Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Sekte der Schlangenfresser

gehabt habe.

Der junge schwäbische Lehrer, der in Heluan seine Nieren kuriert, kommt zu Ernst und mir ins Hotel. Er will uns zur Andachtsübung der Sekte führen, die jeden Donnerstag zu nächtlicher Stunde sich in einem verfallenen Gehöft des Ortes versammelt.

31 Da ist ein weiter unebener Hof, von niederen Häusern umgeben. Tiefe Erdlöcher führen in Keller, unterirdische Stuben. Frauen, schwarz vermummt, sitzen vor diesen Türen oder Maulwurfsverliesen. Hunde jagen sich über das weite dunkle Gehöft.

Durch die Straße draußen kommt rasch ein Trupp heran, der eine riesige Laterne aus weißer, mit schwarzen Zeichen bemalter Leinwand in seiner Mitte trägt. Das weiße Licht wirft die Schatten der hageren, eilig dahinschreitenden Gesellen gespenstisch an die Häusermauern, wie ein Spuk schwankt der Zug durch die nächtliche Straße, strömt rasch in das Gehöft herein.

Auf einer Eisenstange wird eine Azetylenlampe gehißt, dann breitet man eine lange Strohmatte über den Boden, und im Nu haben sich etwa fünfzig Männer, alte, junge, auch Knaben, zu beiden Seiten der Matte auf die Erde niedergekauert. Uns Europäern hat man Stühle hingestellt. Ein Bursche kommt und bietet uns kleine Tassen mit Zimtwein an, scharfes, nicht übel schmeckendes Getränk. Weihrauchbehälter werden geschwungen, so daß die beiden Reihen der Kauernden bald in einem Nebel verschwimmen. Gespräche, Schreie, dunkle, helle Laute stechen noch eine Weile aus dem Weihrauchdunst hervor, werden aber bald durch zwei Flöten übertönt, die schrill an den Enden der Matte zu lärmen angefangen haben. Bald springt, vom Zimtwein und dem Rauch gestachelt, hier und dort einer vom Boden auf. Schon reißt es die Hockenden alle in die Höhe, nun sind sie auf den Beinen, die ganze bunte Schar, Greise, Jünglinge und Knaben. Der Flötenlärm, der Wein, der betäubende Rauch, die Schar – aus ihr lösen sich Gestalten, Anführer der Zeremonie, ein riesiger Neger mit grünem Kopftuch, ein noch junger, bleicher Scheich, ganz in Weiß gekleidet, und ein Blinder, tastend an seinem Stab. Diese dirigieren den Chor, der in monotonem, sich rasch steigerndem Singsang die geheiligten Worte der Beschwörung ruft, singt, in rhythmisch stampfendem, dumpfem Geschrei artikuliert.

»La illaha il Allah!
Mohammed rassul Allah!«

Der Neger ist der Wildeste unter den Anführern. Bei dem Worte Mohammed stößt er die zweite Silbe brüllend wie ein Stier mit Nackenschütteln in die beiden Menschenreihen hinein. Es dauert nicht lange, 32 da sind diese beiden Reihen in ein Wiegen, Schwingen, hin und her wallende, immer stärker anschwellende rhythmische Bewegung geraten. Wir sind aufgestanden und haben uns den Reihen genähert. Ich stehe hinter einem untersetzten kaffeebraunen Araber, der in blauem Kattunkaftan bloßfüßig neben der Matte steht. Ich kann ihn genau beobachten. Er hat seine Hände ineinandergekrampft. Seine Füße stehen leicht und zart, wie schwebend auf dem Boden, während sein Oberkörper, den seine ineinander verketteten Finger, in weitem Bogen ausholend, zu dirigieren scheinen, in unerklärlich heftigem Schwung ekstatisch nach rechts, nach links sich biegt. Die Musik ist greller geworden, quietscht, pfeift, schrillt über die Köpfe weg. Die Worte: »la illaha il Allah!« sind um den Kern des Spruches scheinbar niedergeschmolzen, und was geblieben ist, ist ein stoßweises, von all den fünfzig Körperschüttlern, Tänzern, schwingend gottversunkenen wilden Anbetern in einem gemeinsamen Röcheln hervorgestoßenes:

»Allah!«

Aber auch dieses Wort verliert bald seine Konsonanten. Es klingt jetzt wie:

»Aaah!«

ein tierisch dröhnender wilder Laut der Lust, der ekstatischen Wollust in dem Trance des Dienstes an der unbegriffenen, schrecklichen Gottheit.

