Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Stadt bei der Wüste

In dieser Stadt vergehen meine Tage zwischen Grauen und Verzauberung. Grauen und Verzauberung – aus diesen Elementen ist die Stadt gebaut, zusammengebraut: der Verzauberung des tiefen Orients in den Vierteln um die Muski, bis zum Sandgebirg Mokattam, den Dörfern des Nilufers – und daneben der irrsinnigen Hast, dem nervösen, stampfenden Treiben des modernen Stadtviertels, ohne Übergang angeklebt an die Orientstadt der Eingeborenen. So, zwischen Würde und Angst, dem sublimen Überschwang der Seele, die den geruhsam tiefen Sinn des Orients erfaßt hat, und dem jähen 19 Zurückstürzen in die schweißtreibende Wirklichkeit des Unglücks, vergehen meine Tage in Kairo.

American Express sperrt die Auszahlung des Kreditbriefs. Dieser Brief lautet auf eine große Anzahl, auf all die Hunderte seiner Filialen in der ganzen Welt. Die ägyptischen, palästinensischen, syrischen werden sofort telegraphisch verständigt – angeblich sofort verständigt. Dann sollen in immer weiterem Umkreis die entlegeneren bis zu der entferntesten durch die Pariser Zentrale benachrichtigt werden. Natürlich ist die Spannweite zwischen meinem Anteil an dieser Angelegenheit, die für mich eine Katastrophe bedeutet, wesentlicher als für die Leute des Express, in deren Praxis solche Fälle wahrscheinlich alle Tage vorkommen. Ich werde den Eindruck nicht los, daß dieser Angelegenheit keine besondere Sorgfalt zugewendet wird – und doch hängt für mich von ihrem Ablauf mehr ab als diese Reise, diese wunderbare Reise allein . . .

Dagegen ist der Konsul meines Landes, den ich sofort aufsuche, um mir einen Notpaß zu verschaffen, von größter Dienstwilligkeit; er ist ein angesehener jüdischer Bankier Kairos und in seine Würde als Konsul Ungarns erst seit einer Woche eingesetzt. Mein Fall ist der erste, in dem er seine Funktionen ausüben kann.

Die Behörden erweisen mir, ohne direkt im wesentlichen zu helfen, zarte Aufmerksamkeit. Im Hotel besucht mich ein englischer Beamter der Geheimpolizei und nimmt ein Protokoll auf. Von seinem Schreibblock erhebt er nur selten den Blick, aber dann mit einem durchdringenden, durchbohrenden Anschauen meines im Bewußtsein meiner Unschuld ruhig bleibenden Gesichtes. Ich glaube, ihn interessiert es vor allen Dingen: ob ich etwa nicht selber mit einer Diebsbande die ganze Sache arrangiert habe?

Einen Tag später telephoniert es von der Bahnhofspolizei, Esbekieh Karakol. Ich erhalte die Nachricht erst spät nachts im Hotel. Soeben hat man einen Taschendieb gefaßt, der einem Amerikaner ein paar tausend Dollar gestohlen hat. Ich soll an den Bahnhof kommen, mir den Mann ansehen.

In einer kleinen, von ägyptischen Polizisten überfüllten Wachtstube steht ein schlanker, intelligent aussehender Mensch von etwa dreißig Jahren, mit amerikanischer Hornbrille, in elegantem braunen 20 Regenmantel, dessen Gurt er enger anzieht, als wir eintreten, um sich Haltung zu geben. Ich sehe den Mann an: es ist nicht meiner. Ich blicke in ein mürrisches, erstarrtes Gesicht, eine Larve fast. Ich bin der letzte Mensch, dem dieser Mensch ins Angesicht blickt, ehe die Gefängnishölle ihn verschlingt. Im Geiste bitte ich ihm die Schuld ab, die der ehrbare Bürger dem Verbrecher gegenüber hat. Nach meiner Erklärung wird der Mann sofort von einem Polizistenschwarm abgeführt. Er hinkt, man hat ihn, als er zu fliehen suchte, mit einem Hieb niedergeschlagen. Er trachtet aufrecht zu gehen, verschwindet in der düsteren, staubigen Halle.

