Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Kuli Nr. 204

Den ganzen Tag über, vom Morgen bis spät in die Nacht, lebt er in einer kleinen Bude gegenüber dem »Hôtel des Wagons Lits«. Jetzt im Winter ist dies seine Behausung, im Sommer sitzt er auf dem Pflasterrand vor seiner Rikscha, die in einer Reihe mit fünfzig anderen auf einen Wink des Hotelgastes wartet. Aus den kleinen trüben Fensterscheiben der Bude lugt er ins Freie hinaus, auf das Tor des Hotels. Sieht er mich aus dem Hotel heraustreten, so ist er mit einem Satz aus der Bude heraus zu seiner Rikscha gesprungen, die die Zahl 204 trägt, und ich steige ein, nachdem ich ihm mit ein paar Worten erklärt habe, was ich heute besichtigen möchte.

Hie und da fahre ich mit ihm im Legationsviertel zu einer der Gesandtschaften, der deutschen oder der russischen. Sie sind beide nur wenige Schritte entfernt vom Hotel, und doch setze ich mich in die Rikscha 204, denn wir haben, der Kuli und ich, einen stillschweigenden Vertrag geschlossen, daß er während meines Aufenthaltes in Peking einfach nur für mich da sein wird, ich für ihn.

Besondere Freude hat Nr. 204, wenn ich zur russischen Legation fahre. Kommt er an der Flaggenstange vorüber, so dreht er sich 278 während des Laufens nach mir um, zwinkert mir zu und blickt einen Augenblick lang begeistert zur roten Fahne in die Höhe. Der deutschen Legation gegenüber bekundet er Gleichgültigkeit. An der japanischen springt er mit einem wilden Satz vorüber. Die Japaner mag er nicht. Vor der englischen spuckt er ostentativ aus, vor der französischen Gesandtschaft aber ruft er, so oft er vorüberkommt: »Français – cochon!« Es sind die einzigen französischen Worte, die ihm bekannt sind. Englisch dagegen spricht er recht gut. Er ist überhaupt ein intelligenter Bursche, dieser mein Kuli Nr. 204. Englisch hat er in seinem langjährigen Dienst vor dem »Hôtel des Wagons Lits« erlernt. Er kennt sämtliche Antiquitätenhändler Pekings, weiß Bescheid in den Adressen der chinesischen Freudenhäuser, die der abenteuerlüsterne Europäer bei Nacht und Nebel aufsucht. Auch einige der vielen Talmiopiumkneipen kann er dir weisen, aber nicht nur diese Fremdenführertugenden und Künste beherrscht er, sondern er hat zuweilen überraschend kluge Meinungen zu äußern, wenn man sich von ihm nach einem Tempel, einem Theater, einem Staatsamt fahren läßt. Woher hat er diese Meinungen, woher weiß er auch, was die rote Fahne bedeutet, wer hat es ihm beigebracht, daß die amerikanische Fahne sich geniert fühlt durch die Nachbarschaft der roten auf der anderen Seite der Straße? Daß die rote Fahne für den Kuli mehr bedeutet als die amerikanische? Sicherlich gibt der aus der russischen Gesandtschaft tretende Fahrgast ihm ein besseres Trinkgeld als der Amerikaner, behandelt ihn auch nicht so ganz und gar als Kuli wie dieser, sagt zu ihm sogar vielleicht, falls er des chinesischen Wortes mächtig ist: »Genosse«. Aber nein, mein Kuli ist ein von Natur aus intelligenter Bursche, ein gesunder, kräftiger, sauber gekleideter, ordentlicher Bursche – man muß bloß sehen, mit welcher methodischen Pünktlichkeit er, wenn der Polizist an der Straßenkreuzung vor dem aus dem Boden sich aufbauschenden rotgestrichenen Ausweichsignal steht, in vorgeschriebener Weise das Signal beachtet und mit welchem Vergnügen er, wenn der Polizist nicht dort ist, genau anders herumläuft – dieser gefährliche Bolschewist Nr. 204!

