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Noch einmal Frau Mia. Das sind meine Koffer! Kommt die Polizei?

Lämmchen sitzt in ihrer kleinen Burg und stopft Strümpfe. Der Murkel liegt in seinem Bett und schläft. Ihr ist so trübe zumute, der Junge ist in letzter Zeit schlimm, verwirrt und gedrückt, aufflammend und stumpf. Sie hat ihm neulich etwas Gutes tun wollen, zu seinen Bratkartoffeln ein Ei gegeben. Als sie es auf den Tisch brachte, tobte er los, ob sie Millionäre seien? Er mache sich Sorgen und Sorgen und sie –?

Hinterher ist er tagelang still und gedrückt, redet so sanft mit ihr, sein ganzes Wesen bittet um Entschuldigung. Er müßte sie nicht um Entschuldigung bitten, er hat es nicht nötig. Sie zwei sind eins, nichts kann dazwischen kommen, ein rasches Wort kann betrüben, aber nicht zerstören.

Aber früher war doch alles anders. Sie waren jung, sie waren verliebt, ein Strahlenstreif lief durch alles, eine glänzende Silberader auch durch das dunkelste Gestein. Heute ist alles zerschlagen, Berge trüben Schutts und dazwischen einmal ein strahlender Brocken. Und wieder Schutt. Und wieder ein bißchen Strahlen. Sie sind noch jung, sie lieben sich noch, ach, vielleicht lieben sie sich noch viel mehr, sie haben sich aneinander gewöhnt – aber es ist dunkel überhängt, darf unsereins lachen? Wie kann man lachen, richtig lachen, in solcher Welt mit sanierten Wirtschaftsführern, die tausend Fehler gemacht haben, und kleinen entwürdigten, zertretenen Leuten, die stets ihr Bestes taten?

›Ein klein bißchen gerechter könnte es gerne zugehen‹, denkt Lämmchen.

Gerade als sie dies denkt, geht draußen ein Geschrei los, das ist Puttbreese, aber Puttbreese in Disput mit einer Frau. Die helle scharfe Stimme kommt Lämmchen bekannt vor, sie horcht auf, ach nein, sie kennt sie doch nicht, die handeln da unten wohl um einen Schrank.

Aber nun ruft Puttbreese nach ihr. »Junge Frau!« schreit er. »Frau Pinneberg!« brüllt er.

Lämmchen steht auf, sie geht über den Boden an die Leiter, sie sieht hinunter. Ja, es ist doch die Stimme gewesen. Dort unten steht mit Meister Puttbreese ihre Schwiegermutter, Frau Pinneberg senior, und gut scheinen die beiden einander nicht zu sein.

»Die Olle will zu Ihnen«, sagt der Meister, deutet mit seinem ungeheuren Daumen und schrammt ab. Er schrammt sogar so ab, daß er die Außentür zuschließt und die beiden in ziemlicher Finsternis stehen. Aber die Augen gewöhnen sich, Lämmchen sieht unten wieder das braune Kostüm mit der schicken Kappe, das sehr weiße, fette Gesicht.

»Guten Tag, Mama, du willst zu uns? Der Junge ist nicht da.«

»Hast du die Absicht, dich von dort oben mit mir zu unterhalten? Oder willst du mir sagen, wie man zu euch rauf kommt?«

»Die Leiter, Mama«, sagt Lämmchen. »Grade vor dir.«

»Ist das die einzige Möglichkeit?«

»Die einzige, Mama.«

»Na schön. Weswegen ihr aus meiner Wohnung ausgezogen seid, möchte ich gelegentlich auch mal ganz gern erfahren. Nun, wir werden auch darüber reden.«

Die Leiter wird ohne Schwierigkeiten genommen, Frau Pinneberg senior ist gar nicht so. Sie steht auf dem Kinodach, sie sieht in das staubige Sparrenwerk, in die Finsternis: »Wohnt ihr hier?«

»Nein, Mama, dort hinter der Tür. Darf ich dir zeigen?«

Sie öffnet, Frau Pinneberg tritt ein, sieht sich um. »Na ja, schließlich muß jeder am besten wissen, wohin er gehört. Mir ist die Spenerstraße lieber.«

»Ja, Mama«, sagt Lämmchen. Hat der Junge keine Überstunden, kann er in einer Viertelstunde hier sein. Sie sehnt sich sehr nach ihrem Jungen. »Willst du ablegen, Mama?«

»Nein, danke. Ich bin nur für zwei Minuten hier. Zu Besuchen liegt keine Veranlassung vor. Wo ihr mich so behandelt habt!«

»Es hat uns sehr leid getan ...«, beginnt Lämmchen zögernd.

