Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Blick auf China

Einige Tage, ehe ich Berlin verließ, war ich mit jungen Chinesen von der Kuo Min Tang-Partei beisammen, die mir, mit anderen Instruktionen, den Rat gaben, falls ich in China als Europäer in gefährliche Situationen geriete, die Zauberformel auszusprechen: »Uossete ko schen!!«

Ich hatte dann noch in Berlin Gelegenheit, mit anderen jungen Chinesen zusammenzukommen, denen ich berichtete: ich fühlte mich jetzt ganz, aber ganz sicher, denn chinesische Freunde hätten mir die Zauberformel mitgeteilt, die mich aus allen gefährlichen Tumulten und Straßenaufläufen, in die Europäer nicht ohne Gefahr verwickelt werden können, retten würde: »Uossete ko schen!«

Die jungen Chinesen sahen mich fragend an: »Was wollen Sie mit diesen Worten sagen?« Erstaunt antwortete ich: »Nun, ich bin ein Deutscher!« – »Ach so,« sagten die jungen Chinesen, »Sie sind ein Deutscher. Aber das ist ja ein ganz ungebräuchlicher Dialekt. Was waren das für Leute, die Ihnen diese Worte beigebracht haben?« – »Ich glaube: Cantonesen«, sagte ich. – »Ja, wir sind aus Schanghai, bei uns heißt das:« – und sie sprachen mir vier ganz andere Worte vor.

Ich erzähle diese kleine Anekdote und könnte sie noch mit vielen Parallelen belegen; z. B., daß das Wort Fluß: »Kiang«, zwei Tagereisen nördlich bereits »Ho« heißt. Es würde aus diesen flüchtigen Aufzeichnungen, wenn ich sie multiplizieren würde, auch nur die Andeutung resultieren, daß China, dieses ungeheuere Reich, in viele Teile, Völkerschaften, Sprachgebiete gespalten ist, die voneinander so gut wie nichts oder nur Ungenaues wissen, denn ihre Sitten unterscheiden sich je nach dem Himmelsstrich, in dem die Menschen leben, so wie ihre Sprache, ihre Dialekte.

283 Indes: wie die Schriftzeichen, die Ideogramme, der chinesischen Sprache und Literatur ein Rückgrat, einen gemeinsamen Stamm für die verschiedenen Nervenstränge und Verzweigungen des riesigen Volkes bilden, so haben die Chinesen neben ihrem Religions- und Moralkodex auch noch ein starkes, zentrales, sie einigendes, eine erstaunlich heutige, das Volk einende Gesinnung empfangen, die die verstreuten Teile zu einem einzigen Gebilde, eben zu dem Reich und dem Volk zusammenschmilzt. So bezeichnet der Befreiungswille des Volkes, der Kampf gegen die Fremden den Anfang einer Kulturepoche, die gemeinsam mit den Völkern der westlichen Erde den Osten ergriffen hat und zu revolutionieren beginnt.

Die nervösen dekadenten Südchinesen, der starke grobknochige Nordchinese, die geringe Zahl der Gebildeten (kaum ein Prozent der Bevölkerung Chinas kann lesen, geschweige denn schreiben) und die ungeheuere Mehrzahl der wenig oder ganz und gar Ungebildeten, die Kulis, die kleinen Kaufleute, das Schiffervolk, die Landarbeiter, die Gelehrten, die Studenten, die Priester – alle eint derselbe Wille, sie alle sind gelehrige Schüler der Meister, die ihnen den Weg und die Methoden der Befreiung weisen – aber jenseits oder über diesen mechanischen Behelfen ist es die Idee, die große Zeitidee, die das ungeheuere Reich, die vierhundertundfünzig Millionen erfaßt hat und vorwärtsschleudert, empordrängt, den Pfad der Zukunft hinan. –

 

Das Problem des heutigen China ist, immer wieder muß das betont werden: es hat, gedemütigt durch die usurpatorischen Verträge, übermütige Bedrückung und durch nichts gerechtfertigte Bevormundung, die die auswärtigen Mächte jahrhundertelang auf das in asiatischem Nebel zurückgebliebene Volk ausübten, an der Wende dieser Zeit plötzlich die zwei aktuellsten Strömungen aus dem Westen, aus dem Osten wie durch einen elektrischen Kontakt durch seinen Körper schlagen gefühlt: von Osten, von Amerika her, den privatkapitalistischen Industrialismus, vom Westen, von Rußland her, die Politik, die diesen Industrialismus ökonomisch unschädlich macht, indem sie ihn aus der Hörigkeit einer geringen bevorzugten Schicht befreit und in den Dienst Aller stellt.

