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Busch zwischen Büschen. Und die alte Liebe

Lämmchen ist noch mit in den Garten gegangen, der verschlafene Chauffeur bekam den kalten Motor nicht gleich in Gang, sie standen schweigend neben dem Wagen. Dann gaben sie sich noch einmal die Hand, sie sagten sich noch einmal Adieu, und Lämmchen sah den Lichtschein der Scheinwerfer ferner und ferner, das Geräusch des Motors hörte sie noch eine Weile, und es ist alles still und dunkel um sie.

Der Himmel ist sternenklar, es friert leicht. In der ganzen Siedlung, so weit sie schauen kann, ist kein Licht zu sehen, nur hinter ihr, im Fenster der eigenen Laube, scheint sanft die rötliche Helle der Petroleumlampe.

Lämmchen steht da, der Murkel schläft – wartet sie? Auf was soll sie warten? Der letzte Zug ist durch, morgen vormittag erst kann der Junge kommen, er ist ausgerutscht, auch das bleibt nicht aus. Nichts bleibt aus. Sie kann sich hinlegen und schlafen. Oder wachen. Es kommt nicht darauf an, unwichtig ist es, wie wir leben.

Lämmchen geht nicht hinein. Sie steht da, irgend etwas ist in dieser schweigenden Nacht, das ihr Herz unruhig macht. Da sind die Sterne, sie funkeln in der kalten Luft, nun gut. Die Büsche im Garten und im Nachbargarten sind zusammengeballt, klobiges Schwarz, die Laube des Nächsten ist wie ein dunkles, massiges Tier.

Kein Wind, kein Geräusch, nichts, hinten, fern auf der Strecke fährt ein Zug. Darum ist es hier um so stiller, um so lautloser, und Lämmchen weiß, sie ist nicht allein. Irgend jemand ist hier draußen im Dunkeln wie sie, reglos. Atmet der? Nein, nicht. Und doch ist jemand hier.

Das ist ein Fliederbusch und das ist noch ein Fliederbusch. Seit wann steht zwischen den beiden Fliederbüschen etwas?

Lämmchen macht einen Schritt, ihr Herz klopft sehr, aber sie fragt ganz ruhig: »Junge, bist du das?«

Der Busch, der überzählige Busch, ist still. Dann bewegt er sich zögernd, der Junge fragt stockend, rauh: »Ist er weg?«

»Ja, Jachmann ist weg. Hast du lange hier gewartet?«

Pinneberg antwortet nicht.

Eine Weile stehen sie so still, Lämmchen möchte das Gesicht ihres Jungen erraten, aber nichts ist zu sehen. Und doch dringt von der reglosen Gestalt da drüben eine Gefahr zu ihr herüber, etwas Dunkleres noch als die Nacht, etwas Drohenderes als diese fremde Reglosigkeit des vertrauten Mannes. Lämmchen steht still.

Dann sagt sie leicht: »Gehen wir rein? Mir wird kalt.«

Er antwortet nicht.

Lämmchen versteht, es ist etwas geschehen. Es ist nicht, daß der Junge getrunken hat oder es ist nicht nur, daß er getrunken hat, getrunken hat er vielleicht auch. Es ist etwas anderes geschehen, etwas Schlimmes.

Da steht ihr Mann, ihr lieber junger Mann, im Dunkeln, wie ein verwundetes Tier, und traut sich nicht ans Licht. Jetzt haben sie ihn unten.

Sie sagt: »Jachmann hat nur seine Koffer geholt. Er kommt nicht wieder.«

Aber Pinneberg antwortet nicht.

Wieder stehen sie eine Weile; drüben und drunten, auf der Chaussee hört Lämmchen ein Auto, es ist ganz fern, dann singt es näher, wird sehr laut, und wieder ferner und fort. Sie denkt: ›Was sage ich? Wenn er nur ein Wort spräche!‹

Sie sagt: »Ich habe doch heute bei Krämers gestopft, nicht wahr?«

Er antwortet nicht.

»Das heißt, ich habe nicht gestopft. Sie hatte einen Stoff da, ich habe ihn ihr zugeschnitten und nähe ihr ein Hauskleid. Sie ist sehr zufrieden, sie will mir ihre alte Nähmaschine billig lassen und mich all ihren Bekannten empfehlen. Für ein Kleid machen krieg ich acht Mark, vielleicht sogar zehn.«

Sie wartet. Sie wartet lange. Sie sagt behutsam: »Wir können vielleicht gut Geld verdienen. Wir sind vielleicht raus aus dem Dreck.«

Er macht eine Bewegung, aber dann steht er wieder still und sagt nichts.

Lämmchen wartet, ihr Herz wird so schwer, es ist kalt. Sie kann nicht mehr trösten. Sie weiß nichts mehr. Es ist alles umsonst. Was hilft kämpfen? Für was denn? Er hätte mit den andern Holz stehlen gehen sollen.

Noch einmal wirft sie den Kopf zurück, sie sieht die vielen Sterne, es ist still und feierlich, aber furchtbar fremd und groß und weit weg. Sie sagt: »Der Murkel hat heute nachmittag immer nach dir gefragt. Er sagt plötzlich nicht mehr Pepp-Pepp, er sagt Pappo.«

Der Junge sagt nichts.

»Oh Junge! Junge!« ruft sie. »Was ist denn? Sag doch ein Wort zu deinem Lämmchen! Bin ich denn nichts mehr? Sind wir denn ganz allein?«

Ach, es hilft nichts. Er kommt nicht näher, er sagt nichts, ferner scheint er zu sein, immer ferner.

Die Kälte ist hochgestiegen an Lämmchen, sie sitzt ganz in der Kälte, es ist nichts mehr. Hinten ist die warme, rötliche Helle des Laubenfensters, da schläft der Murkel. Ach, auch Kinder gehen vorbei, sie gehören uns nur eine kurze Zeit – sechs Jahre? Zehn Jahre? Alles ist Alleinsein.

Sie geht auf die rötliche Helle zu, sie muß es ja, was gibt es sonst?

Hinter ihr ruft eine Stimme ferne: »Lämmchen!«

Sie geht weiter, es hilft nichts mehr, sie geht weiter.

»Lämmchen!«

Sie geht weiter. Da ist die Laube, da ist die Tür, nun ein Schritt noch, die Hand, die nach dem Drücker faßt ...

Sie wird festgehalten, der Junge hält sie fest, er schluchzt, er stammelt: »Oh, Lämmchen, was haben sie mit mir gemacht ... Die Polizei ..., heruntergestoßen haben sie mich vom Bürgersteig ..., weggejagt haben sie mich ..., wie kann ich noch einen Menschen ansehen ...?«

Und plötzlich ist die Kälte weg, eine unendlich sanfte, grüne Woge hebt sie auf und ihn mit ihr. Sie gleiten empor, die Sterne funkeln ganz nahe; sie flüstert: »Aber du kannst mich doch ansehen! Immer und immer! Du bist doch bei mir, wir sind doch beisammen ...«

Die Woge steigt und steigt. Es ist der nächtliche Strand zwischen Lensahn und Wiek, schon einmal waren die Sterne so nah. Es ist das alte Glück, es ist die alte Liebe. Höher und höher, von der befleckten Erde zu den Sternen. Und dann gehen sie beide ins Haus, in dem der Murkel schläft.

 

Ende


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