Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Adyar, das lichte

Der kleine Fluß Adyar ergießt sich im Süden der Stadt Madras in die Bai von Bengalen. Etliche Kilometer vor seiner Mündung verbreitert er sich zu einem See; bei niederem Wasserstand werden zwischen den Ufern seichte Inseln sichtbar. Arme Fischer waten bis an den Hals im Wasser und schleppen schwere Netze durch die Flut an die Uferböschung heran.

An den Ufern erheben sich Villen, Klubhäuser, Maharadschapaläste; üppige Gärten neigen sich zum Wasser nieder; das blendende Weiß der Gebäude schimmert durch bunte Blumenboskette und das satte Grün der Palmen und Tamarinden hervor.

An einer Stelle des rechten Ufers erblickt man von weitem schon einen langgestreckten, mit Säulen und Terrassen auf das Wasser blickenden, sich hart am Rande des Wassers im strömenden Element spiegelnden Bau. Er unterscheidet sich von den anderen Palästen dadurch, daß 122 er nicht weiß bemalt ist wie die Gebäude an dem gegenüberliegenden Ufer; seine Mauern und Säulen sind mit vertikalen Strichen in den heiligen Farben der Hindutempel, Elfenbeinweiß und Terrakottarotbraun, getüncht.

Dies ist das Hauptgebäude der Kolonie Adyar, Zentrale der weltumspannenden Theosophischen Gesellschaft, die, 1882 von dem englischen Hauptmann Olcott und der Russin Blavatska ins Leben gerufen, heute 1540 Logen mit 41 500 Mitgliedern in allen Ländern des Erdballs besitzt und deren Präsidentin Dr. Annie Besant ist. –

 

Während der Wagen durch die steinerne Tempelpforte, die das traditionelle Ornament, den mit dem Elefanten kämpfenden Drachen zeigt, in den wunderbar blühenden Garten einfährt, zähle ich mir her, in wie vielen ästhetisch-religiösen Kolonien ich in meinem Leben schon verweilt bin, hospitiert habe; in Europa, Kleinasien, in Amerika vor allen Dingen; und ich bereite mich vor, hier die gleiche chemische Formel von ungleich dosierten seelischen Elementen vorzufinden: eitle Weltflucht, sexuelle und ästhetische Abenteuerlust blasierter und wohlhabender Snobs und Hysteriker – all das aufgeregt und gierig um einen kleinen stabilen Kern edler Gesinnung und ernster Arbeit kreisend – Menschen, die suchend, rat- und rastlos nach dem rechten Weg fahnden, binnen kurzem enttäuscht und unbefriedigt wieder auseinanderstieben.

(Es sei gleich im voraus bemerkt, daß diese Diagnose auf Adyar nicht zutrifft. Es wird in dem Generalstab der theosophischen Bewegung im allgemeinen wissenschaftliche, organisatorische und auch unmittelbar praktische sozialpolitische Arbeit geleistet. Übrigens kann es in den hier folgenden Aufzeichnungen keineswegs meine Aufgabe sein, Bedeutung und Arbeitsprogramm einer so weltbekannten Organisation auch nur fragmentarisch zu erörtern.)

Die große Halle des Zentralgebäudes, hellgelb und weiß, mit kameeartigen Reliefs verziert, die Embleme und Gestalten sämtlicher Religionen der Welt darstellen, bewahrt in einer Nische das lebensgroße Doppeldenkmal der Begründer: Olcotts, eines bärtigen alten Herrn, der neben Madame Blavatska steht – diese sitzende Figur weist die durch das bekannte Porträt jedem Theosophen vertrauten Züge einer 123 mit saugendem Blick vor sich hinstarrenden, in die Breite gequollenen ältlichen Kleinbürgerin oder Bauersfrau von slawischem Typus auf.

Tempelblumen liegen auf den Sockel des Denkmals hingebreitet wie in den Hinduheiligtümern zu Füßen der Götzenbilder. Oben, zwischen den Kapitälen der Säulen, der Spruch:

»There is no Religion higher as Truth.« Indes: truth! In allen Kolonien, die ich sah, war dieses Wort, mit irgendeinem verwandten Begriff in nähere Beziehung gebracht, an die Wände gemalt . . .