Vergeblich fahren die fremden Mächte mit ihren Kriegsschiffen 284 die Küsten und Ströme des großen China hinauf. Bessere, neuere, vollkommenere Waffen gründen heute nicht mehr die Macht, befestigen nicht mehr das Vorrecht einer Nation über die andere. Man kann heute eine Gesinnung nicht mehr mit Waffen unterstützen oder zum Siege führen. Das Zeitalter der siegreichen Idee ist angebrochen.

 

Ist nun China, das sich im Befreiungskampf gegen die Westmächte und die ihm aufgezwungenen Verträge befindet, fähig, den Kommunismus zu erfassen, aufzunehmen und durchzuführen? Schon Borodin in Canton beantwortete mir, wie ich das ausgeführt habe, diese Frage verneinend. Wichtig für uns, die wir die Schicksale der russischen Idee verfolgen, ist: wie weit kann durch den Anschluß Chinas an Rußland die russische Idee gefördert, der Bestand Rußlands und seiner Idee in der Welt gesichert werden.

Der Beitritt der de jure China zugehörigen Mongolei zur Sowjetunion, die undurchsichtige Lage der Mandschurei, die in kurzer Zeit zu einem Aufmarschgebiet Japans gegen China verwandelt werden und mit der Richtung nach Moskau Rußland aus seiner Reserve locken kann, ist in diesem Zusammenhang nur von sekundärer, sozusagen zeitlicher Bedeutung. Hauptsache und wichtig bleibt der Fortschritt der Idee in China.

Der Zopf des Chinesen, das Zeichen der Unterwürfigkeit, das die Mandschudynastie dem Volk aufgezwungen hatte, fiel und verschwand mit der Revolution. Aber andere Wesenseigenschaften und ihr Ausdruck sind dem Chinesen heute noch verhängnisvoll eigen, hemmen seine moralische Entwicklung, die Idee wird sie nur schwer bekämpfen und überwinden können. Diese Instinkte und Kräfte zu stärken ist heimliche Absicht und Aufgabe der fremden usurpatorischen Mächte, die in ihrem Fortbestand eine Stärkung ihrer Macht erblicken – genau wie aus der unterirdischen Schürung des ewig latenten Konfliktes zwischen Hindu und Mohammedanern den Engländern in Indien Gewähr für das Fortbestehen ihrer Macht erwächst.

Die wichtigsten reaktionären Instinkte des Chinesen sind: Habgier, grausame Mißachtung der Qual des Nächsten, Korruption und räuberischer Militarismus.