»Ein Russe,« sagt der zurückbleibende Polizeiinspektor, »ein Ausländer,« und mit einer Handbewegung: »dem werden wir's zeigen. Wenn hier einem Fremden etwas gestohlen wird, heißt es gleich: die ägyptischen Taschendiebe! Dabei sind die meisten aus Europa zugereist. Dem Kerl werden wir's zeigen.«

Und wenn ich hundert Jahre alt werde, den Blick des russischen Diebes vergesse ich nicht, des Menschen vor dem Versinken in das Grauen eines ägyptischen Gefängnisses.

 

Wieder im Museum. Im ersten Stock die neuen Ausgrabungen aus dem Tut-En-Chamen-Grab. Ein Gang durch die unteren Hallen: Wiedersehen mit dem Dorfschulzen, dem schreitenden Priester des Ptah, der weißhäutigen Gipsprinzessin Nephret, mit dem König Myzerinus, den rechts seine Königin und links sein Dämon umarmt hält. Der Typus des Menschen, des Kulturmenschen, hat sich innerhalb sieben Jahrtausende nicht im geringsten verändert. Auf den Stockknäufen des Tut die Köpfe sehen genau aus wie Köpfe von Menschen, die man heute im Muski, auf Mokattam sehen kann; er selbst ist ein verwöhnter dekadenter Junge, der jeden Augenblick aus Shepheards Hotel von der Terrasse auf die Straße heruntersteigen könnte. Die gleichen Konflikte, Leidenschaften, Verdrängungen, die gleiche Überreizung, Nervosität und Hast auf den Gesichtern der Menschen von je und von heute, dieselbe überreizte Verfeinerung in dem Hausgerät von heute und den unerhört zarten, unbeschreiblich graziösen Alabastervasen für Räucherzeug, Kästchen für Schmuck, Schemeln und Stühlen Tuts. Sieht man die steinernen Gesichter und die aus Fleisch vor ihnen, 21 dann fällt einem das Wort Renans ein, daß die Moral keine Fortschritte mache. Und es kommen einem seltsame Gedanken über politische Evolution, Macht, Knechtsinn, Selbstherrlichkeit und Zerknirschung, Götzendienst und Heldenverehrung oder was man heutzutage so nennen muß.

In majestätischen Flügen, nach unten ausladenden, nach oben sich rapid verengenden Spiralen kreisen vor meinem Fenster die Sperber und Falken über dem violetten Garten um Ciros Jazz-Kasino. Irr und mitgerissen, hin- und hergetrieben, in die Höhe geschleudert und breit und abgrundtief zum Boden hinuntergezogen, lebt die Seele, glühend und beseligt, unruhig ihren Tag zwischen Würde und Not in dieser Stadt des Orients.

 

Der Orient ist ein zertrümmertes Haus. Im Bau unterbrochen? Oder hat es vor Zeiten, nicht weit über dem Erdboden, einen Hieb abbekommen, daß die Fensterrahmen im ersten Stockwerk wie zerschlagene Zäune in die Höhe stechen? Aus unterirdischen Verliesen ein namenloses Gewimmel; zwischen Abfällen, üblem Geruch halbnackte Kinder, dunkel gekleidete Frauen mit schwarzen und bunten Tuchfetzen vor den Gesichtern; hohe dürre, in farbige Burnusse gekleidete braune Mannsgestalten. Und unmittelbar angeklebt an die niederen engen Wohnverliese die Wucht der europäischen Vielstockhäuser, Pariser Straßenarchitektur, Eleganz, Lungern und lauerndes armseliges Vegetieren durcheinander.

Der Duft der Stadt ist ein anderer als vor drei Jahren – damals war's Herbst, die herrlichsten Früchte häuften sich auf den Tischen der Obstverkäufer: Granatäpfel, groß wie blonde Kinderköpfe mit kleinem aufgebundenen Schopf, Feigen, voll Sonne, die süßen seifigen Icecreamknollen des Kaktus, verzuckerte hellviolette Pasteken, kanaanitische Trauben von prickelndem, champagnerähnlichem Geschmack, die blassen Mondorangen aus den Gärten um Jaffa. Dafür duftet heute die kleine tropische Blumen- und Palmenoase mitten in der Stadt im Schmuck unerhörter Blumenfülle; zu Füßen der wild ineinandergeschlungenen Lianen sitzen auf den kleinen Bänken im Schatten des hereinbrechenden Abends Menschen, betäubt von der Wolke von Gerüchen über dem Garten.

