Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Schamien

Es ziemt sich wohl, ehe man die Zukunft ins Auge faßt, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Dies soll nicht etwa bedeuten, daß ich hier über die historischen Vorbedingungen, die China an die Schwelle seiner großen proletarischen Revolution getrieben haben, eine lange Abhandlung schreiben werde (dies kann keineswegs Aufgabe eines Berichts über flüchtige Eindrücke sein!), sondern nur so viel, daß ich am Nachmittag des 1. Januar, ganz zu Anfang meines Aufenthalts in Canton, auf Schamien gewesen bin. Auf Schamien – man kann hinter diese Ortsbezeichnung füglich ein † setzen –, Schamien, der Sandbank, die, Canton im Perlfluß vorgelagert, mit der Stadt durch zwei kurze Brücken verbunden, noch im Sommer des vorigen Jahres den Europäern als Wohnsitz diente, jetzt aber verlassen daliegt, grasüberwuchert, nur mit einem Häufchen internationaler Bewachungsmannschaften belegt, also so gut wie tot, Gott hab' es selig.

Dieses Inselchen, es war ja seit je ein künstliches Gebilde, schwächlich und ohne Fundament; jetzt ist die Flut, die China in Wallung versetzt hat, über das Inselchen weggeschlagen, hat es verschluckt, wie sie in absehbarer Zeit das Gibraltar: Hongkong, verschlucken wird, in dem sich bereits dieselben Symptome des Absterbens, der Verödung und Ausdörrung zu zeigen begonnen haben.

213 Mit Schamien hat England sozusagen, vom Süden her, einen Fühler nach dem chinesischen Festland vorgestreckt. Es hat sich vorsichtig vorwärtsgetastet. Im Sommer 1925 aber hat es vom chinesischen Drachen, den es gereizt hatte, einen solch fühlbaren Tatzenschlag auf die habgierigen Finger erhalten, daß seither Schamien, die Sandbank, wie gesagt, abstirbt, verödet; die paar englischen, französischen, japanischen Kanonenboote auf dem Wasser, hundert Meter weit vor Schamiens Ufer gelagert, behüten nur noch einen Leichnam, der, wie es bei Leichnamen üblich ist, einen intensiven Gestank ausströmt, wie etwa von Pferdekadavern. Aber es ist nur die ungepflegte Kanalisation, das verbrannte Gras, der umherliegende Mist, der an diesem Gestank Schuld trägt, nichts anderes.

 

Schamien, die lange Sandbank also, war vor kurzem noch eine Art Villenvorstadt. Englische, japanische, portugiesische, französische Banken haben ihre soliden, prunkvollen, für die Dauer gebauten Paläste hier. Alle fremden Konsulate besaßen und besitzen hier ihre Villen. Es lebten auf Schamien reiche Kaufleute, Reeder, Zolldirektoren und hohe Offiziere aller Raubstaaten der Erde, die nur auf den Augenblick lauerten, in dem sie sich des unbeholfenen Kolosses China ganz und gar bemächtigen könnten, was sie ja durch die berüchtigten Zollverträge und andere Vergewaltigungsmaßregeln bereits wirkungsvoll vorbereitet hatten. Schattige Alleen, reizende Blumenbeete, Park- und Strandanlagen, Promenaden, Tennis- und Fußballplätze sind zwischen den Palast- und Villenreihen der kleinen Insel zu erkennen. Sie muß sehr lieblich anzuschauen gewesen sein, mit den pausbäckigen englischen und französischen Babys, kleinen japanischen Butterflies und der Schar der bebänderten Nurses, Nounous und sonstigen Bediensteten der wohlhabenden Kolonistenfamilien, die hier in völligem Komfort ihr idyllisches Leben führten, bis im Juli 1925 jener Schuß fiel, der mit seinem Knall, einem Zauberschlag, die ganze Insel, das künstliche Gebilde, in eine von Sandsackbergen, Schützengräben, Schießschartentürmen und bombensicheren Unterständen starrende, beschützte, bewehrte Festung mit vorgelagerten Kriegsschiffen verwandelt hat.

 

214 Wie ich am Nachmittag hinüberkomme – ich bin über die »Englische Brücke« gegangen, wurde von den wachthabenden indischen Sikhs von oben bis unten nach Waffen abgetastet –, sehe ich auf dem Fußballplatz an der Strompromenade einen Match im Gange. Mannschaften vom englischen Kriegsschiff draußen im Perlenfluß spielen gegen die englische Besatzung Schamiens. Auf den Bänken sitzen englische, portugiesische, französische, japanische Pärchen, jede Nation auf einer anderen Bank, augenscheinlich nicht sonderlich gesellig untereinander – möglich, daß das anders wird, sobald ein neuer Schuß ertönt und es sich nicht mehr um Flirt, sondern um verteufelten Ernst, sozusagen »business«, d. h. Maschinengewehre auf das herandringende chinesische Volk handelt.

