Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Die Türme

Nächsten Morgen liegt die Landzunge der Malabarberge vor Bombay im Nebel der aufgehenden Meerdünste. Rasch fährt das Auto die Strandstraße entlang, der herrlichen Kurve der Bai folgend.

Auf Malabarhills haben die Reichen ihre Villen, Paläste, Bungalows, Prunkgärten. Es ist der vornehme westliche Vorort der mächtigen Hafenstadt.

Sehr früh ist's noch, doch kommen von dort her schon viele Equipagen, luxuriöse Limousinen mir entgegen, in die Bureaus der Stadt gefahren. In ihnen sitzen gewichtige, schwarzgekleidete Herren von ausgesprochen semitischem Typus; viele mit goldenen Brillen auf der Nase, die tief in der Morgenzeitung steckt. Die merkwürdige Kopfbedeckung, ein oben abgebrochener Zuckerhut aus Glanzleinwand, ohne Krempe, bezeichnet sie als Parsen. Sie sind die Herren des Handels in Bombay. Eine Handvoll mächtiger Kaufleute, Reeder, Industrieller; harte, kluge Leute – die erstaunliche Anzahl von Marmormonumenten alter, semitisch aussehender Herren mit abgebrochenen Zuckerhüten auf dem Kopf beweist nicht nur ihre aktive Teilnahme an den kulturellen Institutionen der Stadt, sondern auch, daß sie sich mit den Engländern glänzend zu stellen wissen: kein Wunder, beide wollen in dem Lande (in dem sie eine winzige Minderheit darstellen) 135 gute Geschäfte machen. Warum sollten sie sich nicht vertragen? (Es gibt keine wilderen Feinde der Swarajbewegung als die Parsis. – Ein Witz der Weltgeschichte: der einzige kommunistische Abgeordnete des Londoner Unterhauses, Saklatvala, ist Parse!)

Zwischen den Equipagen, ebenfalls von Malabarhills kommend, nackte, wirrhaarige, langbärtige Männer, ganz mit Asche bestrichen, Amulettschnüre, Blumenkränze um den Hals. Mancher trägt einen gelben Schurz. Mancher hat einen hohen Stab in der Hand, eine Blechschale an einem Strick um die Hüfte gebunden: Bettler, Pilger, Büßer aus der heiligen Siedlung Walkeschwar, die sich inmitten der Villen, Prachtgärten und Paläste oberhalb des Gouverneurparks auf Malabarhills erhebt.

 

Die Türme des Schweigens, zu denen ich in dieser frühen Stunde des Tages fahre, stehen in einem bezaubernden Garten von tropischem Überschwang an Duft, Farbe, Lieblichkeit. Weiße Stufen führen vom Torweg zu einer Plattform hinauf, auf der die Kapelle der Parsen sich erhebt, in der die Leidtragenden nach Einlieferung der Leichen um ein ewig brennendes, ewig neugeschürtes Feuer von duftigem Sandelholz Augen und Seelen vom Element der Trauer trocknen und reinigen.

Ungefähr zwei Stunden dauert die Zeremonie in der Kapelle. Daweil ist in den Türmen die Leiche, die die Leidtragenden mit sich gebracht haben, schon lange bis auf das Skelett, das bare Knochengerüst abgenagt. –

Es ist, als ich ankomme, noch früh. Die Toten werden erst in zwei Stunden eingeliefert werden.

Türme des Schweigens

Türme des Schweigens

Man sieht am Rand der Türme, die großen, offenen Zisternen ähneln, Geier hocken. Schwarze, mächtige Tiere auf den weißgetünchten Mauern der runden Türme.

Kaum haben die Leichenträger auf eisernen Bahren die ersten Toten in die Türme getragen, stürzen sich die dunkeln Vögel ohne Gekreisch auf den Leichnam, ein wilder Kampf entspinnt sich, an dem nur der tote Mensch kein Teil hat, und ehe noch die Tränen der Leidtragenden, wie ich annehme, von der Glut des flackernden Sandelholzfeuers getrocknet sind, ist hier, hundert Schritte weit von der Kapelle im Turm, der mitten in diesem tropischen Wundergarten steht, von dem Toten, 136 es mag ein Kind gewesen sein oder eine junge Frau, gestern noch in voller Blüte, im unendlich holden Zauber der körperlichen Erscheinung, der Mund mit roten Lippen lächelnd, das Auge voll blinkendem schelmischen Sprühen – nun, genug.

(Die Würmer lassen sich Zeit.)

 

Die Religion der Parsen hält, wie die der Juden den »Peger«, den toten Körper für unrein, unwürdig der Heiligkeit der Flamme wie der Erde.

Fleisch zu Fleisch – das heißt: Mensch zu Geier; und später, wenn die Sonne das Gebein gedörrt, der Monsun es zerrieben und aufgelöst hat, der Rest durch die Kanäle der Türme hinunter in den Schlamm der See . . .