22 Auf einer dieser Bänke sitzt allein ein Mensch und singt mit lauter Stimme. Er ist europäisch gekleidet, in helle Sommerfarben, hält zwischen den behandschuhten Händen einen Silberstock und singt, ganz einfach und ruhig, die griechische Litanei. Der Abend hat in dem Irrsinnigen die Ideenassoziation an die Zeit der Messe geweckt, in der er als Kind die Responsorien gesungen hat. Jetzt sitzt er da und singt mit angenehm tönender Stimme laut den sakralen Text, und auf den anderen Bänken sitzen wir und hören ihm geruhsam und ohne Staunen zu.

 

Zu Füßen Mokattams, zwischen dem Zitadellenberg und der Esbekieh-Oase inmitten der europäischen Stadt, liegt, um die lange Muski geschlungen, in wirre Gäßchen zerfasert, der Bazar. Wunderherrliche Moscheen erheben ihre dünnen Minarettnadeln wie Wegweiser aus dem Gewirr. An ihnen vorüber wagt sich der Fremde immer tiefer ins Labyrinth der schmalen Gänge, in die Lauben, die überdeckten, mit Segelleinwand, Latten, Lumpen, zerbrochenen Wölbungen, Torbogen, Laufgalerien kreuz und querverbundenen Höfe, Alleen, Gäßchen und Schlupfwinkel.

Verborgen im Mittelpunkt des Bazars das ungeheure Kaffeehaus, in dem um jede Tageszeit Hunderte von beschaulichen Arabern vor ihren kleinen Tassen sitzen, den buntgeschmückten Sauger der Wasserpfeife zwischen den breiten Lippen. Wie lang denn, ihr ganzes Leben lang sitzen sie da, rühren sich kaum, lassen sich auf dem trägen Strom des orientalischen Lebens von der Wiege zum Grabe gleiten; unter ihren schweren und immer schwerer werdenden, mit dunklem Kaffeesatz, süßem Fett genährten Leibern rinnt das Leben fatalistisch dahin, im Wasserbehälter ihrer Pfeife kräuselt sich zuweilen die trübe Flüssigkeit, das ist der einzige Beweis dafür, daß der Raucher lebt.

Draußen, nicht weit von dem Kaffeehaus, in einer der kleinen Winkelgassen, sitzt in einer Runde von schweren schwarzgewandeten Weibern, die in ihren Binsenkörben allerlei verkäufliches Zeug feilhalten, eine alte Negerin mit einem schwarzen Tuch, das ihr, durch eine kleine Röhre von der Stirn an gehalten, von den Augen abwärts über Nase, Mund und Kinn fällt. Jeden Tag, an dem ich mit Ernst hier vorüberkomme, sitzt die Alte vor ihrem Korb, in dem ein halbes Dutzend 23 Kaurimuscheln liegen, sechs kleine elende Kaurimuscheln. Es ist eine lächerliche Form des Bettelns, eine elende Finte. Wer in aller Welt soll der Alten ihre Muscheln abkaufen? Wenn man ihr einen Piaster in den Korb wirft, trifft einen ein Blick aus den alten Augen im Ausschnitt des schwarzen Tuches. Die Augenwinkel sitzen voll Fliegen. So elend ist die Alte, daß sie gar nicht mehr daran denkt, die Tiere aus ihren Augenwinkeln zu verscheuchen.

Durch die Muski hinkt ein alter Bettler. Ganz in Lumpen gehüllt, schlurft und hinkt er an uns vorbei. Seine dürre Hand, dürr und dunkel, wie aus Ebenholz geschnitzt, wie die erhobene Hand jener Pharaonenmumie im Museum, mit Nägeln aus altem Elfenbein, streckt er uns entgegen. Die Menge stößt sich an ihm, an uns vorüber, weicht aber dem Alten ehrerbietig aus. Er hat auf seinem braungrauen Schädel einen grünen Turban sitzen, der besagt: der Alte hat das Grab des Propheten in Mekka besucht. Sein Grab, sein eigenes – lebe hundert Jahre, alter Freund! – es wird eine besondere Farbe erhalten. Die beiden Pfosten zu Häupten und zu Füßen seines Grabes, auf denen der Engel des Guten und der Engel des Bösen sitzen und um die Seele des Pilgersmannes disputieren werden, sie werden eine Tönung erhalten, die dem Auge Allahs wohlgefällig sein soll am Tage des Gerichts. Wie ich ihm, zugleich mit Ernst, meine Münze in die alte Hand drücke, hebt er beide Hände beschwörend auf und segnet meinen kranken Arm und die Binde, in der ich ihn trage, mit einem Gemurmel aus dem Koran.