Es wäre Vermessenheit, nach einem Aufenthalt von drei Monaten 285 in den Hauptstädten Chinas solch apodiktisches Urteil zu fällen, würde man nicht auf Schritt und Tritt, durch eine Aufeinanderfolge von Erlebnissen und Erfahrungen, geradezu auf diese Wahrnehmung und ihre Bestätigung gestoßen. Wer die Chinesen aus ihren heiligen Büchern, die zugleich Moralkodex und Verhaltungsmaßregeln gegenüber dem Nächsten bedeuten, kennt, wird erstaunt sein, wie gründlich Religion und Moral heute dem Chinesen abhanden gekommen sind. Die Verehrung der Weisen, der Väter des chinesischen Moralbegriffs, ist nur mehr eine leere Form, ihr Inhalt längst verflüchtigt. Ein kluger Mann, Kenner Chinas, hat behauptet, daß der Chinese jede Religion der Menschheit annehmen könne, ohne seinem eigenen Glauben untreu zu werden, da ja die Begründer seines Glaubens gar nicht religiöse Führer, sondern Lehrer der Moral gewesen seien. Die Grundlagen der Gesellschaftsethik, die Fundamente, die sich noch am nächsten mit dem der Religion berühren könnten, nämlich Ahnenkult und Sinn für die Familie, sind, wie schon der Außenstehende leicht bemerkt, infiziert, unterminiert und zerrüttet durch eben jene Tendenzen des chinesischen Charakters, die ich als reaktionär im Vergleich mit dem Ethos der kommunistischen Religionsauffassung bezeichnet habe. Was soll man von dem vielgerühmten Familiensinn eines solchen Volkes halten, das die Geburt einer Tochter als schreckliches Unglück betrachtet, das an dem Rande seiner Städte und Dörfer Türme aufstellen läßt, in die man bei Nacht und Nebel oder auch am hellichten Tage neugeborene Kinder weiblichen Geschlechtes wirft, damit sie dort verwesen? Solche Türme existieren heute noch in China. Die Prozedur ist einfach. Ein Loch wie in einem Backofen klafft in der Turmmauer, durch dieses Loch wird das unerwünschte Kind ins Gemäuer geschoben. Es fällt auf einen kleinen Körper, der Stunden oder Tage vorher dort hineingeworfen worden ist. Der Vater, der auf solche Weise sein Kind loswerden will, tötet es ja nicht, sondern das Gewicht des neu hereingekommenen Wesens erstickt das darunter liegende. Das Gewissen ist damit entlastet. Wahrsager, Zauberer und Medizinmänner spielen im chinesischen Familienleben eine außergewöhnlich wichtige Rolle, die für sie auch sehr lukrativ sein kann. Sie bestärken die chinesische Familie in diesen die Macht des Männerstaats verkündenden Prozeduren.

286 Jene unglaubliche Grausamkeit, Empfindungslosigkeit des Chinesen gegenüber körperlicher (natürlich auch seelischer) Not des Mitmenschen hat seine Wurzel in seiner erstaunlichen Empfindungslosigkeit gegen den eigenen Schmerz. So läßt sich auch die Gleichgültigkeit gegen den leiblichen Tod erklären, zugleich mit dem Glauben an die Geisterwelt, der eins der hervorragendsten Merkmale des Chinesen ist. Auch die schüchternste Bekundung der Absicht, Hilfe zu leisten, die Not des Nächsten zu lindern, die Härte und Grausamkeit des Schicksals von einem leidenden Nebenmenschen aufzuheben, erregt Widerspruch und Spott des Chinesen, der sich dann sofort daran macht, diese ihn lächerlich dünkende Charaktereigenschaft des Fremden nach Kräften auszunützen und zu egoistischen Zwecken zu mißbrauchen. Wie oft habe ich es erlebt, daß Herumstehende in helles Gelächter ausbrachen, als ich, um meinem Kuli das Hinaufschleppen meines Körpergewichts über einen steilen Pfad zu ersparen, aus der Rikscha gestiegen bin, um erst wieder einzusteigen, wenn es bergab ging. Freunde berichteten mir von Beweisen unmenschlicher Grausamkeit im unteren Volke. Verunglückte einer der Kulis, Teilnehmer an einer Expedition, unterwegs, so wollten ihn seine Mitkulis ruhig auf dem Wege liegen und verrecken lassen; Sache des Europäers war es, sich seiner anzunehmen. Dann ließen sich die Kulis mit Stockstreichen zur Hilfeleistung treiben. – Bei Schlägereien steht die Menschenmenge interessiert und fühllos, ohne sportliches Interesse, neben den sich Massakrierenden, die schließlich geschunden und blutend zwar, aber ohne nennenswerte Wut auseinandergehen. Verursacht aber ein Europäer Blutvergießen unter Chinesen, dann verhält sich die Sache natürlich anders. Aber auch das wird leicht vergessen und nur durch zielbewußte Agitation dem Gedächtnis eingeprägt.