Uns Europäern wird das Zuschauen fast unerträglich. Am liebsten möchte man fortstürzen, seinen Kopf irgendwo vergraben, sich vor diesem Anblick des drohenden schicksalhaften Orients, des mohammedanischen Menschen, der so nah zur europäischen Kultur beheimatet ist, schützen. Aber man bleibt stehen, verzaubert und gebannt, und nimmt die Botschaft dieser Übung in seine Seele auf, um sie seinem Weltbild, seinem Urteil über Menschheit und Völkerzukunft einzuverleiben.

Nach und nach ist die Sekte in derartiges Rasen der Körperschwingung geraten, daß aus dem Umkreis der Herumstehenden einer und der andere auf einen und den anderen der Schwingenden losstürzen muß, um ihn zu halten. Dann schwingen beide, der Ekstatische und der Hilfeleistende, wie von ungeheurem Wind geschüttelt hin und her. 33 Der Blinde, vor allem aber der weiße Scheich, wirft seinen Körper in rasendem Pendelausschlag nach rechts, nach links; obzwar er von starken Fäusten gehalten wird, schwingt sein weißbeturbanter Kopf derart rasch, daß man von dem blassen Gesicht, dem dünnen Bart nur einen leichten zitternden Schein zu sehen wähnt, schillernden Schaum statt eines Gesichts.

Aber sie kann nicht lange dauern, diese Ekstase. Und tatsächlich bemerkt man schon ein Auseinanderfallen der Reihen, Abflauen, Müdewerden. Auch der untersetzte Blaue vor mir scheint aus seiner Besessenheit zu erwachen. Sein Körper schlägt kürzer, kürzer aus, wankt ein wenig, bevor er stillesteht, und nun lagern sich die Männer, alte und junge, die Burschen, die Knaben, stumpf und erschöpft zu beiden Seiten der langen Matte auf den Boden, vergraben den Kopf zwischen den Knien und kehren zum Bewußtsein zurück. Wenige Augenblicke der Ruhe, und der Trancezustand ist aus den Reihen der Versammlung verflogen. Mit einemmal aber schrillen die Flöten aufs neue auf, und damit ist das Signal zur Fantasia gegeben, die nun folgt.

 

Eine Flasche wird am Boden zerschlagen, ein hagerer Kerl springt auf und stopft sich die Scherben in den Mund, zerkaut sie mit hörbarem Zähneknirschen. Ein anderer hat einen krummen Säbel (der aber, wie ich mich überzeuge, ziemlich stumpf und rostig ist) mit einem Aufschrei sich über den Bauch geschlagen. Längs der Schneide knickt er in sich zusammen, so daß der Säbel ganz im Innern des Menschen verschwindet. Wie er sich wieder aufrichtet, sieht man die Spur des Säbels nur als einen etwas helleren Strich durch die braune Bauchfalte laufen. Ich habe den Eindruck, daß diese Übungen mehr für uns, die zahlenden Gäste, stattfinden, harmlose Gaukelei vorstellen, die man mit dem Eintrittsgeld zu hoch bezahlt hat.

Was aber nun folgt, ist die heilige Prozedur, der oberste Ritus des Gottesdienstes der Sekte. Dem weißen Scheich wird eine lange, dünne, graue Schlange gereicht. Zwei Männer fassen das Tier, das sich in energischen Stößen windet und wehrt, beim Kopf, um den Leib, beim Schwanz, der Scheich preßt dem Tier den Kopf zusammen, daß der Rachen offen steht, und schlägt ihm an einem Stein die Giftzähne heraus. Lange schon sind die Flöten verstummt. Wir haben uns auf unsere 34 Plätze zurückbegeben. Im ganzen weiten Hofe herrscht erwartungsvolle Stille. Zu beiden Seiten der Matte haben sich die Schüttler, die Körperschwinger niedergekauert. Über die Matte geht der weiße Scheich mit der Schlange. Mit raschen Schritten geht die weiße Gestalt, von der Azetylenlampe grell beschienen, hin und her. Hoch über seinem Kopf, zwischen den kräftigen, geballten Fäusten hält der Scheich die Schlange ausgestreckt. Man sieht, wie das Tier sich aus dem klammernden Griff der muskulösen Hände zu befreien sucht. Oft hat die Schlange die Oberhand, dann merkt man, wie die Fäuste in der Luft über dem Turban sich einander nähern, die Schlange beschreibt eine Wellenlinie, einen Bogen. Aber dann schieben sich die Fäuste wieder auseinander, und die Schlange sieht aus wie ein gerader weißlicher Strich über dem hellen Turban, glitzernd und auslöschend im Licht der Azetylenlampe, sobald der Scheich in seinem beschleunigten Gang sich ihr nähert oder von ihr entfernt.

