Josef Haltrich
Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen
Josef Haltrich

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

109. Der Wolf und die Geiß mit ihren zehn Zicklein

Der Hunger nagte bald wieder in den Eingeweiden des Wolfes, die Wurzeln verfluchte er, denn die hatten ihm nur allen Geschmack am Guten und Schönen verdorben, und er hatte einen Eid getan, keine in seinem Leben mehr zu berühren und sollte er des entsetzlichsten Hungertodes sterben. Das Abenteuer mit der Sau war ihm im frischen Gedächtnis, und er ward fast toll vor Ärgernis. »Die prächtigen Ferkel, ha! und die boshafte Treulosigkeit ihrer Mutter; soll man da nicht den Glauben an die Ehrlichkeit in der Welt verlieren?«

Unter solchen Gedanken hatte er sich wieder dem Dorfe genähert, und wunderbar, es sah in den Gassen so aus, als wäre alles tot. Er fing an, mit der Vorsehung sich auszusöhnen. »Das scheint sich jetzt doch einmal gut zu machen«, sprach er bei sich. Die Leute im Dorf hielten nämlich gerade Richttag, tanzten in den Häusern und waren lustig, und die Hunde trieben sich, wie es bei derlei Gelegenheiten geschieht, auch immer in der Küche herum. Da sah der Wolf am Ende des Dorfes die alte Geiß mit ihren zehn Zicklein, die waren wie immer fröhlich und sprangen sorglos um den Backofen herum. »Die hast du jetzt sicher!« dachte er und war schnell an ihnen. »Ha!« rief er, »da habe ich Euch einmal; Ihr seid es, die das Laub und die Blüten in meinem Baumgarten gefressen habt, folgt mir nur gleich als meine Gefangenen!« – »Aber lieber Wolf«, sprach die Geiß flehend, »wie könnt Ihr uns so arg beschuldigen, wir haben uns ja nicht von dieser Stelle gerührt!« – »Ach was!« sprach der Wolf, »das ist nun einmal so, das lasse ich mir nicht nehmen; nur kein langes Gerede mehr!« Als die Geiß sah, daß mit Vorstellungen wider Unrecht hier nichts anzufangen sei, sprach sie: »Lieber Wolf, ich weiß, Ihr könnt so gut singen, Ihr seid ja der beste Kantor, singt uns doch einmal vor, wir singen für unser Leben gern. Wenn wir dann gesungen haben, mögt Ihr uns führen, wohin Ihr wollt!« Der Wolf war stolz darauf, daß man ihn für einen guten Sänger hielt, daher konnte er die Bitte nicht abschlagen. »Es sei!« sprach er. Da schickte die alte Geiß ihre zehn Zicklein in den Backofen, sie selbst sprang auf den Backofen und bat den Wolf, er möge auf das Backbrett steigen, das sei der Ehrenplatz für ihn. Als sie aufgestellt waren, schlug der Wolf den Takt und fing an sein Lied, das er auf der Hochzeit gesungen: »Ullulluh! Jujujuhl« Die Geiß und die Zicklein machten ihr »Meck, meck!« Als die Leute auf dem Richttag den wilden Gesang hörten, sahen sie zum Fenster hinaus und erblickten den Wolf; alles lief hinaus, Männer und Frauen, mit Holzscheiten, Ofengabeln, Besen, was jeder zuerst in die Hand bekam und – hallo! auf den Wolf los; auch die Hunde aus der Küche waren nun flink. Als der Wolf sie kommen sah, sprang er eilig von seinem Kantorstuhl hinab und nahm die Flucht. Das war eine Hetze! Man verfolgte ihn weit ins Feld; dann kehrten die Menschen zurück; die Hunde bellten ihm noch eine Weile nach, dann eilten auch sie abermals zum fröhlichen Feste. Der Geiß aber und den kleinen Zicklein zitterte noch der Bart von der Furcht, die sie ausgestanden. Da gab man ihnen einige Hoffmannstropfen ein, und bald waren sie wieder lustig und hüpften und sprangen herum wie ehedem.


 << zurück weiter >>