Hals, schlagen die Lider sinnig über ihren Äuglein auf und nieder, quiekend kommen zimperliche Laute aus ihnen heraus, synkopierte Laute in hoher Fistel. Sitzen sie um einen Tisch herum, auf dem Tee serviert ist, so kann man sich kaum sattsehen an der Lieblichkeit ihrer Bewegungen: wie sie eine Tasse zum Munde führen, einander die Süßigkeiten reichen, usw.

Für uns Europäer geradezu unertragbar: die Begleitmusik. – Die Bühne ist voll von Theaterarbeitern, Besuchern, Schauspielschülern, kommenden und gehenden Personen – jeder tut was ihm gerade beliebt, unbekümmert um das Spiel – in einer Ecke aber hocken die Musikanten, die einen ohrenbetäubenden Spektakel, ohne jede Rücksicht auf die Schauspieler, die gesprochenen oder besser gezirpten Quieklaute, auf kurzen Geigen mit drei Schafsdärmen, auf Trommeln, Gongs und Trillerflöten vollführen. Selbst wenn man Chinesisch verstände, würde man kein Wort hören, so laut gebärdet sich die Begleitmusik. Zuweilen hat man vollends den Eindruck, daß die hohe schrille Fistelstimme der Schauspieler nur den Zweck hat, das höllische Gefiedel, Getrommel, Gedudel und Gonggetöse der Musikanten für Augenblicke durchzubohren. (Diese Musik ist mongolischen 331 Ursprungs; die chinesische Tonleiter, die man ja bei uns auch aus Mahlers herrlichem »Lied der Erde« kennt, geht unseren Ohren lieblicher ein.)

Mei Lang Fang in Zivil und als »die Prinzessin«

Mei Lang Fang in Zivil und als »die Prinzessin«

Nur ein einziger, bevorzugter Schauspieler der Chinesen hat mit der Barbarei dieser »Musik«, wenigstens für die Zeit, während er auf der Bühne steht und zu sprechen hat, aufgeräumt. Es ist der weit über China hinaus berühmte Frauendarsteller Mei Lan Fang. Ein Mann, von dem es heißt, daß er der größte Schauspieler der chinesischen Bühne sei. Ich sah ihn nur in kurzen Stücken, die einen insipiden Inhalt hatten und kaum etwas anderes vorstellten als eine halbe Stunde Gelegenheit für den kostbar gewandeten, mit unendlich zierlichen Bewegungen sich vorwärts und seitlich windenden Komödianten, zart daherzuschweben, zarte synkopierte Fistelschreie auszustoßen, verschämt errötend sein hold geschminktes Gesicht hinter dem Ärmel zu verbergen, vor einem Götteraltar betend, und, auf seinen Faltenwurf bedacht, niederzusinken und sich zum Opfer zu erheben, ein Brautkleid von übertriebenem Prunk zu produzieren und ähnliches. Er hat den Höhepunkt seiner Kunst bereits überschritten, ist reif zum Export. Man wird ihn wahrscheinlich bald in Europa sehen, und er wird sicherlich eine Sensation der Päderastenmilieus der Weltstädte werden. Ich traf ihn mit seinem deutschsprechenden Sekretär: er ist ein eleganter Mann von etwa vierzig Jahren; Gesicht und Gestalt klein, zierlich und knabenhaft geblieben. –

 

Die chinesischen Theater unterscheiden sich schon durch ihren Zuschauerraum wesentlich von den japanischen. Als ich zum erstenmal in einem chinesischen Theater saß, es war in Canton, und zwar in einem Theater, in dem merkwürdigerweise nur Frauen spielten (das chinesische traditionelle Theater kennt sonst nur Männerschauspieler, auch für die Frauenrollen, hier aber, in Canton spielten Frauen auch die Männerrollen) – da konnte ich mir in den ersten Minuten gar nicht das sonderbare Herumfliegen von weißen Möwen im Zuschauerraum erklären! Im chinesischen Theater wird gegessen, getrunken, geschwätzt; Kinder schreien, machen über die Brüstung der Logen Pipi, man besucht sich von Rang zu Rang, ruft sich durch das Theater an – und da der Chinese gewohnt ist, nach seiner Mahlzeit Gesicht, Kopf, 332 Hände und wohl auch Brust und Bauch mit einem dampfend heißen Handtuch zu wischen, so bedeuteten die weißen Möwen, die durch den Zuschauerraum flogen: Handtücher, die man geschickt dem herumgehenden Kellner an den Kopf nachwarf, nachdem man sie benutzt hatte. Traf solch ein Handtuch den Kellner, so wurde die Geschicklichkeit mit »Hallo« belohnt.

