Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Die Russen in Canton

Mit Borodin Tag und Stunde verabredet. Er wohnt in einem umfangreichen chinesischen Haus am Rande des Exerzierfeldes, auf dem am 1. Januar die Rote Parade abgehalten wurde. Gegenüber ist der weitläufige Komplex des militärischen Hauptquartiers, in dem jetzt der Kuo Min Tang-Kongreß tagt. Das Viertel, zu Tungschan gehörend, heißt Hai Gun Bu.

Ich schärfe dem Rikschakuli ein: »Hai Gun Bu! Hai Gun Bu!« Er fährt mich aber kreuz und quer durch unbekannte Straßen. Endlich ein bekanntes Gesicht: ein russischer Militärarzt, baltisch-deutscher Abstammung, in Deutschland ausgebildet, wovon auch Schmisse im Gesicht zeugen, alles in allem doch ein liebenswürdiges europäisches Antlitz. Er organisiert den Lazarettdienst im chinesischen Südheer, spricht bereits ein wenig Chinesisch. Ich erkläre ihm Hai Gun Bu. »Wir wollen ihm Kuo Min Tang sagen, es ist ja gegenüber.« Der Arzt erklärt dem Kuli: Hauptquartier Kuo Min Tang, dort und dort. Der Kuli läuft, ich fühle mich sicher, er wird mich vor Borodin absetzen, aber er läuft und läuft über wüste, unbebaute Felder, obzwar die 217 Richtung zu stimmen scheint; er läuft zum äußersten Winkel von Tungschan, keine Spur von Hai Gun Bu!

Ein schmaler Kanal zieht sich am Rande der Stadt hin. Auf einmal steigen drei riesige, kahle Mietskasernen vor uns in die Höhe. Militärautos vor den Häusern. Chinesische Patrouillen bewachen das zugeschlossene Eisengitter um einen Vorgarten, in dem Kinder spielen. Eine alte Aja ruft einem Knäblein etwas auf Russisch zu: der Kuli hat mich also ins Wohnviertel der Russen gebracht! Kuo Min Tang liegt ganz woanders, aber die Gedankenverbindung ist nicht uninteressant.

In diesen drei riesigen Vorstadthäusern sind etwa sechzig russische Beamte mit ihren Familien untergebracht. Es sind ihre Quartiere; die Bureaus liegen in der Stadt; diese Häuser hier haben etwas Unheimliches. Über die drei Dächer läuft eine schmale Brücke, aus Balken gezimmert, mit Matten an den Seiten. Ein Posten mit geschultertem Gewehr spaziert dort oben langsam auf und ab.

Im ersten Hause, in das mich der Wachthabende eintreten läßt, hübsche Wohnungen, enge Zimmer, mit behaglichem Komfort eingerichtet. Man ist aber hier ganz offenkundig interniert. Auch in der kleinen Straße hinter diesen Häusern, wo der Russische Klub sich befindet, patrouilliert reichlich chinesisches Militär auf und ab. Die Zugänge der Straßen von Soldatenautos bewacht. Endlich finde ich jemand, der dem Kuli zu erklären vermag, wohin ich eigentlich will. Eine Stunde nach der verabredeten Zeit erscheine ich vor Borodins Haus, schicke meine Karte hinein, werde vorgelassen. –

Eine Doppelreihe chinesischer Soldaten präsentiert das Gewehr vor mir. Militärische Ehren! In Rußland, in China, überall, wo es Revolutionen gab, ja einige Tage, Herbst 1918, sogar in Berlin – militärische Ehren!! Leutselig salutierend, schreite ich durch das Spalier des Ehrenpostens ins Haus.

