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Pinneberg als Stein des Anstoßes. Die vergessene Butter und der Schupo. Keine Nacht ist schwarz genug

Es ist gegen sieben Uhr, als Pinneberg wieder auf die Straße tritt. Er ist von der Unterhaltung mit Heilbutt munter geworden, er ist richtig aufgekratzt und dabei doch todestraurig. Also Lehmann ist gestürzt, Pinneberg erinnert sich gut an den Großen Lehmann, den Erhabenen Herrn Lehmann; er saß allein hinter einem blanken Schreibtisch und sagte: »Düngemittel führen wir nun freilich nicht.«

Lehmann ließ das Geschöpf Pinneberg zappeln, dann kam Herr Spannfuß und ließ das Geschöpf Lehmann zappeln. Eines Tages wird auch der sportlich trainierte Herr Spannfuß zappeln. So war diese Welt, eigentlich war es kaum ein Trost, daß alle dran kamen.

Worüber war Herr Lehmann gefallen? Ging man dem Wort nach, akzeptierte man den Entlassungsgrund, so war Lehmann über den Mann Pinneberg gefallen. Seht, der tüchtige Herr Spannfuß hatte herausgeschnüffelt, daß der Personalchef Lehmann seine Befugnisse überschritten hatte, in dieser Zeit des Personalabbaus hatte er Günstlinge eingestellt. Er hatte behauptet, sie kämen aus Filialen, aus Hamburg, Fulda oder Breslau, Spannfuß hatte diese Behauptungen entlarvt.

In Wahrheit wußten alle, das war nur der vorgeschobene Entlassungsgrund. Günstlinge wurden immer eingestellt, nun war Herr Spannfuß daran, den Betrieb mit seinen Leuten zu durchsetzen. Aber daß er das in Ruhe konnte, dafür war ein abgesägter Lehmann die Voraussetzung. Was zwanzig Jahre jeder gewußt hat, im einundzwanzigsten ist das Maß voll –, hatte Herr Lehmann nicht direkt Fälschungen vorgenommen?

»Kommt von der Filiale Breslau«, hatte Lehmann in die Personalakte eintragen lassen, und der Mann kam von Kleinholz in Ducherow. Lehmann konnte Herrn Spannfuß noch dankbar sein, eine strafrechtliche Verfolgung lag keinesfalls außer dem Bereich der Möglichkeit. Lehmann sollte bloß nicht den Mund aufreißen.

Oh, wie riß Herr Lehmann den Mund auf, als er den ehemaligen Angestellten Heilbutt traf! War Herr Heilbutt nicht mit diesem kleinen, untersetzten Angestellten befreundet gewesen –, diesem, wie hieß er doch gleich, Pinneberg? Den hatten sie auch schön geschliffen, den kleinen dummen Kerl! Weil er nicht genug verkauft hatte? I wo, der Mann verkaufte genug, nach Heilbutts Weggange war er der einzige in seiner Abteilung gewesen, der das Soll einigermaßen erfüllt hatte. Darum hatte er wohl unter den andern Angestellten besondere Freunde gehabt, darum hatte wohl in seiner Personalakte ein Brief gelegen, ein anonymer Brief natürlich, daß dieser Pinneberg in einer Sturmabteilung der Nazis sei!

Lehmann hatte sich immer gedacht, es sei Quatsch, wie hätte Pinneberg denn sonst grade mit Heilbutt befreundet sein können? Aber es war zwecklos, dagegen anzureden, Spannfuß glaubte nur seinen Jänecke und Keßler, und außerdem stand mit beinahe notorischer Gewißheit fest, daß der Angestellte Pinneberg jener Mann gewesen war, der auf die Wände des Personalklosetts mit Ausdauer Hakenkreuze gemalt hatte und »Juda verrecke!« und einen Galgen mit einem dicken Juden daran und der Unterschrift »Oh Mandel, welch ein Wandel!« Diese Zeichnungen hatten mit Pinnebergs Abgang aufgehört, die Klowände blieben nun fleckenlos weiß –, und einen solchen Mann hatte Herr Lehmann als aus Breslau kommend eingestellt!