 

Gleich am ersten Abend, den ich in Tokyo verbrachte, war ich in einem Vorstadttheater am Asakusa-Park. Es war ein Theater fünften Ranges; man zahlte ganz geringes Eintrittsgeld; das Publikum bestand in der Hauptsache aus Kulis. Aber welch ein Unterschied gegen das chinesische Theater! Ich war nach diesem ersten Abend dann, sooft ich nur konnte, in den Theatern der Städte Japans, in denen ich mich gerade befand, in kleinen, mittleren, in den ganz großen und berühmten. Überall herrschte Sauberkeit, Ruhe, absolute Konzentration der Menschen, unbedingtes Miterleben der Stücke; gedämpfte Heiterkeit, wo es sich um Possen, laute Rührung, wo es sich um traurige Vorgänge handelte. Kein Schwatzen, eher ein ausgiebiges Schneuzen – nachher lag der Boden ringsum voll von kleinen Papierfetzchen, denn das Taschentuch ist ja in Japan unbekannt, man schneuzt sich in ein kleines viereckiges Papier, das nach dem Gebrauch weggeworfen wird.

Da die Theateraufführungen, die aus sechs, sieben kurzen Einaktern (Szenen aus Tage währenden Stücken) bestehen, von nachmittags zwei bis nachts zwölf Uhr dauern, und man ungern auch nur eine halbe Stunde versäumt, sind im japanischen Theater die Zwischenakte recht lang, und man verbringt sie in den weitläufigen, an die Theater anschließenden Eßhäusern und Bazaren. Im Theater selbst wird nicht gegessen, wird nicht diskuriert, herrscht Stille und Andacht. Für den Teil des Publikums, der auf europäische Weise zu sitzen gewöhnt ist, sind Bänke aufgestellt; der weitaus größere Teil des Publikums aber hockt auf einheimische Art, in den Logen und Rängen und auch im Parkett, auf dem mattenbedeckten Fußboden. Hier und da mag es indes geschehen, daß der Nachbar oder die Nachbarin in der Sesselreihe, in der man sitzt, die Holzpantoffeln ablegt und, ohne den Blick von der Bühne zu wenden, sich auf dem Sperrsitz hockend niederläßt.

Der Frauendarsteller schminkt sic

Der Frauendarsteller schminkt sic

333 Auch des japanischen Schauspielers Kunst besteht zum großen Teil aus Akrobatik. Der erste Einakter, früh am Nachmittag, ist in der Regel ein »Dammari«, eine Pantomime, die Menschen, Dämonen und Tiere in einem finsteren Wald im Kampf gegeneinander darstellt. Der Kampf im Finstern, der eine tiefere Bedeutung besitzt, als es den Anschein haben will, gibt Anlaß zu wunderbar gelenkigen und äußerst geschickten, Kühnheit und Schulung verratenden Bewegungen. Im Dammari treten sämtliche Schauspieler auf, die dann an dem langen Nachmittag und Abend in den verschiedensten Stücken beschäftigt sind. In diesen Stücken kommen zuweilen ebenfalls Tanz- und Ballettszenen vor, die sich von unseren europäischen eben durch jene Beimengung von wilder Akrobatik unterscheiden und vielleicht nur in dem russischen Ballett eine Parallelerscheinung besitzen,

Eine wunderbare Szene in jenem Asakusatheater, von dem ich eben sprach, eine Szene, die mir ewig unvergeßlich bleiben wird, zeigte an, auf welche Weise sich in dem japanischen Theater Körperübung mit Sinn verbindet. Die verführte Tochter eines hohen Kriegers will, von ihrem Liebhaber verlassen, sterbend die Glocke im Tempel noch einmal rühren. Mit einem Holzstock schlägt sie nach der Glocke, die aber hängt zu hoch, und nun sammelt der Körper all seine rasch versiegenden Kräfte, um mit dem Holz, höher als die tödliche Verwundung es zuläßt, hinaufzulangen. Es ist ein unerhörtes Schaustück, bei dem einem der Atem vergeht. Ein offenbar mittelmäßiger Schauspieler gab diese Samurai-Tochter, aber doch war es ein Höhepunkt der Schauspielkunst überhaupt, der hier einem erschütterten, laut und hingerissen schluchzenden Publikum vorgeführt wurde. In einem anderen Theater, einem der größten Tokyos, das bezeichnenderweise den Namen »Schimbashi Embujo«, d. h. »Tanzplatz im Stadtteil Schimbashi« führte, sah ich eine groteske Pantomime im Stil des Nô, in dem drei Krüppel, ein Blinder, ein Taubstummer und ein Rumpfmensch, agierten. (Nur noch im Moskauer »Habima-Theater« sah ich ähnlich Großartiges, Groteskes, im Bettlertanz des »Dibuk«.)