Denn dies hier ist ja wohl ein Ehrenposten. Auch die beiden Automobile, in denen mit Gewehr, Revolvern, Granaten bewaffnete Whampoo-Kadetten sitzen, sind dem politischen Berater Südchinas und seinem Stabe zur Wahrung der persönlichen Sicherheit von der Cantonregierung zur Verfügung gestellt. Im Hause selbst sitzt viel Militär herum, Das alles hat seine guten Gründe. –

218 Borodin ist ein breitschulteriger, robuster Russe vom Schlag Gorki, Arbeitertypus, groß, ernst und sympathisch, ein Mann von anerkannter politischer Tüchtigkeit. Aus diesem Grunde von den Engländern maßlos gehaßt und verleumdetDie beliebteste, weil gemeinste Methode der Verleumdung ist: Jakob Borodin zu sagen, denn selbstverständlich ist ja jeder Bolschewik Jude, wie im Grunde umgekehrt jeder Jude Bolschewik ist! Borodins Name aber ist Mikhail Markowitsch Borodin.. Die Russen suchen sich ihre Leute, die sie an solch exponierte Posten stellen, schon mit Sorgfalt aus. Er hat lange in Amerika gelebt, in Illinois, Kalifornien, unterrichtete an der sozialistischen Rand-School in Newyork, spricht ausgezeichnet Englisch, ist schon das dritte Jahr in Canton. –

Borodin äußert sich ohne Zurückhaltung; er hat seinerzeit von Radek über mich gehört und sagt mir vieles, was für meine Arbeit von Nutzen sein wird. Spreche ich von China, so antwortet er mir mit Beziehung auf den Süden, die Provinz Kwantung, sein spezielles Arbeitsgebiet. Das Folgende gibt in kurzen Zügen wieder, was Borodin mir über Fortschritt und Zukunft der russischen Idee in China gesagt hat. –

 

Um es vorweg zu sagen: Borodin meint, es sei noch viel zu früh, an definitive und gültige Resultate zu glauben. Selbstverständlich versteht der Chinese unter Kommunismus etwas ganz anderes als der Russe oder der vorgebildete Proletarier der westlichen Länder. Für den Chinesen ist »Kommunismus« einstweilen gleichbedeutend mit:

einer anständigen, sauberen Regierung (eine uralte Vorstellung im Grunde, aber gültig);

Vereinheitlichung des Finanzapparates – alle Steuern werden durch eine einheitliche Regierung erhoben, nicht, wie bisher, auch noch von allerhand Militärbehörden, denn solange die Regierung nicht einheitlich ist und wirkt, haben die Hongkonger Banken die Oberhand in den Geschäften des südlichen China;

die primitivste Verbesserung der Wirtschaft schon wird von den Chinesen als »Kommunismus« angesehen; man kann mit Reformen dieser Art der Idee am besten dienen;

das gesamte Finanzwesen muß in die Hände der Chinesen 219 zurückgeleitet werden; es ist, mit der Kontrolle der Zölle, nach der Aufhebung der bitter angefeindeten Verträge, die ökonomische Grundlage von Chinas Befreiungskampf; der Kampf gegen den Imperialismus und um die Weltrevolution bewegt sich in dieser Richtung.

Nieder mit den Verrätern! Zoll-Autonomie!

Nieder mit den Verrätern! Zoll-Autonomie!

 