Der Scheich spricht laut vor sich hin. Der junge Schwabe, der uns hierhergebracht hat, weiß, es sind Suren des Koran, die der Scheich bei dieser symbolischen Handlung ausspricht. Immer rascher, immer heftiger werden die Schritte des Singenden, Psalmodierenden, der die Schlange in den erhobenen Fäusten hält. Von den Kauernden fällt einer und der andere in den Singsang ein, aber nur für kurze Augenblicke. Alle, die Sekte, die Umstehenden, wir, die Gäste, sind stumm und in Erwartung. Der Scheich nimmt in seinem Gehaben auch immer mehr die Starre an, die, wie jenes Körperschwingen, ein Beweis seiner Gottversunkenheit zu sein scheint. Die Stimme erhebt er kaum, auch seine Schritte werden nicht wankend, aber in dem ganzen Gehaben der weißen Gestalt prägt sich doch irgend etwas Ungewohntes, Unmenschliches, ein Entrücktsein vom Irdischen aus, das zu einer Kulmination hintreibt.

Mit einemmal geht, wie ein Seufzer, ein abwehrender Laut vor etwas Unerträglichem durch die Kauernden zu beiden Seiten der Matte. Mit einem Ruck hat der Scheich die Schlange zu seinem Gesicht niedergebogen und ihr blitzschnell den Kopf abgebissen. Ohne seinen Gang zu beschleunigen oder zu verlangsamen, geht er nunmehr stumm die Matte auf und ab und kaut an dem Kopf des Tieres. Das Knacken des Bisses wiederholt sich in den mahlenden, malmenden Geräuschen 35 des blutenden Mundes. Die Schlange sieht jetzt aus wie ein zickzackförmiger Stock aus Holz. Die Wellenlinie des Körpers hat sich in steifes Zickzack verwandelt. An der Stelle des Kopfes sitzt ein runder, blutiger Fleck. Der Scheich geht mit der Schlange viermal, fünfmal rasch über die Matte hin und her. Plötzlich steckt er den Stumpf des blutenden Schlangenkörpers wieder in den Mund, beißt noch ein Stück ab. Nun ist der Bann gebrochen, hier und dort springt einer auf, begehrt von der Schlange zu essen, der Scheich reicht sie ihm, wie ein Priester die Oblate reichen mag, und dasselbe widerliche Knacken ertönt. Damit ist diese religiöse Prozedur, die, wie uns versichert wird, eine tiefe mystische Bedeutung besitzt, zu Ende. –

Es sind auch einige Ortsgendarmen unter den Gästen der Sekte, den Zuschauenden anwesend. Sie machen angewiderte Gesichter und lächeln uns Europäern verständnisvoll zu. Aus den unterirdischen Löchern steigen Frauen herauf, bringen auf großen Zinnplatten flache gelbe Fladen. Wir kriechen in die Höhle hinunter und sehen, wie diese Fladen zubereitet werden. In einem stinkenden dumpfen Raum steht ein schmutziges Himmelbett, auf dem zwei Kinder in tiefem Schlaf liegen. Daneben ist der Herd, um den Frauen hocken, die die Fladen backen, Gemüsehäcksel zwischen die Teigkrusten stopfen und dann auf der Steppdecke des Himmelbettes zu Stapeln schichten. Das ist die Küche, aus der die Sekte ihre Nahrung erhält. Auch das Gefäß, aus dem wir unseren Zimtwein eingeschenkt erhalten haben, steht da. Lebhaftes Kommen und Gehen entwickelt sich zwischen dem Gehöft, in dem jetzt ein munterer Lärm ertönt, und dieser unterirdischen Küche.

Es ist schon spät in der Nacht. Mit höflichen Gebärden nehmen wir vom Scheich, den Männern der Sekte Abschied. Sie führen ihre Hände grüßend zur Stirne, und wir erwidern ihren Gruß: »Saida!« Unser schwäbischer Führer hat derweil von uns den Tribut einkassiert, ein ägyptisches Pfund pro Kopf, gar nicht wenig! – Durch die schlafende Stadt, aus deren Stille entfernter Singsang, jenem ähnlich, der unsere Zeremonie begleitet hat, aufsteigt, gehen wir in unser Hotel zurück. Es sind also zu dieser nächtlichen Weile ringsum noch andere Sekten tätig!

