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Gehuppt wie gesprungen. Die Inquisitoren und Fräulein Fischer. Noch eine Galgenfrist, Pinneberg!

Hochdampf ins Geschäft – kein Hochdampf schafft es mehr. Die Elektrische will und will nicht kommen. Dann kommt sie und alle Verkehrsampeln brennen rot, und in Pinneberg fällt die Sorge der Nacht zusammen, das Glück, daß der Murkel einen Zahn hat und nicht krank ist, verweht. Und die andere Sorge kommt und breitet sich aus und wird immer größer, alles beherrscht sie: was wird Jänecke sagen, daß ich zu spät komme?

»Siebenundzwanzig Minuten Verspätung – Pinneberg«, der Portier notiert es. Er verzieht das Gesicht nicht, jeden Tag kommen welche zu spät. Manche bestürmen ihn mit Bitten, dieser ist blaß.

Pinneberg vergleicht seine Uhr: »Bei mir sind es erst vierundzwanzig Minuten.«

»Siebenundzwanzig«, sagt entschieden der Portier. »Und außerdem, das ist doch gehuppt wie gesprungen: siebenundzwanzig oder vierundzwanzig.«

Und da hat er recht.

Gott sei Dank ist Jänecke wenigstens nicht auf der Abteilung. Gott sei Dank geht der Krach nicht sofort los.

Aber er geht doch sofort los. Da ist Herr Keßler, Kollege Keßler, dieser für die Interessen des Hauses Mandel so bemühte Mann. Er geht auf Pinneberg zu, er sagt: »Sie möchten sofort auf's Personalbüro zu Herrn Lehmann kommen.«

»Ja«, sagt Pinneberg. »Schön.« Er hat das Bedürfnis, etwas zu sagen, grade dem Keßler zu zeigen, daß er keine Angst hat, trotzdem er Angst hat. »Wird wieder einen schönen Knaatsch geben. Bin ein bißchen zu spät gekommen.«

Keßler betrachtet Pinneberg, er grinst richtig, nicht zu auffällig, aber mit den Augen grinst er unverhohlen. Er sagt kein Wort, er sieht Pinneberg bloß an. Und dann dreht er sich um und marschiert ab.

Pinneberg geht ins Parterre hinunter, dann über den Hof. Das ältliche, gelbe Fräulein Semmler ist immer noch da. Sie steht, als Pinneberg eintritt, in einer nicht mißzuverstehenden Haltung an der Tür von Herrn Lehmanns Zimmer. Die Tür ist nur angelehnt. Sie macht einen Schritt auf Pinneberg zu und sagt: »Herr Pinneberg! Sie sollen warten.«

Und dann nimmt sie eine Akte, sie schlägt die Akte auf, sie macht einen Schritt zurück, sie steht wieder an der Tür, natürlich liest sie in der Akte.

Aus Herrn Lehmanns Zimmer dringen Stimmen, die scharfe, präzise kennt Pinneberg, das ist Herr Spannfuß. Also nicht nur Herr Lehmann, Herr Spannfuß auch, und siehe da, jetzt ertönt noch Herrn Jäneckes Organ. Einen Augenblick Stille, und ein junges Mädchen sagt etwas, ziemlich leise, sie scheint dabei zu weinen.

Pinneberg sieht böse auf die Tür und die Semmler, er räuspert sich und macht eine Bewegung: sie soll die Tür schließen. Aber die Semmler sagt ganz unverhohlen: »Schsch!« Sie hat Farbe, sie hat rote Bäckchen, die Semmler!

Herrn Jäneckes Stimme wird hörbar: »Also, das geben Sie jedenfalls zu, Fräulein Fischer, daß Sie mit Herrn Matzdorf verkehren?«

Schluchzen.

»Sie müssen uns antworten«, sagt milde mahnend Herr Jänecke. «Wie kann Herr Spannfuß sich eine Meinung bilden, wenn Sie so verstockt sind und nicht einmal die Wahrheit gestehen?« Pause. Dann: »Und Herrn Lehmann gefällt das auch gar nicht.«

Fräulein Fischer schluchzt.

»Also nicht wahr, Fräulein Fischer«, fragt geduldig wieder Herr Jänecke, »Sie verkehren mit Herrn Matzdorf?«

Schluchzen. Stille.

»Sehen Sie! Sehen Sie!« ruft plötzlich Herr Jänecke lebhaft. »So ist es recht. Wir wissen zwar doch alles, aber Sie gewinnen natürlich ungeheuer, wenn Sie Ihre Verfehlungen offen eingestehen.« Eine kurze Pause, und dann beginnt Herr Jänecke neu: »Also, Fräulein Fischer, nun sagen Sie uns einmal, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«

Fräulein Fischer schluchzt.