Lehmann war über Pinneberg gefallen und Pinneberg über Keßler, er konnte jetzt Betrachtungen darüber anstellen, wie vorteilhaft es war, ein guter Verkäufer zu sein, gerne und mit Liebe zu verkaufen und bei einer Baumwollhose zu sechseinhalb mit dem gleichen Elan zu kämpfen wie bei einem Frackanzug für hundertzwanzig! Jawohl, es gab eine Solidarität der Angestellten, die Solidarität des Neides gegen den Tüchtigen, die gab es!

Da geht er hin, der Mann Pinneberg, er ist jetzt in der Friedrichstraße, aber auch Wut und Zorn werden etwas Altes. So ist ihm geschehen, man kann darüber wüten, aber es hat im Grunde keinen Sinn, darüber zu wüten. Es ist so!

Pinneberg ist früher viel in der Friedrichstraße spazieren gegangen, er ist gewissermaßen zu Haus hier, darum merkt er auch, wie viel mehr Mädchen jetzt hier stehen als früher. Es sind natürlich längst nicht alles Mädchen, viel unlauterer Wettbewerb ist dazwischen, schon vor anderthalb Jahren haben sie im Geschäft erzählt, daß viele Frauen von Erwerbslosen auf den Strich gehen, um ein paar Mark zu verdienen.

Das ist wahr, man sieht das, viele sind so völlig aussichtslos, reizlos, oder wenn sie hübsch sind, mit solch gierigem Gesicht, geldgierigem Gesicht.

Pinneberg denkt an Lämmchen und an den Murkel. »Wir haben es doch noch nicht schlecht«, sagt Lämmchen immer. Sicher hat sie auch damit recht.

Die Polizei scheint noch immer nicht ganz zur Ruhe gekommen zu sein, alle Posten stehen doppelt und auf dem Bürgersteig sind auch alle Naselang ein paar unterwegs. Pinneberg hat an sich nichts gegen die Schupos, die müssen sein, natürlich, namentlich die vom Verkehr, aber er findet doch, sie sehen herausfordernd gut genährt und gut gekleidet aus und sie benehmen sich auch etwas herausfordernd. Eigentlich gehen sie zwischen dem Publikum wie die Lehrer früher in der Pause zwischen den Schülern: benehmt euch anständig oder –!

Na laß sie.

Pinneberg rennt nun schon zum vierten Mal das Stück Friedrichstraße zwischen der Leipziger und den Linden auf und ab. Er kann noch nicht nach Haus, er kann einfach nicht. Wenn er zu Haus ist, ist wieder alles zu Ende, das Leben glimmt und schwelt hoffnungslos weiter, hier kann doch etwas geschehen! Zwar, die Mädchen sehen ihn nicht an, für die hier kommt er keinesfalls in Frage, mit dem verschossenen Mantel, den schmutzigen Hosen und ohne Kragen. Wenn er von Mädchen was will, muß er in die Gegend vom Schlesischen, denen ist es egal, wie er aussieht, wenn er nur Geld hat –, aber will er denn was von Mädchen?

Vielleicht ja, er weiß es nicht, er denkt auch nicht darüber nach.

Nur, er möchte einmal einem Menschen erzählen können, wie es früher war und was er für nette Anzüge gehabt hat und wie herrlich der Murkel doch ist ...

Der Murkel!

Nun hat er wahrhaftig die Butter und die Bananen für den vergessen und es ist schon neun, er kommt in keinen Laden mehr. Pinneberg ist wütend auf sich und noch trauriger, so kann er doch nicht nach Haus, was soll denn Lämmchen von ihm denken? Vielleicht kommt er hinten rum in irgend ein Geschäft? Da ist eine große Delikatessenhandlung, strahlend erleuchtet. Pinneberg drückt sich die Nase platt an der Scheibe, vielleicht ist hinten jemand im Verkaufsraum, dem er klopfen könnte. Er muß seine Butter und seine Bananen haben!

Eine Stimme sagt halblaut neben ihm: »Gehen Sie weiter!« Pinneberg fährt zusammen, er hat richtig einen Schreck bekommen, er sieht sich um. Ein Schupo steht neben ihm.

Hat er ihn gemeint?

»Sie sollen weitergehen, Sie, hören Sie!« sagt der Schupo laut.