Ich warte auf den Vizepräsidenten, dem ich meine Karte geschickt habe, und sehe mich derweil in der berühmten Adyar-Bibliothek um, die an die Zeremonienhalle stößt.

Die Adyarbibliothek, einzig in ihrer Art, dunkel und feierlich, mit vielen köstlichen Bronzen und Alabasterfiguren Buddhas und der Hindugottheiten geschmückt, wird vom Panditji (Gelehrten) Mahadewa Sastri verwaltet. Sie enthält einen noch ungehobenen Schatz von etwa 12 000 Manuskripten, die aus Ceylon, Indien, Burma und Tibet zusammengetragen worden sind. Uralte Schriften, in der Palisprache abgefaßt, Gespräche Buddhas enthaltend, in halb zerfallene Talipotstreifen geritzt; Kassetten aus Tibet, die auf länglichen Holzplatten mit Lack und Gold wunderbar gemalte Gesetzes, Zauber- und Beschwörungsformeln, Bilder und symbolische Ornamente, heilige Weisheit aufbewahren. Adyar gibt zur Zeit den V. Band seiner Upanischadensammlung heraus, sowie einen neuen der Udana, d. h. der Gespräche Buddhas, aus Pali ins Englische übertragen.

Der Vizepräsident Pandit Jinajaradasa führt mich in dem weitläufigen Bau herum, in dem gebaut und gezimmert wird; dann gehen wir in den weiten, märchenhaft schönen Garten hinaus, in dem jetzt große, strohgedeckte Hallen errichtet werden, für etwa 2000 Menschen, die hier um die Weihnachtszeit zum Kongreß der Theosophen zusammenströmen werden. (Aus Deutschland und Österreich erwartet man kaum mehr als vierzehn.)

 

In den folgenden Tagen habe ich wiederholt Gelegenheit, mit den Insassen der Kolonie und ihren Arbeiten bekannt zu werden. Insbesondere ist es Dr. James H. Cousins, Leiter der Brahmawidi-Aschram, der (provisorischen) Universität für brahmanische Wissenschaft, ein 124 Irländer von Geburt, der mir Wesen und Arbeit der Kolonie erläutert. –

Grundlage ist die Lebensführung der hier vereinigten Menschen. Sie bedingt: Reinheit des Körpers; Einfachheit des Denkens; Selbstbeherrschung; Versenkung; ernsthaftes Streben nach dem höchsten Ziel: Wahrheit, Toleranz, d. h. der Liebe zu allem Erschaffenen. Dies sind die Grundbedingungen, aus denen die drei Hauptprinzipien der Theosophen entspringen.

Schaffung eines Kristallisationspunktes für die allgemeine Verbrüderung aller Menschen, ohne Unterschied der Rasse, Hautfarbe, des Geschlechts, der Kaste, der sozialen Schichten;

vergleichendes Studium der Religions-, der philosophischen, der Realwissenschaften;

Erforschung der verborgenen Gesetze der Natur und der im Menschen schlummernden Kräfte.

Diese Grundprinzipien der theosophischen Bewegung bezeichnen ihre Befolger als den Weg zur Erlangung der alten Weisheit, die die einheitliche Quelle aller Religionen, das Rätsel des Seins umschließt; als die Lehre, die den Tod überwindet; denn der Tod ist nur ein Tor zu neuem, strahlenderem Dasein, zum Reich des Geistes, dem Körper und Seele als Diener untertan sind.

Adyar ist kein Kloster, kein brahmanisches noch weltliches. Auch keine Siedlung von der zweifelhaften, mit Fad und Reklame reichlich durchtränkten amerikanischen Art von Point Loma, dem kalifornischen Adyar. Alle Anwesenden arbeiten; die meisten sind aus ihren heimatlichen Logen hierhergekommen, hatten daheim irgendeine Funktion in ihrem Kreise, wirken literarisch in den Zeitschriften der Gesellschaft oder bereiten sich auf Lehrtätigkeit vor, indem sie das Mutterland Indien bereisen, sich an der Atmosphäre Adyars kräftigen. Bei Tisch sind wir sechzehn Personen, zehn Nationalitäten. Jeder lebt auf eigene Kosten, muß sich, nachdem Miß Besant sein Kommen genehmigt hat, zu einem sechs Monate währenden Aufenthalt verpflichten. Wohnung im gemeinsamen »europäischen« Hause, die vegetarische Beköstigung, Teilnahme an den Kursen usw. erfordert eine monatliche Ausgabe von etwa einhundertfünfunddreißig Rupien, d. h. zweihundert Mark.