Die Bühne des japanischen Theaters schafft dem Schauspieler Gelegenheit genug, sich auszutoben. Sie ist eine breite, niedere Vertiefung, vor der in den Zwischenakten abwechselnd herrliche Vorhänge hängen. Eine breite, niedrige Bühne, die wohl unbeschränkten Raum 334 für horizontale Bewegungen gewährt, aber nicht für die Höhe. Gruppenbildungen, vertikal und nach oben gerichtet, sind unmöglich. Sollen Engel schweben (im »Federkleid«), wirkt es unwahrscheinlich und widersinnig,

Die Drehbühne, die bekanntlich von den Japanern erfunden ist, funktioniert auf diesen breiten Bühnen hemmungslos. Der Raum der Bühne ist unerhört reich und mannigfaltig eingeteilt, wie ja überhaupt die Japaner aus dem Raum ein Bedeutungsvolles, ja man könnte sagen Heiliges, ein Idol zu gestalten verstehen! Spielt eine Szene im Innern eines Hauses in einem bestimmten Zimmer, so stellt die Bühne nicht (wie auch durch die Raumverhältnisse bestimmt in Europa) dieses Zimmer allein vor, sondern das Zimmer steht inmitten anderer Zimmer in einem Haus, dessen Vorderwand fehlt, das Haus steht in einem Garten, den ein Zaun umgibt, der Garten steht an einer Dorfstraße mit anderen Häusern, weiter hinten sieht man einen See oder einen Tempel, auf dem Dach einer Scheune wächst Gras und Blumen, im Hintergrund geht das Volk des Dorfes seiner Beschäftigung nach, im Hause selber aber, in dem das Drama passiert, bewegt sich das Hausgesinde, von den Vorgängen in dem Zimmer bestimmt, aber doch frei und ungezwungen. Die Szenerie ist nicht einheitlich; Gewänder, Geräte, das Haus, alle Requisiten, die Bäume, der Rasen, das Strohdach sind zumeist realistisch, der Hintergrund aber stilisiert: See, Wolken, die Ferne wie einer Tafel, einem Blatt Hiroschiges nachgezeichnet. Und nun vollends der Blumenweg. Als schaffe die ungeheuere Wahrhaftigkeit, Mannigfaltigkeit des Bühnenraumes noch nicht das volle Abbild des wirklichen Lebens, verlängert die japanische Bühne des Schauspielers Wirkungsgebiet noch bis tief in den Zuschauerraum hinein. Quer durch diesen Zuschauerraum, im rechten Winkel zur Bühne, zieht sich der erhöhte Laufpfad bis ins Vestibül hinaus. Er ist in den neuen Theatern mit Glühlichtern von unten beleuchtet. Stellt die Bühne eine Winterlandschaft dar, so liegt auf dem »Blumenweg« ein weißer Filzteppich. Über ihn kommen aus dem Vestibül, pathetisch oder im Alltagstrott, die Schauspieler langsam auf die Bühne zugeschritten. Über ihn fliehen, laufen, stürzen oft, in entgegengesetzter Richtung, die Menschen, die auf der Bühne ihr Schicksal erlebt haben, quer durch die erregten Zuschauer – wohin? Hinaus in die Welt, dem Unbekannten 335 zu! Denn das ist der tiefe Sinn des »Blumenweges«. Auf ihm, über ihn kommt und geht das unbekannte Schicksal, naht das Verderben, das den Schauspielern auf der Bühne noch bevorsteht. Die neue Bestrebung des russischen Theaters, einen Zusammenhang zwischen der Bühne und dem Zuschauer zu konstruieren, mit dem Sinn: Tua res agitur – dort oben, das bist du! es geht um uns alle! – hier ist es naiv und sinnfällig realisiert.