Es stehen noch mehr Leute am Schaufenster, gutgekleidete Herrschaften, aber denen gilt die Anrede des Polizisten nicht, es ist kein Zweifel, er meint allein von allen Pinneberg.

Der ist völlig verwirrt. »Wie? Wie? Aber warum –? Darf ich denn nicht –?«

Er stammelt, er kapiert es einfach nicht.

»Machen Sie jetzt?« fragt der Schupo. »Oder soll ich –«

Über dem Handgelenk hat er den Halteriemen vom Gummiknüppel, er hebt den Knüppel ein wenig an.

Alle Leute starren auf Pinneberg. Es sind schon mehr stehen geblieben, es ist ein richtiger beginnender Auflauf. Die Leute sehen abwartend aus, sie nehmen weder für noch wider Partei, gestern sind hier in der Friedrich und in der Leipziger Schaufenster eingeworfen.

Der Schupo hat dunkle Augenbrauen, blanke gerade Augen, eine feste Nase, rote Bäckchen, ein schwarzes Schnurrbärtchen unter der Nase ...

»Wirds was?« sagt der Schupo ruhig.

Pinneberg möchte sprechen, Pinneberg sieht den Schupo an, seine Lippen zittern, Pinneberg sieht die Leute an. Bis an das Schaufenster stehen die Leute, gutgekleidete Leute, ordentliche Leute, verdienende Leute.

Aber in der spiegelnden Scheibe des Fensters steht noch einer, ein blasser Schemen, ohne Kragen, mit schäbigem Ulster, mit teerbeschmierter Hose.

Und plötzlich begreift Pinneberg alles, angesichts dieses Schupo, dieser ordentlichen Leute, dieser blanken Scheibe begreift er, daß er draußen ist, daß er hier nicht mehr hergehört, daß man ihn zu recht wegjagt: ausgerutscht, versunken, erledigt. Ordnung und Sauberkeit: es war einmal. Arbeit und sicheres Brot: es war einmal. Vorwärtskommen und Hoffen: es war einmal. Armut ist nicht nur Elend, Armut ist auch strafwürdig, Armut ist Makel, Armut heißt Verdacht.

»Soll ich dir Beine machen?« sagt der Schupo.

Pinneberg gibt sofort klein bei, er ist wie besinnungslos, er will auf dem Bürgersteig weiter rasch zum Bahnhof Friedrichstraße, er will seinen Zug erreichen, er will zu Lämmchen ...

Pinneberg bekommt einen Stoß gegen die Schulter, es ist kein derber Stoß, aber er ist immerhin so, daß Pinneberg nun auf der Fahrbahn steht.

»Hau ab, Mensch!« sagt der Schupo. »Mach ein bißchen dalli!«

Und Pinneberg setzt sich in Bewegung, er trabt an der Kante des Bürgersteiges auf dem Fahrdamm entlang, er denkt an furchtbar viel, an Anzünden, an Bomben, an Totschießen, er denkt daran, daß es nun eigentlich auch mit Lämmchen alle ist und mit dem Murkel, daß nichts mehr weiter geht ... aber eigentlich denkt er an gar nichts.

Pinneberg kommt an die Stelle, wo die Jägerstraße die Friedrichstraße kreuzt. Er will über die Kreuzung fort, zum Bahnhof, nach Haus, zu Lämmchen, zum Murkel, dort ist er wer ...

Der Schupo gibt ihm einen Stoß. »Da lang, Mensch!«

Er zeigt in die Jägerstraße.

Noch einmal will Pinneberg meutern, er muß doch zu seinem Zug. »Aber ich muß ...«, sagt er.

»Da lang, sage ich«, wiederholt der Schupo und schiebt ihn in die Jägerstraße. »Hau ab, aber ein bißchen fix, alter Junge!« Und er gibt Pinneberg einen kräftigen Stoß.

Pinneberg fängt an zu laufen, er läuft sehr rasch, er merkt, sie sind nicht mehr hinter ihm, aber er wagt es nicht, sich umzusehen. Er läuft auf seinem Fahrdamm weiter, immer geradeaus, in das Dunkel, in die Nacht hinein, die nirgendwo wirklich tiefschwarze Nacht ist.

Nach einer langen, langen Zeit verlangsamt er seinen Schritt. Er bleibt stehen, er sieht sich um. Leer. