Josef Haltrich
Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen
Josef Haltrich

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9. Die Hälfte von allem

Ein Kaufmann hatte drei Söhne; als diese groß waren, sprach der Vater: »Jetzt will ich sehen, wie ihr zum Geschäfte euch anstellt; hier hat jeder hundert Gulden, ziehet in die große Stadt und kaufet ein!« Die beiden ältern Brüder zogen miteinander voraus, den Jüngsten ließen sie allein und wollten nichts mit ihm zu tun haben; denn sie meinten, er sei ein Dümmling und sie müßten sich seiner nur schämen. In der Stadt kaufte jeder der beiden so viele Waren, als man für hundert Gulden nur immer kaufen konnte, und wie sie heimkamen, lobte sie der Vater und war mit ihnen zufrieden. Als aber der Jüngste zur Stadt zog, sah er am Wege einen toten Menschen liegen, von dem fraßen die Vögel. Da jammerte es ihn, und er lief gleich zum nächsten Städtchen und fragte, warum man den Menschen am Wege liegen lasse. Es sei niemand, sprachen die Leute, der für die Beerdigung zahlen wolle. »Ich will zahlen!« sagte der Dümmling und ließ den Toten gleich ehrlich begraben, und das kostete fünfzig Gulden. Froh eilte er jetzt weiter, kam in die große Stadt und kaufte für die andern fünfzig Gulden auch Waren.

Als er daheim ankam, erzählte er seinem Vater, was er getan habe; allein dieser war zornig und rief: »Du bist ein schlechter Kaufmann, wenn du mir's noch einmal so machst, so jage ich dich fort!« Nach einiger Zeit schickte der Vater die drei Söhne wieder aus und gab jedem zweihundert Gulden und sprach: »Ich will sehen, wer am besten kauft!« Die beiden ältern Brüder waren wieder schnell in der Stadt und eifrig am Geschäft und kauften so billig, daß ihr Vater mit ihnen ganz zufrieden war. Als der Jüngste in die Stadt kam und durch die Straßen ging, sah er an dem Gitter eines Kerkerfensters ein wunderschönes Mädchen; er blieb stehen und fragte das Mädchen, wie es dahin gekommen sei. Da erzählte es weinend: man habe in der Stadt hundert Gulden gestohlen; man halte es nun für die Diebin; es sei aber nicht wahr; nur dürfe es nicht sagen, warum und wie. Der Junge erbarmte sich ihrer, ging hin vors Gericht und sprach: »Das Mädchen ist unschuldig, gebt es frei; hier sind aber hundert Gulden, bis man den rechten Dieb findet.« Da ließ man das Mädchen frei, und es war gerade die Königstochter. Sie ging nämlich jeden Tag verkleidet in die Häuser der Armen, tat im stillen Gutes und war jetzt eben auf der Straße, als man die Spur des Diebes verfolgte. Sie fiel den Häschern, die sie nicht kannten, in die Hände, und diese schleppten sie sofort ins Gefängnis. Als sie nun frei war, gab sie dem Jungen einen goldnen Ring und sprach: »Daran will ich dich erkennen!« eilte dann in die Königsburg und freute sich, daß man sie hier noch nicht vermißt hatte.

Der Junge kaufte für die andern hundert Gulden Ware und zog fröhlich, wie es nach einem guten Werke zu geschehen pflegt, nach Hause und erzählte seinem Vater, wie er das arme Mädchen aus dem Gefängnis befreit habe. »Aus dir wird nichts!« rief sein Vater zornig, »packe dich fort aus meinen Augen, daß ich dich nie mehr sehe!« Der arme Junge mußte fort; sein Vater gab ihm noch einige Gulden, damit solle er sich durch die Welt helfen und niemandem sagen, wessen Sohn er sei. Lange wanderte er herum, aber kein Haus wollte ihn aufnehmen. Wie er nun einmal in trüben Gedanken an der Straße saß, kam ein alter MannIn einigen Erzählungen wird hier statt des alten Mannes merkwürdig eine alte Steingeiß genannt. in einem grauen Mantel zu ihm und fragte: »Warum bist du so traurig?« Da erzählte ihm der Junge sein Schicksal. Der Alte tröstete ihn und sprach: »Wenn du mir versprichst, nach sieben Jahren die Hälfte zu geben von allem, was du hast, so will ich dir ein großes Glück verschaffen.« – »Das verspreche ich von Herzen gerne!« erwiderte der Junge. »So eile in die Hauptstadt, denn die Königstochter wartet auf dich!« Damit entfernte sich der Alte, und der Junge zog schnell nach der Stadt.

Der König hatte gewünscht, daß seine Tochter heirate; er liebte sie aber so sehr, daß er sagte: »Ich will nicht zuwider sein, ihr Herz soll frei wählen, und träfe es den Ärmsten im Reich, so wird es mich freuen!« Schon viele Grafen und Ritter, ja auch Fürsten und Könige hatten um ihre Gunst geworben, allein vergebens. Da erschien auch der Junge, und kaum hatte die Königstochter den Ring an seinem Finger erblickt, so rief sie freudig: »Das ist der Rechte!« faßte seine Hand, führte ihn zum König und sprach: »Vater, segne uns!« Wer war froher als dieser, wie er sein Kind so überaus selig und seinen Wunsch erfüllt sah. Da wurde die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert, und der Junge ward nach dem Tode seines Schwiegervaters König und lebte in Friede und Freude. Nach sieben Jahren erschien aber nur einmal der alte Mann und verlangte nach dem Versprechen die Hälfte von allem, was er habe. Der Junge war gleich bereit und teilte alles rechtschaffen genau auf zwei Hälften und gab ihm die eine. Nun wollte der Alte auch von den Kindern den gebührenden Teil. Mit schwerem Herzen gab der Junge ihm eins, denn er hatte zwei; zuletzt aber blieb noch die Frau, und der alte Mann verlangte auch von der die Hälfte. »Wie ist das möglich?« rief der Junge bestürzt. »Die mußt du zerschneiden!« sagte der Alte. Da entsetzte sich der Junge und sprach nach kurzem Bedenken: »Die habe ich viel zu lieb, als daß ich ihr ein Leid zufügen oder auch nur ein Haar krümmen könnte; aber was ich versprochen habe, will ich getreu halten; so nimm sie ganz.« – »Behalte alles!« rief der Alte, »ich habe dich treu erfunden!« und verschwand vor den Augen des Königs.


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