Mir gegenüber sitzt ein florentinisches Ehepaar, ich sehe einen 125 Mexikaner von vornehmem Äußern, Halbblut, eine Freiluftdänin, Inderinnen, Franzosen, Engländer. Es sind zurückhaltende Menschen von gemessener Freundlichkeit. Auch etliche hungrige Augenpaare flackern hier und dort; nervöse Hände, die nach dem Mahl den Briefkasten nach etwa eingelaufener Post, das heißt nach Zeichen des nicht aufgegebenen Zusammenhangs mit der heimatlichen Welt durchstöbern werden.

Den Tag leitet das Bad im Adyar ein; Körperübungen folgen; gemeinsames Gebet in indischer, dann in englischer Sprache. Die Vortragskurse werden zumeist unter dem herrlichen, vielwurzeligen Banyanbaum im Garten abgehalten, dem heiligen Baum der Buddhisten. Frühstück und Abendessen vereint die Mitglieder der Kolonie, unter denen aber, wie mir gesagt wird, kein enger persönlicher Zusammenhang besteht. Jedenfalls wird er nicht gesucht. Als ich Dr. Cousins frage, ob sich etwa unter den Anwesenden spiritistische Zirkel gebildet hätten (die Frage liegt nahe, ein Punkt der Richtlinien betont ja die Erforschung okkulter Kräfte im Menschen), wird mir die Antwort gegeben, daß solche Zirkel nicht bestünden; man konzentriere sich auf wissenschaftliche Arbeit. Indes, die meisten der Anwesenden kennen sich kaum noch, sind erst seit kurzer Zeit beisammen.

Beim Einfahren in den Garten habe ich eine Anzahl junger indischer Schüler im Alter von acht bis zwölf Jahren unter den Bäumen in Scoutsuniform allerhand Exerzitien vollführen sehen. Dr. Cousins will es nicht wahr haben, daß diese Theosophenscouts, angehende Pfadfinder in der Dschungel brahmanischen Wissens, im Grunde nichts anderes vorstellten als die von Baden-Powell für die nächsten Kriege des imperialistischen England dressierten kontinentalen Jungmannschaften. Sie sollen, so sagt Dr. Cousins, sich durch ihre Übungen den gesunden Körper schaffen, in dem der gesunde Geist, usw. Das Training habe manchen schmächtigen Knabenkörper bereits so weit gestählt, daß mit ihm allerhand Kunststücke auszuführen waren, z. B. steifes Liegen auf zwei Stuhllehnen, unter dem Nacken eine, unter den Fersen die andere (hmhm!) – aber auch praktische Arbeit, wie Aufhalten von Waldbränden durch Umhauen von Bäumen –, im übrigen brauche man in Indien ja keine Schutztruppe vorzubereiten, die Krieger und zum Kriegshandwerk Prädestinierten bildeten eine Kaste für sich. (Kein besonders einleuchtendes Argument.)

126 Nun ist aber Adyar ein Zentrum nicht allein für wissenschaftliche Arbeit, sondern auch für politische, und zwar für eine recht bedeutungsvolle, deren im wesentlichen pro-indischer und Homerulecharakter allerdings dadurch gemildert ist, daß Adyar das Verbleiben eines freieren Indiens im englischen Imperium zur Bedingung stellt, über die nicht gestritten werden darf. (Die national-indische, die Swarajbewegung, über die in anderem Zusammenhang gesprochen werden muß, will dagegen das Land ausdrücklich außerhalb des Empire gestellt wissen.) Immerhin hat die Kolonie während des Krieges manche Verfolgung von seiten der Regierung erduldet; Annie Besant war eine Zeitlang interniert, bis sie sich schließlich durch ihre Haltung gegenüber Gandhi bei den Swarajisten ebenso unbeliebt machte, wie sie unter den englischen Nationalisten verhaßt war.