»Sie müssen sich dabei doch was gedacht haben. Sehen Sie, soviel ich orientiert bin, sind Sie hier eingestellt für den Strümpfeverkauf. Glaubten Sie, Sie seien wegen Verkehrs mit den andern Angestellten angenommen?«

Keine Antwort.

»Und die Folgen –?« sagt plötzlich Herrn Lehmanns Stimme eilig und quäkend. »Haben Sie denn gar nicht an die Folgen gedacht?! Sie sind doch erst knapp siebzehn, Fräulein Fischer!« Stille. Stille. Pinneberg macht einen Schritt gegen die Tür, Fräulein Semmler sieht Pinneberg an, gelb, böse und doch triumphierend.

Pinneberg sagt wütend: »Die Tür ...«

Da bricht drinnen die weibliche Stimme los, mit Schluchzen, halb schreiend: »Aber ich verkehre doch nicht so mit Herrn Matzdorf –! Ich bin befreundet mit ihm ... ich verkehre doch nicht ...« Die Worte gehen unter in Weinen.

»Sie lügen ja«, hört Pinneberg Herrn Spannfuß sagen. »Sie lügen ja, Fräulein. In dem Brief steht, daß Sie aus einem Hotel gekommen sind. Sollen wir uns in dem Hotel erkundigen –?«

»Herr Matzdorf hat alles zugegeben!« ruft Herr Lehmann.

»Die Tür zu!« sagt Pinneberg wieder.

»Geben Sie hier bloß nicht an«, antwortet Fräulein Semmler böse.

Das Mädchen drinnen ruft: »Ich bin nie mit ihm hier im Hans zusammengekommen!«

»Na, na!« sagt Herr Spannfuß.

»Nein, bestimmt nicht ... bestimmt nicht! Herr Matzdorf verkauft im vierten Stock und ich im Parterre. Wir können gar nicht zusammenkommen.«

»Und die Tischzeit?« quäkt Herr Lehmann. »Die Tischzeit in der Kantine?«

»Auch nicht«, beeilt sich Fräulein Fischer. »Auch nicht. Gewiß nicht. Herr Matzdorf hat ganz andere Tischzeit wie ich.«

»So!« sagt Herr Jänecke. »Jedenfalls scheinen Sie sich genau danach erkundigt zu haben, und es wird Ihnen wohl sehr leid getan haben, daß es nicht besser paßte.«

»Was ich außer dem Haus tue, das ist doch meine Sache!« ruft das Fräulein. Sie scheint nicht mehr zu weinen.

»Da irren Sie sich«, sagt ernst Herr Spannfuß. »Das ist ein Irrtum von Ihnen, Fräulein. Das Warenhaus Mandel ernährt und kleidet Sie, das Warenhaus Mandel ermöglicht die Basis Ihrer Existenz. Es muß erwartet werden, daß Sie bei all Ihrem Tun und Lassen zuerst an das Warenhaus Mandel denken.«

Lange Pause. Dann wieder: »Sie treffen sich in einem Hotel. Sie können dort gesehen werden, von irgendwelchem Kunden. Für den Kunden ist es peinlich, für Sie ist es peinlich, für die Firma ist es ein Schaden. Sie können – man darf ja ganz offen mit Ihnen reden – in andere Umstände kommen, nach den jetzigen Gesetzen haben wir Sie dann weiter zu beschäftigen, wieder ein Schaden. Der Verkäufer wird mit Alimenten belastet, sein Gehalt reicht nicht, er hat ständig Sorgen, verkauft schlecht –, ein neuer Schaden. Sie haben so stark«, sagt Herr Spannfuß mit Nachdruck, »gegen die Interessen des Hauses Mandel gehandelt, daß wir ...«

Eine neue, lange Pause. Nein. Fräulein Fischer bleibt still. Dann sagt Herr Lehmann eilig: »Da Sie gegen das Interesse der Firma verstoßen haben, sind wir laut Paragraph sieben des Anstellungsvertrages zu fristloser Entlassung berechtigt. Wir machen von diesem Recht Gebrauch. Sie sind hiermit fristlos entlassen, Fräulein Fischer.«

Stille. Kein Laut.

