Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Lest we forget«

Ein Glacis also umgibt jetzt in breitem sandigen Streifen das Viertel der europäischen Gesandtschaften. Auf dem Sandstrich exerzieren europäische Truppen, werden Schießübungen veranstaltet. Diplomatendamen reiten im Galopp über den Sand, nehmen Hindernisse. Diplomatenkinder spielen hier und machen Sandburgen. Und am Rande dieses Sandstriches, dieser Schußfläche, durch die die Fremden innerhalb des Gesandtschaftsviertels sich gegen die umwohnende Eingeborenenstadt gesichert haben, stehen Fengsoldaten und sehen sich aufmerksam jeden Menschen an, der hinein will oder sich hinaus begibt.

Feng-Soldaten

Feng-Soldaten

Ich habe während meines Aufenthaltes in Peking selber im Gesandtschaftsviertel gewohnt, in dem guten und hauptsächlich von Amerikanern bewohnten »Hôtel des Wagons Lits«. Zumeist führte mich mein Weg an der italienischen, japanischen und englischen Gesandtschaft vorbei, wenn ich aus dem Viertel hinaus, aus diesem künstlich eingeengten europäisch-amerikanischen Viertel in das grandiose, weite Peking wollte. Knapp am Tor bei der englischen Legation ist ein Mauerstück erhalten, in dem Kugelspuren, Ziegeltrümmer lebendige Zeugenschaft vom Boxeraufstand 1900 ablegen. Mit schwarzen Lettern sind dort die Worte: »Lest we forget« an die Wand 275 gepinselt. Ein Memento an die Agonie, die die ausländischen Machthaber in diesen schaurigen Wochen der entfesselten Wut zu erleiden hatten. Memento mori auch für künftige Zeiten, so will mich dünken.

Ich bin oft an dieser Mauerecke vorübergefahren, hinaus aus dem Tor, das von den Fengsoldaten Tag und Nacht bewacht ist, hinaus über das Glacis zur riesigen roten Mauer, die um die Tatarenstadt sich erhebt, zu den beiden Säulen, Marmorsäulen, aus denen Wolkenflügel aus Marmor sich in der Höhe entfalten und hinter denen die riesigen stilisierten chinesischen Löwen, die fast schon Drachen sind, das Tor zum Innern der Tatarenstadt bewachen und auch die Wallfahrtsstraße zwischen der Stadt und jenem hochheiligen Himmelsaltar.

Es lebt sich im »Hôtel des Wagons Lits« recht behaglich, muß ich sagen. Man lebt im Legationsviertel wie in einem europäischen Kurort. Kanalisation und andere Bequemlichkeiten sind in bester Weise durchgeführt in dieser Stadt innerhalb der Stadt, in diesem Staate innerhalb des Staates, in diesem europäisch-amerikanischen Fremdkörper innerhalb der Hauptstadt Chinas, innerhalb des weiten China.

Wie man weiß, genießen die Vertretungen der Mächte, die sich hier konzentriert haben, das Recht der Exterritorialität. Sie dürfen sich eigene Bemannung (etwa 5000 Soldaten beschützen das Legationsviertel), außerdem eigene Artillerie, Maschinengewehre, Tanks, Panzerwagen und natürlich auch drahtlose Stationen halten. Dieses Recht haben alle Usurpatoren, um sich gegen die um sie herum lebende gedemütigte und ausgebeutete 400 Millionen-Nation zu schützen. Allein den Österreichern und Deutschen ist noch das Recht der Exterritorialität entzogen, den bösen Knaben, die den bewußten Krieg angezettelt haben. Die Russen aber, dieses merkwürdige Volk, haben das Recht der Exterritorialität aus eigenem Antrieb aufgegeben.