Die weiblichen Arbeiter der Bewegung haben, in dem zielbewußten Streben der Theosophischen Gesellschaft nach einer Vereinigung des englischen und des indischen Menschen in gegenseitigem Verstehen und Liebe, grundlegende Reformen in bezug auf die Stellung der indischen Frau durchgesetzt (besonders Mrs. Cousins hat in dieser Sache ihre Verdienste); ihr Werk ist es, daß die Frauen in drei indischen Staaten das Stimmrecht erhalten haben, in Stadtverwaltungen, Gerichtshöfen, im Jugendgericht, in Erziehungs-, Hygiene- und ähnlichen Kommissionen sitzen, eine sitzt sogar im Nationalkonvent; und trotz des Mißtrauens, das die Regierung den Theosophen entgegenbringt, sind es durchweg Mitglieder der Th. G. (also kulturell hochstehende Frauen), die zu diesen Ämtern zugelassen wurden. –

Ich habe mir in der Buchhandlung von Adyar (merkwürdig, merkwürdig, was für englischer Unterhaltungsschund da feilgeboten wird!) eine Broschüre der Besant, ein kurzes Exposé über die Erziehung der unterdrückten Klassen, gekauft. Ein durchaus revolutionär anmutendes Elaborat dieser genialen Frau. Wäre sie nicht Engländerin, d. h. hätte sie nicht das nationale Brett des Inselbewohners vor dem Kopf, litte sie nicht an der typisch englischen Überschätzung der äußeren Formen des täglichen Lebens, wer weiß, sie dürfte Kommunistin genannt werden.

Ringsum, in dem wunderherrlichen Garten mit den weiß- und rotbemalten Bauten und Bungalows, dann weiter draußen im Nachbarort 127 Guindy, sind Schulen und Internate, in denen Kinder und Jugendliche nach den Prinzipien der theosophischen Brüderlichkeit, aber in all den üblichen Materien des Mittelschulwissens und der neuen Handwerksschule unterwiesen werden. Montessori-Kindergärten. Die Olcott-Schule für Kinder der umwohnenden Armen tiefster Kaste.

 

Am frühen Morgen des dritten Tages fahre ich durch das im Nebel des Monsungewitters dampfende Madras hinaus nach Adyar, um die Vorträge zu hören, die für diesen Morgen angesetzt sind. Vorige Woche hätte ich eine Reihe interessanter Darstellungen miterleben können, die sich um den Begriff der Substanz gruppierten. Ich will diese Vortragsreihe hier aufzeichnen; sie gibt einen Begriff von der Arbeit dieser Akademie brahminischen Wissens. Nach einem einleitenden Vortrag über das Wesen der Substanz in hinduistischer Auffassung behandelten die Dozenten: die Substanz des menschlichen Körpers, der Pflanze, der Musik, der Literatur; die Spektralanalyse; die Rolle der Substanz in der christlichen Offenbarungslehre; transzendentale Erklärungen des Wesens der Substanz; die übersinnlichen Substanzen und ihre Erklärungen durch die Theosophie. (Eine frühere Vortragsreihe behandelte im Zusammenhang die Glaubensgebiete des Zoroaster (des heutigen Parsismus), die chinesische Mystik, Ursprung und Wachstum des Islam, die Literatur des Sanskrit, der Tamilen, Kunst und Religion der Ägypter.)

Heute sprechen Dr. Cousins und ein junger Inder, Venkatachalam, Sekretär der Aschram, über früheste buddhistische Architektur in Südindien (aus dem, wie überhaupt dem ganzen indischen Kontinent, der Buddhismus vor dem Hindu- und Mohammedanismus zurückgewichen ist) und über die Aufeinanderfolge der Stilarten in der Architektur der heiligen Stätten Südindiens, besonders des Deccangebietes.

Da der Regen mit großer Gewalt einsetzt, versammeln wir uns nicht unter dem heiligen Baum, sondern in einer offenen, strohgedeckten Halle in der Nähe eines kleinen künstlichen Lotosteiches, vor dessen Pavillon, wie mir versichert wird, bei schönem Wetter ganz reizende »five o'clockteas« abgehalten zu werden pflegen.