»Gehen Sie nebenan auf das Personalbüro und lassen Sie sich Ihre Papiere und den Gehaltrest geben.«

»Einen Augenblick!« ruft Herr Jänecke. Und eilig: »Damit Sie nicht denken, wir sind ungerecht gegen Sie: Herr Matzdorf wird natürlich auch fristlos entlassen.«

Fräulein Semmler steht an ihrem Tisch, aus Herrn Lehmanns Zimmer kommt ein junges Mädchen, sehr rote Augen, sehr blasses Gesicht. Sie geht an Pinneberg vorbei. »Ich soll hier meine Papiere haben«, sagt sie zu Fräulein Semmler.

»Gehen Sie rein«, sagt Fräulein Semmler zu Pinneberg.

Und Pinneberg geht hinein. Sein Herz klopft stark. »Und jetzt ich«, denkt er. »Jetzt ich!«

Aber noch ist er nicht an der Reihe, die Herren, um den Schreibtisch gruppiert, tun, als sei er nicht da.

»Muß der Posten wieder besetzt werden?« fragt Herr Lehmann.

»Ganz einsparen können wir ihn nicht«, sagt Herr Spannfuß.

»Aber jetzt in der flauen Zeit schaffen es die andern schon. Geht es wieder lebhafter, stellen wir wen zur Aushilfe ein. Es laufen ja genug herum.«

»Natürlich«, sagt Herr Lehmann.

Die drei sehen auf und sehen Pinneberg an. Pinneberg macht zwei Schritte vorwärts.

»Also hören Sie mal zu, Pinneberg«, sagt Spannfuß und sein Ton ist ganz anders. Nichts mehr von ernster väterlicher Besorgtheit, nein, er ist einfach grob. »Sie sind heute wieder mal eine halbe Stunde zu spät gekommen. Was Sie sich darunter vorstellen, ist mir etwas schleierhaft. Vermutlich wollen Sie uns zu verstehen geben, daß Ihnen das Haus Mandel piepe ist, schnurz und piepe. Bitte, junger Mann, von uns aus –!« Er macht eine große Handbewegung nach der Tür.

Eigentlich hat sich Pinneberg überlegt, daß ja doch alles egal ist, sie schmeißen ihn ja doch raus. Aber plötzlich ist die Hoffnung da und er sagt ganz leise und gedrückt: »Ich bitte um Verzeihung, Herr Spannfuß, mein Kind ist heute nacht krank geworden, ich bin rumgelaufen und habe eine Schwester geholt …«

Er sieht etwas hilflos auf die drei.

»Also Ihr Kind«, sagt Herr Spannfuß. »Diesmal ist Ihr Kind krank geworden. Vor vier Wochen – oder war es vor zehn Wochen? – haben Sie ewig gefehlt wegen Ihrer Frau. In zwei Wochen wird wahrscheinlich Ihre Großmutter sterben und in einem Monat Ihre Tante ein Bein brechen ...« Er hält inne. Dann mit neuer Kraft: »Sie überschätzen das Interesse, das die Firma an Ihrem Privatleben nimmt. Ihr Privatleben ist für das Haus Mandel ohne Interesse. Legen Sie Ihre Geschichten gefälligst so, daß sie außerhalb der Geschäftsstunden erledigt werden können.«

Wieder Pause, dann: »Die Firma ermöglicht erst Ihr Privatleben, Herr! Erst kommt die Firma, noch mal die Firma, zum dritten Mal die Firma, und dann können Sie machen, was Sie wollen. Sie leben von uns, Herr, wir haben Ihnen die Sorge um Ihren Lebensunterhalt abgenommen, verstehen Sie das! Sie sind ja auch Ultimo pünktlich hier unten zum Gehaltsempfang.«

Er lächelt etwas, auch die anderen Herren lächeln, Pinneberg weiß, es wäre gut, wenn er jetzt auch ein bißchen lächelte, aber es geht beim besten Willen nicht.

Abschließend sagt Herr Spannfuß: »Also merken Sie sich das, bei der nächsten Unpünktlichkeit fliegen Sie fristlos auf die Straße. Dann können Sie sehen, wie das Stempeln tut. Es gibt ja so viele ... Wir verstehen uns, nicht wahr, Herr Pinneberg?«

Pinneberg sieht ihn stumm an.

Herr Spannfuß lächelt. »Ihr Blick ist sicher sehr ausdrucksvoll, Herr Pinneberg. Aber ich möchte es doch gerne mündlich von Ihnen bestätigt hören. Wir verstehen uns?«

»Ja«, sagt Pinneberg leise.

»Schön, dann können Sie also gehen.«

Und Pinneberg geht.


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