Von meinem Hotel kann ich in wenigen Schritten die deutsche Gesandtschaft rechts, in noch weniger Schritten links die russische Gesandtschaft erreichen. Die russische Gesandtschaft, in der zurzeit Karachan haust, besitzt ein ungeheueres Areal, Hinterlassenschaft der ehemaligen zaristischen Regierung, mit Palästen, Wohnhäusern, einem großen Garten, einer Kirche und einem beträchtlichen Wall darum, von dessen Ecken Flaggenmasten mit der roten Fahne zum 276 Sternenbanner auf der anderen Seite der Straße hinüberwinken, – denn dort sind die Amerikaner zu Hause, mit ihrer mächtigen drahtlosen Station und all ihrer positiv aggressiven, aber klug abwartenden Politik des siegreichen Dollars.

Der russische Botschafter Karachan

Der russische Botschafter Karachan

Was ist es nun mit diesem Gesandtschaftsviertel, diesem Fremdkörper, dieser Zwingburg über dem ausgebeuteten, durch Verträge, Zollwillkür geknechteten, gedemütigten und durch Schießscharten und Schußflächen heute noch in Schach gehaltenen Volk?

Es läßt sich nicht leugnen, daß China in den Städten, in denen sich fremde »Konzessionen« befinden, wie Tientsin, Schanghai und Hongkong, durch die Fremden gewisse Vorteile genossen hat. Es läßt sich dies ebensowenig leugnen, als es sich leugnen läßt, daß das kapitalistische System der Zivilisation dieses Zeitalters gewisse Vorteile gebracht hat. Aber die Zeit ist vorgeschritten, und es gelten heute andere Verbindungen zwischen den Völkern als die der berüchtigten Verträge zwischen China und den Mächten; andere Sicherungen als die einer überlegenen militärischen Ausrüstung, einschließlich Schießscharten und ausgesparten Schußflächen. Das ist es, was sich einem gebieterisch aufdrängt, so oft man an der zerschossenen Memento mori-Mauerecke der englischen Gesandtschaft vorüberkommt. Das Legationsviertel hat, wie auch die Fremdenviertel in Tientsin und Schanghai von jeher, schon in ältesten Zeiten allerlei fremdem Gesindel, portugiesischen, spanischen, brasilianischen Schmugglern, Spielern, Spionen und Desperados Unterschlupf gewährt. Die Exterritorialität kam diesem Treiben zugute. Man konnte ihnen weiter nichts anhaben. Chinesen war das Wohnen in dem Europäerviertel untersagt. Darin ist eine Milderung eingetreten: auch Chinesen können jetzt in dieser künstlichen Enklave wohnen, sie unterstehen wohl dem chinesischen Gesetz, aber nicht der chinesischen Polizei. Soll einer von den Schützlingen – man kann sich denken, welcher Art diese Menschensorte ist, die von den Fremden gegen ihr eigenes Volk geschützt werden muß! – etwa verhaftet werden, so muß erst die fremde Macht, bei der er Schutz gesucht hat, die chinesische Behörde zu dieser Verhaftung ermächtigen.

Es ist lehrreich, ganz abgesehen davon, daß es für den Schriftsteller von beträchtlichem Interesse ist, die Herren und Damen der 277 ausländischen Legationen bei ihren sozialen Funktionen, Sport, Bankett, Tanz und Flirt, im »Hôtel des Wagons Lits« zu beobachten. Das Interessanteste dabei ist die Nonchalance, die Selbstverständlichkeit und Sicherheit, mit der sich diese Funktionäre, ihre Damen und ihr Anhang bewegen. Man hat von dem Schicksal Schamiens Kenntnis erhalten. Man weiß auch, daß sich, was in Schanghai passiert ist, hier in Peking jeden Augenblick wiederholen kann. Man vernimmt fast aus Hörweite die herannahenden Truppen der um die viereckige Stadt und von der chinesischen Mauer im Nordosten her sich kampflüstern heranpirschenden Generale. Aber im Bewußtsein des verbrieften Rechtes bewegt man sich anmutig und graziös um die eigene Achse und vergißt, daß jeden Augenblick ein luftleerer Raum um einen herum entstehen kann und daß es vielleicht sehr bald kein »lest we forget« mehr für den zum Untergang verdammten Fremdkörperfleck im Fleische des Chinesenvolkes geben wird!

 


 << zurück weiter >>