Tag und Nacht stehen draußen die Kanonenboote unter Dampf. Ein Signal der Sirene von Schamien her, und die paar Dutzend Menschen, die noch auf dem Inselchen herumgehen, weil ihr Beruf es ihnen vorschreibt, stürzen ans Ufer und retten sich auf die Schiffe, die dann, ihre Munition nach hinten verpulvernd, das Weite suchen. –

Traurig, ja traurig, wie dieser Fußballplatz verfällt! Gras wächst in unausgerauften Büscheln auf ihm; Spalten und Risse. Lassen die Engländer erst ihren Sportplatz verfallen, so haben sie die Partie verloren gegeben. Deutlich weht das Gras auf dem Fußballplatz: farewell! –

Aber die Spieler spielen, als ob's ums Leben ginge. Mit gewaltigen Fußtritten schleudern sie den Ball von einem Tor zum andern. Plötzlich fliegt er in großem Bogen weit über das Netz hinaus und fällt in den Fluß. Unten fährt gerade ein Kahn vorbei, einer von jenen schweren Lastsampans, von etlichen Frauen und einem Knaben gerudert. Einer von den Fußballspielern setzt mit einem Ruck über die Barriere und winkt von der Böschung aufs Wasser hinunter, macht dem rudernden Knaben Zeichen: Wirf den Ball herauf, dort – er schwimmt gerade vor deinem Ruder auf dem Wasser!

Mit seinem langen Ruder holt der Knabe, wie ein Polospieler, aus und schlägt den Ball geschickt nach der anderen Seite, weit in den Fluß hinein, grinst dann zu dem Fußballengländer hinauf, der sich mit einem Fluch davontrollt. Die Spieler ziehen ihren Dreß aus, ihre Uniformen an. Die Partie ist zu Ende. –

 

215 Ich gehe auf Schamien noch eine ganze Weile spazieren, sehe mir das verödete »Viktoriahotel« an, Cantons einziges europäisches Hotel, einen melancholischen Ort, ein verwunschenes Haus, in dem man Geschichten im Stil von E. A. Poe schreiben könnte. (Habe es gut, wohne im deutschen Konsulat am anderen Ende Cantons, im Vorort Tungschan, bei dem freundlichen Generalkonsul Crull.)

Die Bankpaläste. Diese englischen Kirchen. Verstaubten Whiskymagazine. Die leeren Klubs. Das französische Denkmal für die im Weltkrieg »für die Freiheit der unterdrückten Völker« Gefallenen . . .

Auch die Polizeistation der Franzosen interessiert mich sehr. Vor einem Sandsackberg stehen etliche Piou-Pious, etwas weiter Tonkinesen. Japanische Dämchen trippeln in weißen Socken auf klappernden Holzsandalen daher. Die Piou-Pious scheinen ihnen etwas zuzurufen, die zierlichen Japanerinnen indes reagieren nicht.

Dann will ich mich über die französische Brücke in die Stadt zurückbegeben. Abgesperrt. Stacheldraht und spanische Reiter. Das Tor dicht verschlossen und kein Mensch auf der Brücke. »Probieren Sie's auf der englischen!« bedeuten mir die Franzosen. »Wenn Sie sich beeilen, finden Sie sie noch offen.« Es ist ja erst halb sechs. Aber wie ich hinkomme, auch diese abgesperrt, und Stacheldraht, spanische Reiter; keine Seele weit und breit.

Zurück nach dem Hotel Viktoria.

»Sie müssen sich beim Kommandanten einen Erlaubnisschein holen. Sonst können Sie heute nicht mehr hinaus.«

Frau Hauptmann Clements steht an der Wohnungstür. Erstaunte Augen: es läutet wer um diese Zeit an der Haustür! es läutet wer auf Schamien an! »Allright! Gleich will ich meinen Mann benachrichtigen. Er badet gerade den Hund. Bitte setzen Sie sich.« Chintzbedeckte englische Möbel, ein Cosycorner wie in einem behaglichen Landhaus einer Londoner Vorstadt. Nichts, was auf China deutet. Bald darauf erscheint der Colonel im Kimono mit dem frischgewaschenen Terrier unterm Arm. Er stellt mir den Schein aus: der Gentleman ist hinauszulassen, das Tor sorgfältig wieder zu sichern. Dann gehe ich zur Kaserne, hole mir zwei bärtige indische Sikhs und werde über die englische Brücke eskortiert, die mit Stacheldraht so gut gesichert ist, 216 daß es etwa fünf Minuten dauert, bis all die Drähte an den Brückenpfeilern aufgedreht sind.

Drüben auf der Cantonseite knallt es heute besonders heftig. Parade! Neujahrsabend! Feuerwerkskörper, Raketen, Knallbonbons in Aktion! Immerfort steht da ein Posten vom Streikkomitee auf der Wacht oder auf der Lauer, beäugt jeden scharf, der Schamien betritt, verläßt. Ein paar düstere Chinesengesichter schieben sich auf mich zu, starren mich aus nächster Nähe an. Ich aber setze mich in völliger Seelenruhe in die erste Rikscha, sage dem Kuli das Fahrtziel: »Tungschan!« – ein magisches Wort, es bedeutet: kein Engländer, sondern ein Dagock, Deutscher, d. h. ein Freund. Tungschan ist im Gegensatz zu Schamien der Ort, wo die dem Chinesen freundlich gesonnenen Fremden ohne Sandsäcke noch Maschinengewehre wohnen. Auch die Russen wohnen auf Tungschan.

Tungschan ist gut.

Der Streikposten nickt. Passiert. –

 


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