»Mir nicht! Mir nicht!« erklärt Frau Pinneberg. »Ich rede kein Wort darüber. Aber es war hübsch rücksichtlos, mich so im Stich zu lassen, plötzlich keine Hilfe im Haus. – Ein Baby habt ihr euch auch zugelegt?«

»Ja, wir haben seit einem halben Jahr einen Jungen. Horst heißt er.«

»Horst! Ein bißchen aufpassen konntet ihr natürlich nicht?«

Lämmchen sieht ihre Schwiegermutter fest an. Jetzt lügt sie zwar, aber die Festigkeit ihres Blickes leidet diesmal nicht darunter. »Doch, wir konnten aufpassen, wir wollten nicht.«

»So. Na ja. Ihr müßt am besten wissen, ob es euch eure Verhältnisse erlauben. Ich finde es allerdings etwas gewissenlos, so ein Baby in die Welt zu setzen, auf nichts hin. Aber bitte, von mir aus ein Dutzend, wenn es euch Spaß macht!«

Sie geht zur Krippe und sieht auf das Kind mit bösem Gesicht. Lämmchen hat längst gemerkt, heute ist nichts zu machen. Sonst ist die Schwiegermutter wenigstens zu ihr halbwegs anständig gewesen, heute aber ... sie will einfach Streit. Vielleicht ist es doch besser, der Junge kommt nicht so rasch.

Frau Pinneberg ist mit der Besichtigung des Kindes fertig.

»Was ist das? Junge oder Mädel?«

»Ein Junge«, sagt Lämmchen. »Horst.«

»Also doch!« sagt Frau Marie Pinneberg. »Ich habe es mir gleich gedacht. Er sieht genau so wenig intelligent aus wie sein Vater. Nun, wenn es dir Spaß macht.«

Lämmchen schweigt.

»Mein liebes Kind«, sagt Frau Pinneberg, macht ihr Jackett auf und setzt sich, »es hat gar keinen Sinn, mit mir zu schmollen. Ich sage dir doch, was ich denke. Da steht ja auch die köstliche Frisiertoilette. Scheint euer einziges Möbelstück zu bleiben. Manchmal denke ich, man müßte netter zu dem Jungen sein, er ist geistig nicht normal. Frisiertoilette ...«, sagt sie und sieht das arme Dings an, ein Wunder, daß die Fourniere nicht blasig werden von so viel Blick.

Lämmchen schweigt.

»Wann kommt Jachmann?« fragt Frau Pinneberg plötzlich mit solcher Schärfe, daß Lämmchen zusammenzuckt. Frau Pinneberg ist zufrieden. »Siehst du, ich erfahre alles, ich habe auch euern Schlupfwinkel gefunden, ich weiß alles. Wann kommt Jachmann?«

»Herr Jachmann«, sagt Lämmchen, »ist vor vielen Wochen ein oder zwei Nächte hier gewesen. Seitdem nicht wieder.«

»So!« sagt Frau Pinneberg höhnisch. »Und wo ist er jetzt?«

»Das weiß ich nicht«, sagt Lämmchen.

»So, das weißt du nicht.« Frau Pinneberg wird langsam, aber sie wird wärmer. Sie zieht das Jackett aus. »Wieviel zahlt er euch, daß ihr den Mund haltet?«

»Auf so etwas antworte ich nicht«, sagt Lämmchen.

»Ich werde dir die Polizei schicken, mein liebes Kind«, sagt Frau Pinneberg. »Dann wirst du schon antworten. Daß er steckbrieflich gesucht wird, der Falschspieler, der Hochstapler, das wird er euch ja wohl erzählt haben, oder hat er dir gesagt, er wohnt aus Liebe zu dir hier?«

Lämmchen Pinneberg steht am Fenster, sie starrt hinaus.

Nein, es ist doch besser, der Junge kommt bald, sie bringt es nicht fertig, seine Mutter rauszuschmeißen. Er kann es.

»Ihr werdet ja schon sehen, wie er euch reinlegt. Der muß jeden betrügen. Was er mit mir gemacht hat ...«

Frau Pinnebergs Stimme hat einen anderen Klang.

»Ich habe Herrn Jachmann seit über zwei Monaten nicht gesehen«, sagt Lämmchen.

»Lämmchen«, sagt Frau Pinneberg, »Lämmchen, wenn du es weißt, wo er ist, sag es mir, Lämmchen!« Sie macht eine Pause. »Lämmchen, bitte sag es mir, wo ist er?«

Lämmchen sieht sich um und ihre Schwiegermutter an. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, Mama!«

Die beiden schauen sich an.

»Nun gut«, sagt Frau Pinneberg. »Ich will es dir glauben. Ich glaub's dir, Lämmchen. Ist er wirklich nur zwei Nächte hier gewesen?«

»Eine glaub ich nur«, sagt Lämmchen.

»Was hat er von mir gesagt? Erzähl mir, hat er sehr über mich geschimpft?«

»Gar nichts«, sagt Lämmchen. »Kein Wort. Er hat überhaupt nicht von dir gesprochen mit mir.«

»So«, sagt die Schwiegermutter. »Kein Wort.« Sie sieht vor sich hin. »Übrigens ist euer Junge ein hübsches Kind. Kann er schon sprechen?«

»Mit einem halben Jahr, Mama?«

»Nein? Sprechen sie da noch nicht? Ich habe alles vergessen, ich habe es wohl nie richtig gewußt. Aber –«, sie macht eine lange Pause. Die Pause wird länger und länger, es liegt etwas Schreckensvolles darin, Wut, Angst, Drohung ...