 

Die Gottversunkenheit des auf dem Bahnsteig betenden Mohammedaners, die fatalistische Reglosigkeit des Wasserpfeifenschmauchers 36 im Bazar, die wilde Berserkerei der Körperwerfer, Schlangenabbeißer – dieses Volk, ein gewaltiger Bruchteil der heut auf Erden lebenden Menschen, neben unserer Zivilisation, das heißt dem Zustand, in dem sich unsere westlichen Völker heute befinden und dem sie den Namen Zivilisation gegeben haben – schwer ermeßliche, kaum begriffene Bedrohung! Wie diese Bewohner des verschütteten und zerbrochenen Orients zu den Zielen, den nächsten Aufgaben der Entwicklung gewinnen, organisieren? Ein einziges Volk hat dieses Problem auf seine Art erfaßt und arbeitet an seiner Lösung: ein Volk, mit allen Elementen der verschütteten Urvölker ausgestattet und doch ein Westvolk zugleich: das Volk des großen europäisch-asiatischen Rußlands. In den Händen der neuen Lenker der Geschichte, die in Moskau ihren Sitz haben, sind die Wildheit der religiösen Vorstellungswelt, die Gottversunkenheit, die Trägheit der Bazarraucher ebenso viele Zügelstränge. Vielleicht liegt der Schlüssel, der die Zukunft aufsperren wird, gar nicht im Nil, sondern im Kreml? Daß aber in absehbarer Zeit ein Kampf von furchtbarem Ausmaß zwischen West und Ost, Zivilisation und Religion losbrechen wird, ist heute bereits deutlich erkennbar. Wer wird der Schlange die Giftzähne ausbrechen, ehe die Zeremonie anhebt?

 

Diese Vorstellung von dem drohenden Osten, dem unbegriffenen, verfolgt mich durch die Nacht und den darauffolgenden Tag, den letzten, den ich in dem Haus zwischen den hängenden Blütenzweigen verbringe; denn ich fahre jetzt bald ostwärts zum Suezkanal hinauf, in das alte Heilige Land, in dem ich nach drei Jahren meine Freunde wiedersehen werde, die jungen Juden in den Ebenen – diese Menschen des Westens, die am gefährlichsten durch die kampfbereiten, hinter den Bergen des Transjordan lauernden Ostvölker bedroht sind. –

Judäas Berge sind mit Blumen überschüttet. Noch reifen die Dattelbüsche oben in den Palmenkronen nicht, auch die Ballen im Grün der Orangenhaine sind erst hellgrün, noch nicht von goldigem Schimmer – aber zwischen dem violetten Gestein des zerklüfteten Urväterlands wächst Mohn, röter als das Auge ihn je gesehen, Zyklamen, Orchideen, riesige Mimosengebüsche gelb über den Hang der Berge hinunter. In tausend Farben blüht erschütternd der Frühling, es ist ja erst März.

37 Schon umfängt mich die zauberhafte Atmosphäre dieses sich ewig erneuernden Landes, das der Welt die sublimen Menschheitsreligionen geschenkt hat, das den Tierkult, die Bestialität des Menschenopfers aus der Welt gejagt, die Schwere der Leidenschaften durch mitleidige Liebe aufzuheben versucht hat. Vergeblich? Vielleicht. Aber was ist die Spanne vom Dornbusch über die Verkündigung bis zu unserem taumeligen Tage? Die Kunstwerke der verschütteten Wüstenstädte zeugen von einer uralten, wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden im Niedergang gewesenen Kultur. Heute abend werde ich das rötliche Licht, die magische Aura in der magnetischen Atmosphäre ob der Heiligen Stadt wiedersehen. In mancher Stunde sah ich sie schon vor dem Nachtwerden über Jerusalem: einen Augenblick lang flammte das überirdische Rot nur auf dem Horizont, dann war es jählings verschwunden, wie von einem Atemzug der Ewigkeit weggeblasen, zerstäubt.

Unsere Zeitrechnung, die Epochen der Geschichte dieses bewohnten Erdballs währen vermutlich auch nicht länger als ein Aufflammen am Firmament vor dem Dunkelwerden, der aufsteigenden Pracht des südlichen Sternenzeltes.

 


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