In einem Intervall von Sonnenschein übt die dänische Theosophin mit einigen Mitgliedern der Kolonie im Freien mensendieksche 128 Bewegungen. Aber schon kommen die Vortragenden, Dr. Cousins und der junge, temperamentvolle Inder, und wir betreten die Halle.

Nun stehen nacheinander zwei alte Männer in fremdartiger indischer Tracht auf und rezitieren in mir unverständlichen Idiomen Sätze, die wie Beschwörung oder Gebet klingen; zuletzt erhebt sich Dr. Cousins, um in englischer Sprache das höchste Wesen, die Eine Kraft, um Reinheit des Körpers und der Seele und um Heiligung des Wunsches nach Wissen und Weisheit anzuflehen. Während alle Augen zu Boden gerichtet sind, betrachte ich die beiden Männer, Cousins, Venkatachalam, diese beiden wunderbar klaren, hoch entwickelten Exemplare der arischen Menschenrasse. Hell und zarthäutig, rosa, blond und mit früh ergrautem seidenweichen Haar der Ire, ein beruhigter, durchsichtiger Mensch, mit heiter-gütigem Blick, der gern in die Ferne sieht, mit harmonisch meditativer Ausdrucksweise; das schmale, jünglinghafte braune Adlergesicht des Inders, zuweilen in einem Aufleuchten hingerissen, offenbar durch die naive Freude an der Mitteilung dessen, was er weiß, und der Wirkung, die er auf die fremdrassige Hörerschaft ausübt, die seine Befangenheit rasch überwindet, fortstreicht. –

Aus den Ausführungen Cousins berührt mich eine merkwürdige Gegenüberstellung des westlichen und östlichen Schönheitsbegriffs sonderbar, weil sie sich in diametralem Gegensatz zu meinem Erlebnis in Madura befindet! Die Venus von Milo, erklärt Cousins, sei Schönheit um der Schönheit willen (das verächtliche »l'art pour l'art« des religiösen Menschen!), Hindukunst aber stelle die Schönheit (er sieht also Schönheit in der Hindukunst; ich sah nur spärliche Einzelheiten aufzucken, im barbarischen Gesamtbild untertauchen!) bewußt in den Dienst der Idee, sie sei Ausdruck einer Gläubigkeit und wolle nichts anderes sein. Diese Gegenüberstellung beweist mir, auf welche Weise diese weißen Menschen dahier ihr Denken und Fühlen mit östlicher Auffassung durchtränkt haben. So sehr haben sie kapituliert, sind sie ihrer Heimat entwurzelt, daß der Gotteskult der Griechen durch die Darstellung des harmonischen Ebenmaßes menschlicher Körperformen ihnen gleichgültig erscheint und sie das Dämonisch-Verzerrte in der befremdlichen Auffassung auch der anmutigsten weiblichen Hindugötter, wie der Gattin Schiwas, Parvati, oder 129 des weiblichen Gegenstücks Wischnus, der Göttin des Reichtums, Lakschmi, ja sogar der Geliebten Krischnas, Radha – der Verkörperung der Liebe der Seele zu Gott –, vollkommen übersehen!

Eine weitere Bestätigung dieser östlichen Orientierung gewährte die Erzählung, die Cousins von einem Erlebnis im nordöstlichen Indien in seinen Vortrag einflocht: in der Dagaba eines kleinen entlegenen Tempels war ein Goldkasten ausgegraben worden, der einen Stirnknochen Buddhas enthalten sollte. Der Kasten wurde Cousins, dem Europäer, in die Hände gegeben, eine besondere Auszeichnung, und seines Geistes bemächtigte sich eine Vision: ein Lichtkegel schien von oben herab auf seinen Scheitel und das Behältnis zwischen seinen Händen zu fallen, und alle seine Gedanken, sein ganzes bewußtes Ich waren durch diese Helle im Nu fortgeschwemmt. In der Nacht hatte er dann einen Traum: er flog und wunderte sich beim Aufwachen über die irdische Schwere und Unfähigkeit der Menschen, sich frei und leicht vom Boden aufzuschwingen. – Wichtiger, als was er über sein Thema auszusagen hatte, schien mir diese Probe zu sein, auf welch wunderliche Art östliche Vorstellungswelt einen hochentwickelten europäischen Intellekt wie den primitiven eines gläubigen Orientalen bis zum Trance durchdringen kann!

