Josef Haltrich
Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen
Josef Haltrich

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45. Der Hahn des Nachbars und die Henne der Nachbarin

Ein Mann hatte einen Hahn, der verstand allerlei Kunststücke, und seine Nachbarin hatte eine Henne, die wollte dem Hahn alles nachmachen. Einmal sagte der Mann seinem Hahn: »Fliege fort und bringe mir große Schätze!« Da flog der Hahn gerade zum Kaiser und setzte sich über dessen Himmelbett und krähte immerfort:

»Kikeriki!
Fi! fi! fi!
Die Kaiserin liegt auf dem Bett,
Der Kaiser liegt unterm Bett!«

Das verdroß den Kaiser, und er befahl, man solle den garstigen Schreier in seine Kornkammer stecken. Das geschah; aber der Hahn verschlang hier auf einmal alles Korn und flog dann zum Fenster hinaus wieder über das Himmelbett des Kaisers und krähte abermals:

»Kikeriki!
Fi! fi! fi!
Die Kaiserin liegt auf dem Bett,
Der Kaiser liegt unterm Bett!«

Da befahl der Kaiser, man solle ihn in seine Schatzkammer bei dem Kupfergeld einsperren. Auch dieses verschlang der Hahn und flog abermals zum Kaiser und krähte wie früher. Jetzt wurde er bei dem Silbergeld eingesperrt, und da er noch einmal kam, bei den Goldstücken. Er verschlang aber alle und flog dann nach Hause; auf dem Heimwege entschlüpfte ihm ein Kupfergroschen, der fiel in eine Pfütze. Noch aus der Ferne rief er seinem Herrn zu: »Breite alle Lein- und Korntücher, die du hast, aus!« Als das geschehen war, machte sie der Hahn voll mit Korn, Kupfer-, Silber- und Goldstücken. Die Nachbarin ward nun sehr neidisch und wäre auch gerne so reich geworden, und sie fragte den Nachbar, wie er es angestellt, daß ihm sein Hahn so viele Schätze gebracht habe. Er antwortete: »Ich habe ihn immer geschlagen!« Die Frau schlug nun ihre Henne immerfort und sprach: »Fliege fort und bringe mir auch solche Schätze, wie des Nachbars Hahn gebracht hat!« – »Warte nur, ich will schon suchen!« sagte die Henne. Damit flog sie fort und kam zu der Pfütze, wo der Hahn den Groschen verloren hatte. Wie sie diesen sah, ward sie froh; sie schlürfte ihn ein, aber mit dem Groschen auch die ganze Pfütze. Da ging sie, voll wie sie war, ganz wackelnd heimwärts und schrie schon von weitem der Frau: »Breite alle Lein- und Korntücher aus; ich bringe Schätze!« Die Frau breitete sie hurtig aus; nur einmal machte die Henne alles voll Unflat. Darunter fand sich auch der einzige Groschen. Als der Hahn den erblickte, schnappte er ihn gleich fort und rief: »Der war mir entfallen; das übrige gehört euch!« Die Frau und ihre Henne gingen beschämt fort, wie wenn sie der Hund gebissen hätte.


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