Wunderbar ist es, in den Gängen des Bazars herumzugehen, vor den kleinen abseitigen Höfen stehenzubleiben, die sich überraschend vor einem auftun. Eine Werkstatt öffnet sich vor dem Blick wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. In kleinen muffigen Schusterhöhlen werden zierliche Saffianpantoffelchen geklopft, mit zierlichen Silbertroddeln auf dem Schnabel geschmückt, daneben hängen an die Wand gereiht die schweren derben Pantinen der Wüstenwanderer; sprühende Öfchen der Gold- und Silberschmiede spritzen Funken hinaus in die Allee, da hämmert ein Dutzend feiner Werkzeuge silberne Intarsien, Koransprüche, zierliche Buchstaben in große Metallplatten; Läden der Geldwechsler neben den anrüchigen, mit Flitterkram wie Bordellsalons geschmückten Barbierstuben; und eine Reihe von Werkstätten, in denen 24 die Kopfbedeckung der Moslems, der rote Tarbusch, über große Messingformen geschlagen wird, sauberes Metier. Weithin duften die Kuskusküchen mit breiten Fladen aus Weizenkuchen und Gemüsehäcksel, hohen Gläsern mit grellroten, violetten und grünen Einmachfrüchten, schwer zu verdauenden Leckerbissen aus Fett, Honig und Fruchtsaft. Die tausend kleinen Zellen, Kojen, Rattenlöcher, Nischen, Durchlässe, Höfe und teppichbehängte halbdunkle Läden, aus denen der unheimlich verästelte Bazar besteht, sie bergen ein wundervoll gleichmütiges, freundlich-heiteres, abgründig unheimliches, noch nicht erkanntes, vom Europäer kaum erforschbares Volk, dessen Leben vielleicht nur in der Vergangenheit, im tiefen Düster verschütteter Jahrtausende, ein Leben nach unserem Maßstab genannt werden könnte. Mit einem Seufzer, müde, und je müder ich werde, um so verzagender, nehme ich Abschied von dem Volk der emsig auf Metall Klopfenden, von den mit roten Ambrarosenkränzen vor ihren kleinen Läden mit untergeschlagenen Beinen dasitzenden würdevollen Händlern, von dem labyrinthähnlichen Bazar und der Muski. Nicht werde ich, wie's meine Absicht war, gemächlich und sorglos mich immer weiter nach Sonnenaufgang zu durch Afrika, Kleinasien, die Wunderwildnis Ceylons, des Edengartens, durch Indien, Burma nach dem Ziel, dem unermeßlichen Sagenland China, treiben lassen können! . . .

Stillestehen an der Schwelle des Bazars, Erkennen der tiefen Verbundenheit – bei allem europäisch zerrissenen, schwankend eigenwilligen, rasch aufschießenden, rasch erlahmenden Trieb des intensiv lebenden Westmenschen – dieses unerklärliche, sichere und gewaltsame Gefühl des Hierhergehörens, der Verbundenheit mit diesen dahier, diesem semitischen Urvolk – Zugehörigkeit zu diesem rätselhaften, unbeweglichen, sich nur selten regenden, verfallenden, Gott verfallenen, kaum mehr noch und doch ewig lebenden Volk, das von seinem Gottglauben dermaßen beherrscht ist, daß es seine Bedrückung, Sklaverei als Kolonialvolk vielleicht als etwas kaum in Frage Kommendes, Nebensächliches, die Oberfläche der Seele nicht einmal von fern Streifendes erduldet . . .

Sehnsucht, sich hier hineinzufinden; hinunterzugelangen zu den Urgründen dieser Gesetze des Friedens, die eigene Unrast, das angeborene Unglück draußen zu lassen, abzustreifen wie das Schuhwerk, 25 ehe man in die Moschee tritt; die heitere unirdische Versunkenheit in den Willen, den unerforschbaren, zu erlangen, die verschüttet irgendwo auf dem Grunde des Semitenglaubens, ob ihn nun ein Jude oder Mohammedaner besitzt, versteckt liegen muß!

Ach, die Welt als ein leichtes Gekräusel um die dunstige Flüssigkeit im Kugelglase empfinden können, als leichten Dampf, emporquirlend zu den Nüstern des geruhigen Rauchers im Mittelpunkt des labyrinthähnlichen Bazars!