Alles Übel im südlichen China hat aber seine Wurzel in den Landbesitzverhältnissen, meint Borodin. Wohl gibt es keinen Großgrundbesitz, aber um so schwerer ist es, die Klasse der kleinen Landbesitzer zu bekämpfen. Sie ist diffus, kaum zu greifen, von der Art der BourgeoisieIn der Unterredung, die ich mit dem Bürgermeister von Canton, Herrn C. C. Wu, dem in Amerika geborenen und ausgebildeten Sohn Wu Ting Fangs, hatte, betonte mir Wu, daß China durch seine Tradition der Familienherrschaft von der Plage des Großgrundbesitzes verschont geblieben sei. Es gebe kein Erstgeburtsrecht, der Landbesitz werde unter sämtliche Kinder verteilt. Auch gebe es in China überhaupt keine Klasse nach europäischen Begriffen, sagte mir Wu, um zu beweisen, daß es in China auch keinen Klassenkampf geben könne. Zudem sei durch die Entwicklung der Neuzeit die Gefahr beseitigt, daß, wie in früheren Perioden, die Söhne der »höchsten« Schichten ausschließlich infolge ihrer hohen literarischen Ausbildung in die Regierung gelangen und dort eine Art Privilegienpolitik treiben könnten! Heute, sagte Wu, liefert der niedere Mittelstand dem Staate seine Beamtenschaft wie auch den Universitäten ihre Studenten. Die Söhne der Reichen »genießen das Leben«, d. h. verlottern. Es sei im Staatswesen überhaupt ein Regenerationsprozeß von unten her im Zuge, der nur durch das Unwesen der Militärbanden gestört und aufgehalten wird.. Wer da glaube, es existiere in China keine Landfrage, befinde sich im Irrtum. Es herrscht in China eine ungeheuerliche Ausbeutung des kleinen Bauern, der niederen Landarbeiter, eine ungeheuerliche lokale Ausbeutung. Die kleinen Landbesitzer erhalten von den Pächtern ihres Landes 60 Prozent des Ertrages. Außerdem muß noch für ein paar Dutzend verschiedener Steuern aufgekommen werden, die sämtlich dem Militarismus, der ungeheuren, ungeregelten Erpressung von seiten der Militärbanden zugute kommen – für Kulturzwecke bleibt nichts übrig. (Dr. Sun Yat Sen hatte die Absicht, die Abgabe der Bauernschaft von 60 Prozent auf 25 Prozent zu reduzieren – auch seine Arbeit wurde als »Kommunismus« angesprochen.)

Die einzige Möglichkeit, in diesen Verhältnissen Wandlung zu 220 schaffen, bestehe in der Organisation der Landarbeiter. Im südlichen Kwantung allein gibt es schon anderthalb Millionen organisierter Landarbeiter; das ist ein Anfang. Die Arbeit ist nicht leicht, denn die Chinesen sind ein materialistisch denkendes Volk. Der Besitz, die Familie, der Ahne ist die Grundlage, das Grundwesen des religiösen und sozialen Lebens dieses Volkes. Aber das Beispiel des großen Rußlands, das sich befreit hat, wirkt hier wie überall in der Welt, besonders der »farbigen«, der orientalischen, im Kampf gegen fremden Imperialismus und lokale Feudalbedrückung.

 

In diesen Tagen habe ich mich oft an meinen ersten Besuch in Moskau erinnert, Herbst 1920. Damals waren gerade die Vertreter einiger hundert Nationen und Stämme, ja Nomadenhorden Asiens, die in Baku dem ersten Kongreß der Orientvölker beigewohnt hatten, nach Moskau geströmt. Auf diesem denkwürdigen Kongreß ist die gegenwärtige Phase der Weltgeschichte eingeleitet, Moskau zum zentralen Gehirn der Bewegung erkoren worden. Von Radek und Bela Kun hörte ich damals das Wort: Der Westen hat uns im Stich gelassen – wir verlegen die Bewegung nach dem Osten. Daß die Russen ihrer Methoden und der Psychologie der Massen kundig und sicher sind wie kein zweites Volk, keine zweite Regierung, keine zweite Diplomatie der Welt, beweist die Gegenwart – diese Kette von Freiheitsbränden, die von Marokko bis China angezündet ist. –