Hat man das Glück, in der Nähe der Bühne und auf einem Platz in der Nähe auch des »Blumenweges« zu sitzen, so kann man das herrliche, unerhört ausdrucksvolle Mienenspiel des japanischen Schauspielers bewundern. Die Verzerrungen des japanischen Schauspielerantlitzes, die Schmerz, Wut, Tod, Kampf, von der leisen Andeutung des Ahnens bis zum gräßlichen Schielen der unterliegenden zerschmetterten Menschenseele, zu versinnbildlichen verstehen, sie beginnen schon im Vestibül, eine Mitwisserschaft des Zuschauers bereitet die Steigerung der Vorgänge, die nachher auf der Bühne sich abrollen werden, auf dem »Blumenweg« vor.

»Der Gefangene«

»Der Gefangene«

Und was dann auf der Bühne in der Tat geschieht, wird erhöht durch die die Handlung begleitende Musik. Denn ohne Musik kommt auch die japanische Bühne mit ihrem unbeschreiblich tiefen Realismus nicht aus.

Links ist die Dekoration der Szene von einem Gitterwerk unterbrochen, hinter dem Trommler, Flöten und Geigenspieler sitzen. Rechts aber, ganz auf der Seite der Bühne, sitzen auf einem erhöhten Podium, das eine kleine Bühne für sich vorstellt, zwei Sänger und zwei Samisenspieler in dunklen Gewändern. Die Sänger mit Pulten vor sich, auf denen der Text des Stückes sowie ihr eigener Gesangstext liegt. Und während auf der Bühne die Dialoge der Schauspieler sich in natürlichen Tönen abwickeln, begleiten die Samisenspieler mit leichtem, leisem, zartem Spiel, die Sänger aber mit modulierten Tönen, oft schluchzend, wenn die Handlung es erfordert, oft seufzend, wenn die Handlung es erfordert, laut oder flüsternd, pathetisch oder sentimental girrend die Vorgänge. Die Sänger, hochbegabte Mitwirkende des Schauspiels, erzählen, was auf dem Grunde der Dinge, die auf der Bühne vorgehen, eigentlich liegt. Oft sind sie erregter als die Schauspieler – sie wissen ja schon, was dort auf der Bühne vorgehen wird. 336 Sie sind, wie der »Blumenweg« ins Räumliche, gewissermaßen Fortsetzungen der Bühne und der Schicksale in die Ewigkeit, ins Göttliche.

Die Musik des japanischen Theaters ist unserem europäischen Gefühl viel näher verwandt als die barbarischen Geräusche, der ohrenbetäubende Spektakel des chinesischen Theaters. An dieser Verwandtheit läßt sich überhaupt die engere seelische Verknüpfung Japans mit unserem Westen ermessen (die ihren Ausfluß auch im Haikara hat), während der Chinese samt seinem Schönheitsgefühl uns eine unheimlich Terra incognita bleibt. Für den Europäer, der die japanische Sprache nicht versteht, ist diese japanische Bühnenmusik, zugleich mit der wunderbaren Ausdrucksfähigkeit des japanischen Schauspielergesichtes, ein Dolmetscher zum Verständnis der szenischen Vorgänge.

Im Tokyoer Theater Itschimura, einem Vorstadttheater, das aber durch die Pracht der Ausstattung und den Geschmack des Bühnenbildes wie durch das herrliche Spiel seiner erlesenen Schauspielerschar den Rang des japanischen Theaters überhaupt bewies, habe ich es erlebt, daß das Schluchzen auf der Bühne sich mit dem Schluchzen der Sänger, der Samisenspieler auf der kleinen Seitenbühne, mit dem Schluchzen des verdeckten Orchesters hinter dem Gitterwerk und mit dem schmerzerschütterten Weinen des Publikums im riesigen Raume vermählte, ineinanderfloß. Es handelte sich um einen jungen Ritter, den eine alternde Frau, eine berühmte Dichterin der japanischen Vorzeit, rettete und der dann vor den Augen der Frau, die ihn doch liebte, mit ihrer Tochter innig umschlungen über den »Blumenweg« hinaus ins Weite ging – derweil im Hause die Frau zurückblieb, stumm, in sekundenlangem Mienenspiel das Aufgeben ihres eigenen Lebens, den Sieg des Alters über ihren noch der Liebe fähigen, die Liebe begehrenden Körper kundgab. Schon erschienen auf der Bühne vermummte schwarze Diener mit Masken über dem Gesicht, die sie »unsichtbar« machen sollten, räumten Geräte und Gegenstände weg, verschoben Kulissen, um für die nächste Szene Raum zu schaffen. Der junge Ritter mit seiner Geliebten war längst im Vestibül verschwunden, noch stand aber die Dichterin im Hause, und während ihre Augen sich langsam über den gefalteten Händen schlossen, versank das Publikum in lautes Schluchzen, erstarb der Gesang und das Samisenspiel auf der kleinen Bühne zur Seite des Bühnenvorraumes.