Ich habe von der Korruption, die in öffentlichen Ämtern, im Geschäftsleben (besonders seit dem Krieg) eingerissen ist, von den erpresserischen Manövern, die zum Teil den üblichen Modus des Kredits und der Zahlung abgelöst haben, nur durch Hörensagen Kenntnis erhalten. Was ich aus eigener Erfahrung zu den Geschäftsmethoden beisteuern kann, ist zu unwesentlich, um eine Ergänzung zur Kenntnis der unreellen Basis, auf der sich das Geschäftsleben dieses geizigen, eigensüchtigen, geldhungrigen Volkes abspielt, zu liefern. Eine 287 einheitliche Münze gibt es augenscheinlich in China nicht. Große Käufe sollen mit Silberbarren bezahlt werden – dem Seissie. Aber diese Zahlungsweise ist umständlich und unsicher. Der Tael ist nur nominell. Zwischen kleinen und großen Münzen, Silber und Nickel ist eine starke Kursdifferenz, beträchtliches, willkürliches und oft wechselndes Agio. Kupfermünzen kann man nur Bettlern geben; sogar der Rikschakuli nimmt sie ungern in Zahlung; und auch Silber- und Nickelmünzen werden nur dann angenommen, wenn sie den Farbstempel eines bekannten Handelshauses aufgedruckt tragen, als Gewähr dafür, daß sie echt sind und schon längere Zeit in der Zirkulation.

 

Ehe ich von der jahrtausendalten Gottesgeißel, die auf Kopf und Rücken des chinesischen Volkes fast ununterbrochen niedergesaust ist, dem Militarismus, spreche, diesem Gebilde, das eine Synthese all der schlechten Instinkte des Chinesen in Reinkultur aufweist, will ich von einer merkwürdigen Veranlagung des chinesischen Volkes berichten, die ich aus Büchern, Berichten, aber bis zu einem gewissen Grade auch aus eigener Anschauung kenne, da ich, wie ich schon in einem vorigen Kapitel andeuten konnte, ihr Wirken an manchem europäischen Individuum und Schicksal staunend wahrgenommen habe: das ist die Kraft Chinas, fremde Elemente zu absorbieren, durch Assimilation gewissermaßen in sich zu zerreiben und dadurch unschädlich zu machen. Im Laufe seiner Geschichte hat China ganze Völker, Nationen, Rassen verspeist, verdaut, ihre Kraft in sich gesogen und ihre Eigenart ausgeschieden, zuletzt die Mandschu.

Ist ein so großer Weg von der Chinesierung eines einzelnen Individuums zur Assimilation eines Volkes? In der zähen Konstitution des unsentimentalen, irreligiösen, ganz und gar im Diesseits beheimateten Chinesen muß ein Element enthalten sein, irgendein geheimnisvoller magnetischer Wille, der alles Minderkonsistente anzieht, umgarnt, einschließt, fasziniert. Im Grunde ist das Selbstvertrauen in diese Fähigkeit auch eine der Ursachen, weshalb dieses starke, eigenwillige Volk fremde Bedrückung, ungerechte Verträge so lange erduldet hat und erduldet. Nicht wie der Inder aus Müdigkeit und Indolenz, Verwurzelung in einem entlegenen geheimnisvollen Jenseitigen, sondern, trotz seinem revolutionär egoistischen und 288 überlegenen Wesen, im Vertrauen eben zu jener assimilatorischen Kraft. Jenem monumentalen: »Mir kann nichts geschehen. – Warte, warte nur, ich bin mit der Mongolei, den Tataren, den Mandschu fertig geworden, ich werde auch mit diesen komischen, kleinen Parasiten in Schamien, ihren kläglichen Konzessionen, Reservationen und Fremdenvierteln fertig werden, ja, ich werde auch mit Japanern und vielleicht auch sogar mit den Russen über kurz oder lang fertig werden, sie verschlucken und weiter China bleiben, das jahrtausendealte Reich, das alle Formen der Zivilisation, Politik und Moral, Freiheit, Sklaverei, alle göttlichen, menschlichen, tierischen und wieder göttlichen Stadien des Menschheitsembrios durchgemacht hat, ohne unterzugehen, ohne einen Deut von seiner angeborenen Kraft und Herrlichkeit aufgeben zu müssen.«

 


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