Rußlands Beispiel wirkt in China tief und stark. Amerika hat viele Millionen Dollar hierher geworfen, aber Amerikas Propaganda für seine spezifische Form von Prosperität wirkt nur auf den »Rand der Bevölkerung« (Borodins Worte), auf Leute, die von der nationalen Idee des Befreiungskampfes ebenso weit wie von der proletarischen entfernt sind. Die Intellektuellen Chinas sind von der Idee Rußlands, ihrer ökonomischen wie ihrer geistigen Bedeutung für das Volk erfaßt. Sie stehen auf der Seite Rußlands, in stetig anwachsenden Scharen. Es hat eben jetzt mit dem zweiten Kongreß der Kuo Min Tang die Erweiterung des Fundaments der großen Bewegung begonnen: die Vereinheitlichung des städtischen wie des Landproletariats. Die Landorganisation strahlt auf die Stadtorganisation aus, beide gehen ineinander über. Die Intellektuellen und die 221 Landbevölkerung nähern sich einander, verschmelzenIn der Fabrikvorstadt Honam gibt es bereits 50 000 organisierte Arbeiter. Eine besondere Tätigkeit wird, namentlich durch die Genossin Borodin, unter den arbeitenden Frauen entfaltet. Mit Erfolg – wie wäre es auch anders möglich! – die Frau in China verrichtet oft die schwerste Arbeit, so z. B. das Rudern der Sampans, das Bestellen des Feldes, ist dabei klug, geschickt und auch im Handel erfahren.. Wäre die Stadtbewegung, die Landbewegung für sich allein geblieben, die gesamte Bewegung hätte auf die Dauer versagen müssen. Da aber nun die Intellektuellen den Weg zu beiden Massen gefunden haben, ist die Propaganda vertieft, und die Ideen, für die gekämpft wird, verwurzeln sich in diesem Segment der Arbeit um die Weltrevolution im gesamten Volke. –

Auf meine Frage, ob denn nicht zu befürchten sei, daß die Chinesen, ein schlaues, abgründig unsentimentales Volk, die Russen, die ihnen ideelle und materielle Hilfe bringen, einfach ausnutzen und sie dann abschütteln oder im Stiche lassen würden, antwortet Borodin: Die Chinesen haben ein sicheres Gefühl dafür, wer ihnen »hilfe«bringend naht, um sie dann auszunutzen – und wer aus nationalem, freiheitlichem und nicht dem plumpsten Willen der Ausbeutung zu ihnen kommt.

(Ehe ich von Berlin abreiste, hörte ich von einem gewiegten russischen Freund eine aphoristisch zugespitzte Meinung. Er sagte mir: Sie gehen nach China; merken Sie sich eins: in China arbeiten die Engländer mit Dollars, die Amerikaner, die Japaner mit Dollars. Die Russen arbeiten auch mit Dollars, aber außerdem können die Russen auch mit dem nationalen Gefühl der Chinesen operieren, denn sie sind als asiatische Macht geographisch und kulturell die prädestinierten Verbündeten der anderen, benachbarten asiatischen Großmacht, und das ist der Vorsprung Rußlands in China, der von keinem andern Lande, auch nicht von Japan, eingeholt werden kann.)

Im übrigen haben die Russen mit der Errichtung der Sun Yat Sen-Universität in Moskau sich ein ausgezeichnetes Propagandamittel in China geschaffen. Diese Universität, die gegenwärtig etwa zweihundert begabte und für die Idee der russischen Befreiung begeisterte chinesische Studenten in die Wissenschaft des Marxismus und in die Theorie und Praxis der Revolution einführt, ist im Grunde genommen nur eine Erweiterung 222 oder Spezialisierung der schon seit dem Beginn der russischen Revolution bestehenden »Akademie der Ostvölker«, die Agitatoren und Propagandisten für Asien ausbildet. –

 

Rußlands geistiger Einfluß macht sich in China an vielen Stellen geltend und deutlich bemerkbar. Jugendzirkel, Studentenklubs werden gegründet und von den Russen beraten. Die Chinesen verlangen von den russischen Genossen Material, Rat und Hilfe in allen Fragen der Erziehung und Organisation. In Schanghai hatte ich einen chinesischen Freund, einen jungen Lehrer an einer Schule im Innern des Landes, die eben gegründet war und deren sämtliche Schüler, einige hundert, geschlossen aus der amerikanischen Missionsschule des Ortes in die nationalchinesische, revolutionäre hinübergegangen waren.

Auch die Methoden der Roten Armee haben bereits Eingang in die Formationen der revolutionären Armee des Südens gefunden, besonders in jene Kerntruppe der Roten Armee Chinas, die Whampoo-Kadetten. Wie oft sah ich in den Straßen Cantons vor Kasernen Gruppen junger Soldaten beisammenstehen, denen ein junger hoher Offizier in kameradschaftlicher Weise Vortrag hielt. Übrigens muß gesagt sein, daß es in den Armeen Chinas niemals Subordination, Drill und Kadavergehorsam in dem Sinne der europäischen Armeen gegeben hat. Auch durch die besondere demokratische Form des chinesischen Volkes und der Gesellschaft Chinas gab es mehr Kameradschaft und Interessengemeinschaft unter den hohen und den niederen Schichten der Armee, nicht Vorgesetzte und Untergebene. (Es gibt aber auch Motive der Korruption – hierüber später!)

 

In einer Ansprache, die ich auf Einladung der Professoren vor den Hörern und Hörerinnen der Universität Canton halten durfte, wies ich auf die Aufgaben der Studentenschaft in den großen Freiheitsbewegungen dieser Zeit hin. Ich sprach von der kläglichen Haltung der deutschen Studenten in unserer eigenen mißglückten Revolution und von dem Heroismus, der zähen, jahrhundertelangen Aufopferung der russischen, die die große Revolution Rußlands vorbereitet und zum Siege geführt hat. An der Begeisterung, die jeder auf Rußland bezügliche Satz unter diesen jungen Menschen erweckte, konnte deutlich 223 die Wesensverbundenheit des chinesischen und russischen Freiheitskampfes erkannt werden. An wie vielen Symptomen, die sich mir während meines Aufenthaltes im Süden wie auch in nördlichen Landesteilen Chinas boten, habe ich dann beglückende Gewißheit gewonnen darüber, wie stürmisch diese Zeit in den Ländern des Ostens vorwärtsschreitet!

Auch von der »gelben Gefahr« sprach ich, diesem Schreckgespenst der europäischen Bourgeoisie und Reaktion, die ihre heiligsten Güter, wie sie sie nennt, mit Giftgasen und Luftbomben gegen die in technischen Dingen zur Zeit noch arg zurückgebliebenen barbarischen Anhänger Buddhas und Konfuzius' zu verteidigen entschlossen ist. Aber auch von der »gelben Hoffnung«, die jedem revolutionär denkenden Sozialisten der Alten Welt durch die Fortschritte der proletarischen Idee im fernen Osten geschenkt worden ist.

Aus dem Munde C. C. Wus und Borodins hörte ich die Klage, daß diese blöde Phrase, dieses Schlagwort »die gelbe Gefahr«, die Deutschen, die ja in Europa so ängstlich und aufmerksam nach dem Westen schauen müssen, von einer aktiven Politik im Osten zurückhalte. »Was ist das Geheimnis unseres Einflusses in China?« sagte mir Borodin. »Wir Russen sind das einzige Volk, das die Chinesen als gleichberechtigt betrachtet und behandelt. Im Westen sind die Deutschen nachgiebig (yielding), im Osten aber passiv und furchtsam. Sie könnten im selben Augenblick an Einfluß gewinnen, in dem sie sich hier zu einer positiven Politik entschließen wollten.«

Wozu, ich fürchte, wenig Aussicht besteht.

 

Im wesentlichen hat die chinesische Nationalbewegung bisher die folgenden fünf Perioden durchgemacht: Die erste führt ins Jahr 1894 zurück. Ihr Programm umfaßte:

Reform der inneren Verwaltung,

Einführung eines modernen Erziehungssystems,

Absetzung der Kaiserin.