Aber, wie denn, wenn die Seele – ich glaube daran, ich habe Ursache, daran zu glauben –, wenn die Seele den Körper, der ihr als Obdach diente, erst eine geraume Weile nach dem Aufhören der körperlichen Funktionen verläßt? Etwa erst, nachdem die Sonne zweimal auf- und niedergegangen ist?

Hast du nie, in deinem tiefsten Innern, während du im Krematorium der Zeremonie beiwohntest, den erschütternden Schrei der überrumpelten, vergewaltigten Seele vernommen, der man keine Zeit gegönnt hat, die leibliche Hülle zu verlassen, ihre Habe aus den Atomen für die Reise zusammenzusuchen? Die versengten Flügelränder des zarten, gemarterten Schmetterlings . . .

Mein Führer durch den Garten, ein ernster, wortkarger junger Parse, steht vor mir mit ausgestrecktem Arm. Er weist der Reihe nach auf die fünf Türme: die Begräbnisstätten der Menschen seines Glaubens.

Ich habe auch schon ein Modell aus Beton und Blech besichtigt, das einen solchen Turm von außen und innen mit allen seinen Einzelheiten darstellt. Ziemlich tief unter dem Rand des offenen Gemäuers befindet sich eine riesige runde Eisenscheibe, die in drei konzentrische Kreise geteilt ist. Der breiteste nimmt die Männer auf, der zweite die Frauen, der innerste, engste die Kinder. Die Füße aller drei Kategorien weisen nach dem Mittelpunkt dieser Scheibe, dieses Rostes, unter dem sich Kammern mit Abflußschächten nach den vier Himmelsrichtungen befinden.

137 Zwei, höchstens drei Wochen liegt ein Skelett nur unter dem Himmel – aber dies ist ja einerlei: denn, wie gesagt, wenige Minuten schon nach der Einlieferung haben die Geier an dem Neuangekommenen jedes Interesse verloren.

Arm und reich – sagt der junge Parse –, arm und reich liegt nebeneinander. Der Glaube macht keinen Unterschied.

Aber: ein Turm ist doch den Selbstmördern und Hingerichteten, ein anderer den Stiftern und oberen Zehntausend der Gemeinde, die hier vielleicht nur hundert sind – denn die Zahl der Parsi ist gering, hunderttausend –, vorbehalten. –

 

Ich bleibe, vom Zauber der Blumenterrasse, deren Düfte sich, wie die Sonne steigt, erheben, ganz benommen, ganz betäubt, länger auf der Bank vor der Kapelle sitzen, als das Besuchern erlaubt ist. Aus dem Laub der Bäume im weiten Garten taucht das Weiß der Türme auf.

Ich denke daran, wie mein Vater starb. An einen Freund, den ich in seinem Sarg liegen sah. Wie es wäre, sollte ich einen geliebten Menschen, dessen zu weiße Hand ich in der meinen gehalten, an dessen zu roten Lippen sich mein Blick, mein Mund festgesogen hat, in diesen tropischen Garten tragen sehen, hinter jener kleinen Eisentür, die ins Innere des weißen Turms führt, verschwinden sehen . . .

Schlafend, schlafend noch fast . . . Ich vermag es mir nicht auszudenken, daß die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft einer Sekte, das in das Bewußtsein eingegangene Dogma von der Unreinheit des Körpers, dessen Funktionen kaum erst erloschen sind, stark genug sein könnte, das Grauen niederzudrücken, dieses elementare Grauen, dieses vernichtende Grauen . . .

Einige Male schon ist der junge Wärter zu meiner Bank gekommen, mahnend, mit mürrischem Gesicht. Es ist Zeit: neun Uhr.

In der Luft, über mir, hart über meinen Kopf weg, schwirrt es dahin. Zwei dunkle, breitbeschwingte Vögel.

Ich blicke ihnen in der Richtung ihres Fluges nach. Sehe zwischen den Gebüschen von der weißen Treppe her, über die ich in den Garten heraufgestiegen bin, zwei Träger mit einem eisernen Bett, darauf etwas mit weißem Tuch Bedecktes liegt, auf einen der Türme zugehen.

Ich muß den Garten verlassen. Es gelingt mir schwer; die Gelenke 138 sind bleiern, als hätten mich alle Lebensgeister verlassen. Die Bruchstelle unter dem Handgelenk des rechten Armes meldet sich auf einmal, schmerzt, zuckt auf.

Im Gehen sehe und höre ich, wie die Geier vom Rand des Turmes da vor mir, auf dem sie die ganze Zeit reglos gehockt haben, aufschwirren, eine dunkle Wolke, und über die Baumwipfel weg dorthin fliegen, auf jenen Turm zu, auf den jetzt die Leichenträger zuschreiten.


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