 

Drüben, jenseits des Nils, ruhen die klotzigen Steinhaufen im Vollmondschein. Die Sphinx enthüllt bei Nacht ihr geflicktes, mit Zement aufgefrischtes, mit roter Ziegelfarbe künstlich nachgeschminktes Angesicht. Die alte Allerweltshure muß sich von Zeit zu Zeit diese Toilette gefallen lassen, sonst ist sie dem Fremdengesindel, das sich um sie drängt, nicht mehr präsentabel. Die Sphinx, um die die Touristenschwärme auf Kamelrücken, in Automobilen, Eselkarawanen, Fußgängertrupps unaufhörlich kreisen, die alte Sphinx mit ihrer eingeschlagenen Nase ist heute bei Vollmond gut genug, um dem Gelichter in Smoking und Abendtoilette, das drüben im kostspieligen, jazz-durchflirrten Mena-House wohnt und sich langweilt, den in kostbar bemalte Schals und Silberkleider gehüllten, in Seidenschuhen dahertrippelnden amerikanischen Millionärsfrauen und breitschultrigen englischen Sudanoffizieren als Ziel des Abendspaziergangs, mystischer Rendezvousort herzuhalten. Das ironische Geschmeiß der Fremdenführer, Kameltreiber, Wahrsager, Lustknaben, Verkäufer von falschen Antiquitäten, alten Zähnen aus Pharaonenmäulern, der Erpresser und Kuppler, das sich hier bei Tag und bei Nacht um die Fremden herumtreibt, dieses backschisch-gierige Gesindel, das ist auch noch Orient. Der Fremde erkennt, daß es sogar einen notwendigen Bestandteil dieses Orients vorstellt, wie das Fliegengewimmel, dessen man sich durch Netze, Wedel, Klappen und Ventilatoren erwehrt. Mit Ausrufen der Begeisterung schmeichelt sich das an die Fremden heran, es trachtet seinen Backschisch auf der Stufenleiter der Einschätzung der nationalen Herkunft des Fremden vom englischen »wonderful« bis zum deutschen »pyramidal« herunter zu ergattern, bis es dann mit einem Berliner Fluch die Hoffnung aufgibt und, da die Nacht schon vorgeschritten ist, schimpfend 26 und untereinander lärmend den Abhang zu den Nildörfern hinuntersteigt.

Um die Sphinx, die großen Steinhaufen, hinter denen der Mond verschwunden ist, wird es stille. Unsere Begleiter sind den Weg nach Mena-House vorwärts gegangen. Jetzt wollen wir den Fleck suchen, sage ich Ernst, den Ort, vor dem sich das Wunder enthüllt. Vor der zweiten, der nach Chephren benannten Pyramide finden wir ihn endlich. Hier, flüstere ich dem Kameraden zu, hier.

Und da hören wir, wie aus der Pyramide, aus dem Innern des riesenhaften Steinhaufens, ein ungeheures Rasseln, Kettenschlagen, Gebrüll gemarterter Stimmen in die stumme Mondnacht zu uns herausdringt. Aus dem Innern der Pyramide wahrhaftig, als lägen all die Leiden, das Elend der maßlosen, jahrtausendealten Sklaverei des Menschengeschlechtes unter diesen Steinen Mizraims begraben, eingebacken, aufbewahrt dem Gedächtnis fernster Geschlechter, nur den Seelen, den empfindlichen Sinnen der Dichter, der Leidenden, der für die Menschheit Kämpfenden, Hoffenden hörbar.

»Hören Sie?« frage ich meinen Reisekameraden. Aber ich brauche gar nicht zu fragen. Ich sehe es an Ernsts Augen, seinem lauschenden bewegten Angesicht, daß sich ihm die tiefe mystische Sprache dieses Kettengeklirrs, dieser Schmerzenslaut der verschütteten Völker, der von Urbeginn mißbrauchten, beladenen Menschheit geoffenbart hat. Hier innen, in diesem Phänomen, das sich dem Gehörsinn mitteilt, lebt das Schicksal des Orients, des tiefen mystischen Orients, in dem, ungleich unseren westlichen Begriffen, das Wort Atmen und das Wort Leben, das heißt: im Göttlichen und unter Menschen sich bewähren, zu einem Synonym der Sprache zusammengeschmolzen ist.

 


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