Die zweite Periode 1896:

Bewegung gegen das Christentum,

gegen die Ausländer, d. h. die Raubvölker, die China zu kolonisieren suchten. 224

Die dritte Periode 1912:

Abschaffung der Monarchie,

die Erklärung der Republik durch Dr. Sun Yat Sen,

Aufbau der Republik.

Die vierte 1919:

allgemein zivilisatorische Bewegung,

Sozialismus.

Die letzte, gegenwärtige, 1924 begonnene aber richtet sich

gegen Imperialismus,

gegen Kapitalismus,

bereitet die Aufhebung der mit den imperialistischen Mächten geschlossenen »Verträge« vor,

ist für die Weltrevolution.

Plakate der Chinesischen Revolution

Plakate der Chinesischen Revolution

An diesem Punkte ist die Bewegung heute, Neujahr 1926, angelangt. (Ich verdanke diese Aufstellung wichtigen und lehrreichen Gesprächen, die ich mit Herrn Professor Liang Kwang En von der Universität Canton führen durfte.)

 

Gegenwärtig ist das Land von Aufruhr, Unordnung, gegeneinander kämpfenden Strömungen und Kräften, Armeen und Banden zerrüttet.

Im Süden kommandiert jetzt, Anfang 1926, das Streikkomitee fast allmächtig, den es unterstützenden Kräften überlegen und über den Kopf wachsend. Im Norden hetzen die von allen möglichen dunklen Mächten bezahlten Generale ihre Truppen gegeneinander. Was in den Zentralprovinzen geschieht, erfährt man zuweilen, und es ist zumeist schaurige Kunde. Das Land ist von Hungersnot, Militarismus, Bandenwillkür geschwächt und zerstört.

Hier im Süden aber scheint eine Zentralisierung der Macht sich vorzubereiten. Der General, der die Armee führt, arbeitet Hand in Hand mit der Regierung, das Streikkomitee wird sich seinen Weisungen zu fügen haben. Der linke Flügel der Kuo Min Tang, der in Canton seine Herrschaft ausübt und bewährt, ist in gemeinsamer Aktion mit Rußland für die proletarische Revolution. Die rechte Kuo Min Tang aber, ohne besondere Macht und ausgesprochenes Programm, ist deutlich antirussisch, antiproletarisch. Die Südarmee, jene Formation der 225 Whampoo-Kadetten, ist allein nicht imstande, den Willen der linken Kuo Min Tang zur Einigung Chinas durchzusetzen. Von Zeit zu Zeit dringen Nachrichten von einer bevorstehenden Aktion dieser Armee gegen den Norden in die Öffentlichkeit. Die Generale im Norden aber und die Tupane (die von der Revolution eingesetzten Militärgouverneure der Provinzen) arbeiten mit geschlossenem Visier und undurchsichtigen Mitteln für ihre eigenen Interessen und jene ihrer Hintermänner. Das Land ist erschüttert durch eine Periode fortgesetzter militärischer Gewalttaten. Es ist zu befürchten, daß bei einer Gelegenheit, die sich bald ergeben könnte, die Mächte Europas, die ihre Interessen hier nicht in der gewünschten Weise verfochten sehen, gegen China einschreiten werden, d. h. gegen die Kräfte, die in China ihre Raubabsichten stören, im letzten Grunde also gegen Rußland und die gefährliche Idee, die Rußland verkörpert.

China ist jedenfalls der Brennpunkt eines neuen Weltgeschehens, allem Anschein nach eines neuen Weltkrieges. Die Chinesen, dieses nüchterne, durch seine jahrtausendealte Geschichte gewitzte Volk, wissen das und sind auf ihrer Hut. Vielleicht ist China, das Schicksalsland der östlichen Welt, die Geburtsstätte einer neuen Weltordnung. Es wird seinen Teil an dem großen Werk verrichten müssen, schicksalsbestimmt und wahrscheinlich gegen seinen Willen.

 


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