Wir sind sehr befreundet. Ich erfahre von ihm allerhand über sein und seiner Berufs- und Schicksalsgenossen Leben, äußere und innere Angelegenheiten. Der Unternehmer, in dessen Dienst er steht, ist ein 279 ehemaliger Polizist, der es dank allerhand undurchsichtiger Manipulationen und Liebesdienste, den Einwohnern des Gesandtschaftsviertels erwiesen, zum Besitzer von siebenundvierzig Rikschas gebracht hat. An diesen Unternehmer muß mein Kuli, ob er nun einen guten oder schlechten Tag gehabt hat, jeden Tag 40 Cents abführen. Er erklärt mir: eine Rikscha koste 70 Dollars mex., also 140 Mark, wenn sie schöne Messingbeschläge hat, 100; aber man könne schon für eine Anzahlung von 25 Dollar Rikschabesitzer werden und den Rest in Monatsraten abzahlen. Indes, er zieht es vor, einem Unternehmer sich zu verdingen. Es ist sicherer, denn wenn einem die Rikscha gestohlen wird – was fängt man dann an?

In Peking ist große Konkurrenz unter den Rikschakulis. In Schanghai steht es besser. Dort werden Lizenzen nur nach Vakanz verteilt. Aber dort muß man dem Unternehmer einen ganzen Dollar pro Tag bezahlen. Dafür gab es in Schanghai aber bereits einen Streik der Rikschakulis, an dem fünfzehnhundert teilnahmen, während in Peking die Organisation jetzt erst beginnt.

Die Kulis, die Schanghaier und Tientsiner Schwerarbeiter, Schwarzarbeiter, die Schiffe-, Bahnen- und Magazinverlader sind eine recht gut organisierbare Menschenklasse. Sie sind nüchtern, bedürfnislos, stark, an Freiluftarbeit gewöhnt und haben ihre Geheimbünde. Ich frage meinen Kuli: sind denn deine Genossen in der Baracke nicht erbittert darüber, daß du an mir einen ständigen Kunden hast, während sie oft halbe Tage lang nichts verdienen? Mein Kuli sieht mich an: selbstverständlich gebe ich ihnen von meinem Verdienst ab, wir helfen uns ja gegenseitig aus.

Nach dergleichen intimen Aussprachen oder einem allzu reichlichen Trinkgeld muß ich ihn hie und da zu energischerer Vorwärtsbewegung anstacheln. Sobald er merkt, daß man menschliches Interesse bekundet, wird er lahm, faul und arbeitsunwillig. Er ist gewiß keine sehr starke ethische Persönlichkeit, aber ich bin überzeugt, daß er, wenn er nicht als Sohn, Enkel und Urenkel von armen Kulis geboren wäre, vermöge seiner Intelligenz, Menschenkenntnis und gesunden Urteilskraft, nachdem er sich die ersten Grundzüge der Bildung angeeignet hätte, sicher leicht in eine höhere Schicht der Gesellschaft emporgestiegen wäre.

Daß er sauber gekleidet und stets gutgewaschen und frisch rasiert 280 ist, glaube ich bereits erwähnt zu haben. Auch der Kissenüberzug in seiner Rikscha ist immer sauber; das Plaid, das unter dem Sitz verstaut ist (mit einer Flasche, in der sich Metallputztinktur befindet, einer Bürste, einem Schneuztuch und irgendwelchen Eßwaren), ist gut geklopft, und man kann es, ohne Läuse zu befürchten, getrost um den Unterleib wickeln.

 

Neujahr naht, und ich kaufe an dem letzten Nachmittag, an dem die Geschäfte noch offen stehn, Geschenke für ihn ein, für sein Kind, von dem er mir oft mit Stolz erzählt hat, und überhaupt für sein Fest, das er morgen in seinem Heim feiern wird. Mit einem großen Paket beladen, dessen Inhalt ich nicht verrate, auf das er aber mit freudigen Augen schielt, lasse ich mich am Neujahrstage von ihm in sein Heim fahren. Es liegt weit außerhalb des Hatamentores, in einer südöstlichen, von den Ärmsten bewohnten Vorstadtstraße, in einer Reihe von ebenerdigen, um große offene Höfe herum gebauten ziemlich elenden Häusern. Man muß von der Straße einen kleinen Sandhügel hinauffahren, um vor sein Tor zu kommen. Er will mich aber nicht bis zum Tor seines Hauses fahren. »Kommen Sie nicht zu mir hinein, geben Sie mir das Paket, es ist schmutzig bei mir, ich werde meine Frau und das Baby herausrufen. Kommen Sie nicht in mein Heim (my house), es ist zu schmutzig dort innen, wozu sollen Sie in den Schmutz kommen!« Aber ich habe das Paket schon unter den Arm genommen und gehe voraus, da schiebt er lachend hinter mir drein seine Rikscha den Hügel hinauf.

»Hier wohne ich.«

Vier armseligste Familien leben in dem engen kleinen Hof, in dessen einem kleinen Seitenflügel »sein Haus« sich befindet. In dem engen winkligen Viereck um die vier kleinen Behausungen liegt Schmutz, Kehricht, Gemüseabfälle, Menschenkot in Haufen wüst beisammen. Aus der Tür der Wohnung, auf die mein Kuli Nr. 204 losgeschritten ist, kommt seine etwa fünfundzwanzigjährige Frau heraus – sie ist, wie mein Kuli mir berichtet, genau so alt wie er selbst –, eine hübsche saubere Frau, gut und nett gekleidet, mit einem kleinen rotznäsigen, pausbäckigen Knäblein auf dem Arm. Es hat eine kleine Wollmütze auf dem Kopf sitzen, das Baby. Das tut mir leid, denn ich habe ihm ein 281 ähnliches Mützchen gekauft, dazu aber noch ein Wolljäckchen, das es gut gebrauchen kann, denn der Winter ist kalt. Auch die alte Mutter der Frau kommt aus der Tür hervor. Sie verneigen sich lächelnd und freundlich, wissen offenbar schon von meiner Existenz. Drinnen im Zimmer wird dann alles ausgepackt, die Kleidungsstücke, der Wein, Konserven, etliche Süßigkeiten. Sofort kommt der ganze Hof herein, alte Frauen, ein krätziges Kind, ein hinkender Junge. Mein Kuli und seine kleine Familie läßt es gern zu, daß die gesamte Hofbewohnerschaft den Wein, das Mützchen und das Jäckchen und all das übrige beäugt, beriecht, befingert und von Hand zu Hand weitergibt. Nachdem sie sich vergewissert haben, was der Hofgenosse zu Neujahr erhalten hat, schieben sie allesamt ab, und ich darf mich mit meinem Kuli, seiner Frau und Kind und der alten Mutter auf die Matte setzen, die reinlich und hübsch, von einem blauen Streifen eingefaßt, als Sitzgelegenheit für die Familie dient und wohl auch als Bett – denn in einer Ecke zusammengerollt ist eine abgenutzte Steppdecke wahrzunehmen. Ein kleiner eiserner Ofen steht in der Ecke, in bedrohlicher Nähe der Decke. Feuer brennt in ihm. Auf einen Bord gereiht: Kohlköpfe; eine Lampe mit zerbrochenem Glase. In einer Ecke auf dem Boden ein alter Pelz. Drei bunte Bilderbögen, einer einen mythischen Stoff, einer eine Seeschlacht und der dritte Schützengrabenkrieg darstellend, sind an die Wand geklebt. Dies alles ist nett anzusehn. Mein Kuli übersetzt mir die Dankbezeugungen seiner Familie. Er zieht dann dem Kind das Mützchen vom Kopf und stülpt ihm das neue mitgebrachte buntere über die langen seidenschwarzen Haare. Die Frau kocht derweil einen halbgrünen Tee, gibt mir eine kleine Tasse. Die Schachtel mit Biskuits wird vorsichtig geöffnet, mir angeboten. Ach Gott, es ist kein Dosenöffner bei der Konservenbüchse mit der gebratenen Ente! Am liebsten möchten sie alles aufmachen und mir anbieten. Aber es dunkelt schon, und nachdem wir zwei Tassen Tee getrunken haben, sage ich ihm, daß ich nun nach Hause fahren will. Von Frau, Mutter und Kind und der ganzen Hofbewohnerschaft begleitet, begebe ich mich vor das Haus. An dem Tor kleben große rote und goldene Plakate, die dicke, grimmig-gemütlich dreinblickende Torgötter zeigen. Ein Lampion hängt quer über dem Misthaufen an einer Schnur befestigt, – er war noch nicht da, 282 als ich kam, jetzt verkündet er, daß auch in dieses arme Haus das Neujahrsfest eingekehrt ist!

Durch das Vorstadtviertel, dann durch Hatamen fahre ich zurück in die Gesandtschaftstraße, bezahle meinen Kuli und sehe aus dem Tor zu, wie er in großen Sprüngen mit seiner Rikscha den Weg zurückläuft, den er mit mir soeben gekommen ist.

 


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