 

Im Monsunwolkenbruch nach Madras zurück.

Sonderbares Stilgemenge, Stildurcheinander. Colombo war eine Verkuppelung des Orients mit Amerika, hier aber, in den breiten, pompösen Anlagen, Hydeparks, Whitehalls, Mansionhouses, mächtigen und Macht repräsentierenden gotisch-maurischen Verwaltungs- und Direktionspalästen angloindischer Aktiengesellschaften und Regierungsgebäuden: eine Apotheose des viktorianischen Zeitalters – zugleich aber des unstillbaren Heimwehs des Kolonialengländers nach dem Mutterland und der Hauptstadt des Weltreichs. All das veraltet, zopfig, irgendwie nicht mehr unserer Zeit angehörend.

Eine Prozession – Gedränge um einen Karren, auf dem Hindugöttinnen von einem Tempel zum anderen spazierengefahren werden, hält unsern Autoomnibus auf, der mit gewaltsamem Tuten den Trommel- und Flötenschall um den Karren übertönen, sich Platz zum Weiterfahren schaffen will. Einen Augenblick lang hat es den Anschein, als 130 sollte unser Vehikel von den mit Fäusten und Stangen wild auf uns eindringenden Schiwagläubigen umgeworfen und in die breiten Pfützen niedergetreten werden. Aber wir entkommen im letzten Augenblick geschickt durch eine Seitengasse.

Wie wir vor dem Aquarium halten, hat der Monsun aufgehört. Entzückend liegt im blauen Licht die Bai von Bengalen vor mir. Einen letzten Gruß, rasch, ehe ich Madras verlasse, euch, Fischen, Molchen, Schlangen und Eidechsen, Schildkröten und Krokodilen, Gotteskreaturen von unerhörter Pracht, derengleichen das Auge nie gesehen hat!

Ein Fisch schwimmt daher, ganz aus orangefarbenen und purpurroten Fetzen zusammengeflickt, er schwimmt nicht, er weht durch die Perlen der prickelnden Kohlensäure im Bassin. Der Holocanthus, violett und malvenfarbig gemustert wie ein Sofapolster im Boudoir einer Filmdiva. Schwarzgelbe melancholische Karpfen, an die ehemalige k. k. Armee erinnernd, neben riesigen aufgequollenen Warzenfischen, die mit breit schmatzendem Maul und zynisch hängender Kapitalistenunterlippe an die Inflationszeit gemahnen. Zwei verwandte Arten: flache, schwarzweiß gestreifte Fische, wie halbierte Schmetterlinge anzusehen, der horizontal liniierte Therapon, der vertikal liniierte Heniochus, in getrennten Bassins selbstverständlich, sie würden sich, zusammengesperrt, in kürzester Zeit gegenseitig aufgefressen haben.

Jawohl, Gotteskreaturen auch sie, Geschöpfe und Inkarnationen der ewigen, einigen Substanz, mit unbekannten, aber ergründbaren Instinkten, jedenfalls mit bestimmten Begriffen und Vorstellungen von Gott in ihren Glaskästen umherschwimmend.

Hier aber, hier vor mir, in der Mitte des Aquariums, mein Liebling: der Gupati.

Einschichtig, von allen verlassen, kreist er in seinem trüben Tank umher.

Hallo, Gupati, was hältst du vom Schönheitsbegriff der Griechen? Was hat es mit dem Ausdruck der Gläubigkeit in der Darstellung der hunderttausend Elefanten und Affen und Drachen und Lingamgötzen der Hindu auf sich? Sollten am Ende die Theosophen recht haben, die alle Religionen auf eine einzige, den Generalnenner sozusagen, zurückzuführen gedenken, durch sittliche Lebensweise, Konzentration und dreisprachiges Gebet vor den Morgenübungen?

131 Grau und mit reichlich zerschundenen Flossen, ein stachliges Biest, daher allein, schwimmt der Gupati stumm in seinem Tank auf und nieder. Zuweilen rennt er mit dem Schädel, einem knochig querköpfigen Gebilde, gegen die Wand – ich kenne das; leb' wohl, Bruder.

 


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