Gentaro Nakamura im Drama »Goban Taiheiki«

Gentaro Nakamura im Drama »Goban Taiheiki«

337 Ebenfalls in Tokyo, im Kabukizatheater, sah ich den besten Schauspieler des gegenwärtigen Japan: Gentaro Nakamura, in einem der Roninlegende entnommenen Stoff. Die Stoffe der Stücke auf der traditionellen Bühne Japans, auch wenn es sich um Stücke neuer Dichter handelt, sind fast ausnahmslos aus den alten Legenden der feudalen Vorzeit geschöpft. Diese Themen scheinen ihre unbeschränkte Macht über den Geschmack, den Sinn fürs dramatische Leben des Japaners zu bewahren. Das Roninschicksal! Was geht es uns Europäer an! Und doch: Gentaro über den »Blumenweg« zur Rache schreiten, mit seinem Sohn und Getreuen in den Tod gehen sehen, während auf der Bühne Frau und Mutter in Schmerz vergehend zurückbleiben, ist eine der großen Erschütterungen, die das heutige Theater auch dem Europäer vermitteln kann.

 

Gentaro als Ronin und nächsten Abend die »Heilige Johanna« von Shaw im Kleinen Theater der japanischen Moderne! Hier war in Wirklichkeit das Groteske, die Exotik des Erlebnisses! Shaw in Japan!! –

Man könnte sagen, daß »Haikara« hier seine Orgie feierte. Denn was an Assimilationsmöglichkeit in dem Japaner steckt, kam hier zum Vorschein. Kaum ein Volk hat eine so bodenständige, eigenwüchsige und eigenwillige Theaterkultur wie die Japaner; kaum ein Volk besinnt sich in seiner Kunst so sehr auf die Tradition, die Urkraft seines Volkstums wie das japanische. Daher muß es in der Darstellung westlicher Themen und Probleme sich natürlich am gewaltigsten verleugnen und maskieren.

Shaws »Heilige Johanna« im Kleinen Theater

Shaws »Heilige Johanna« im Kleinen Theater, Tsukiji, Tokyo

Schon die Übersetzung des Shawschen Textes ins Japanische scheint auf besondere Schwierigkeiten gestoßen zu sein. Die japanische Sprache kennt eine Frauen- und Männersprache. Die Frauensprache ist gewissermaßen zarter und hat ganz andere Vokabeln für Gegenstände und Verhältnisse als die Männersprache. Der Mannweibcharakter aber der heiligen Johanna, jedenfalls der ekstatisch energische Ausdruck ihres Wesens schien den Japanern in ihrer zartzimperlichen Frauensprache ein Widerspruch, ein Nonsens. Philologen versicherten mich, daß die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung der japanischen Literatursprache, besonders angesichts des Dialogs zwischen Johanna und den anderen Charaktern des Stückes, als evident und dringend erscheinen mußte. (Haikara!!)

338 Für den der japanischen Sprache nicht mächtigen Zuschauer boten natürlich jene Stellen des Dramas das größte Interesse, in denen das Schauspielertemperament und die Schauspieltradition der japanischen Bühne den Stil des westlichen Gedankendramas gewaltsam durchbrach, so z. B. die heftigen leidenschaftlichen Bewegungen, das weinende Hervorspringen, Herbeistürzen des Priesters, der den Anblick der auf dem Scheiterhaufen brennenden Johanna nicht mehr erträgt und von Gewissensbissen jählings gefoltert und überfallen wird. Wertvoller als das Experiment, westliche Dramatik in diese östliche Gegend der Schauspielkunst zu verpflanzen, erschien mir diese merkwürdige Szene, aus der ich blitzgleich aufschimmern sah: wie sehr der Charakter der japanischen Schauspielkunst befähigt wäre, das westliche Drama zu beleben und zu befruchten. In der Tat hat ja Moskau bereits seine Fühlhörner nach Japan ausgestreckt, um diesen Prozeß für seine eigene Bühne vorzubereiten. Und vielleicht dringt zu uns noch einmal, über Moskau her, die Botschaft und Kunde des großartigen japanischen Schauspielertums – da ja Moskau für unser Theaterwesen überhaupt den Anfang einer neuen Art, die Bühne zu gestalten, das Drama zu beflügeln und den Zuschauerraum in die Aktion zu reißen, bedeutet!

Kino-Szene im Schnee

Kino-Szene im Schnee

 


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