»Da!« sagt Frau Pinneberg und zeigt nach den Koffern, die auf dem Schrank liegen. »Das sind Jachmanns Koffer. Ich kenne die. Das sind seine Koffer. Du Lügnerin, du blonde, blauäugige Lügnerin, und ich habe dir geglaubt! Wo ist er? Wann kommt er? Du hast ihn für dich behalten und der Trottel, der Hans, ist einverstanden? Lügnerin!«

»Mama«, sagt Lämmchen bestürzt.

»Es sind meine Koffer. Er hat Schulden bei mir, Hunderte, Tausende, die Koffer gehören mir. Er wird schon kommen, wenn ich die Koffer habe ...«

Sie zerrt einen Stuhl an den Kleiderschrank.

»Mama«, sagt Lämmchen ängstlich und versucht sie zu hindern.

»Läßt du mich los? Läßt du mich auf der Stelle los?! Meine Koffer sind das!«

Sie steht auf dem Stuhl, sie zerrt an dem Handgriff des ersten Koffers, der Aufsatz des Schrankes ist davor.

»Er hat die Koffer stehen gelassen!« schreit Lämmchen.

Sie hört nicht. Sie reißt. Der Schrankaufsatz bricht ab, der Koffer kommt von oben. Er ist ziemlich schwer, sie kann ihn nicht halten, er fällt, er stößt gegen die Krippe, Gepolter, der Murkel fängt an zu schreien.

»Läßt du das sofort sein!« ruft Lämmchen mit flammenden Augen und läuft zu dem Kind. »Ich werfe dich raus ...«

»Meine Koffer sind es!« ruft die Schwiegermutter und zerrt am zweiten.

Lämmchen hat das weinende Kind auf dem Arm, sie bezwingt sich, in einer halben Stunde muß sie den Murkel nähren. Sie darf sich nicht aufregen.

»Laß die Koffer, Mama!« sagt Lämmchen. »Sie gehören nicht dir, sie müssen hier bleiben.«

Und zum Jungen, summend:

Eia wiwi, min Murkel slöpt bi mi,
Nee, dat wöllt wi anners maken,
Murkel schall bi Vadding slapen ...«

»Laß die Koffer, Mama«, ruft sie noch einmal.

»Der soll sich freuen, wenn er heute abend zu euch kommt!«

Der zweite Koffer fällt.

»Ah, da ist er schon!«

Sie dreht sich um nach der Tür, die sich öffnet.

Aber es ist nicht Jachmann, es ist Pinneberg, der da steht.

»Was ist hier los?« fragt er leise.

»Mama«, sagt Lämmchen, »will die Koffer von Herrn Jachmann wegholen. Sie sagt, sie gehören ihr. Herr Jachmann hat Schulden bei ihr.«

»Das kann Mama mit Jachmann direkt ausmachen, die Koffer bleiben hier«, sagt Pinneberg. Und diesmal bewundert Lämmchen ihren Mann, so sehr beherrscht er sich.

»Natürlich«, sagt Frau Pinneberg, »das habe ich mir so gedacht, daß du auch hierbei deiner Frau beistehst. Die Pinnebergs sind eben immer Trottel gewesen. Du solltest dich schämen, so ein Waschlappen ...«

»Jungchen«, ruft Lämmchen bittend.

Aber es ist gar nicht nötig. »Jetzt wird es aber Zeit für dich, Mama«, sagt Pinneberg. »Nein, laß die Koffer ruhig los. Glaubst du, du bekommst sie gegen meinen Willen die Leiter runter? So, nun mach noch ein Schrittchen. Wenn du meiner Frau Adieu sagen willst? Aber es ist nicht nötig.«

»Die Polizei schicke ich euch auf den Hals!«

»Bitte, Mama, paß auf, hier ist die Schwelle.«

Die Tür klappt zu, Lämmchen hört den Lärm ferner, sie singt Eia wiwi. »Hoffentlich hat es meiner Milch nicht geschadet.«

Sie macht die Brust frei, der Murkel lächelt, er spitzt den Mund.

Dann – das Kind trinkt schon – kommt der Junge wieder. »So, jetzt ist sie weg. Bin doch neugierig, ob sie uns die Polizei schickt? Erzähl mal, wie kam es denn?«

»Du hast es großartig gemacht, Jungchen«, sagt Lämmchen. »Das hätte ich nie von dir gedacht. Fein hast du dich beherrscht.«

Aber da er zu recht gelobt wird, ist er verlegen. »Ach, red nicht. Wie kam es? Erzähl schon!«

Und sie erzählt.

»Möglich ist es ja, daß der Jachmann gesucht wird. Ich glaube es schon Aber wenn wirklich, dann hat Mama auch damit zu tun. Dann schickt sie die Polizei nicht. Außerdem müßte die schon hier sein.«

Pinnebergs sitzen und warten. Das Kind trinkt, wird in seine Krippe gelegt und schläft ein.

Pinneberg legt die Koffer wieder auf den Schrank, holt vom Meister Tischlerleim und klebt den Aufsatz wieder an. Lämmchen macht Essen.

Und keine Polizei kommt.


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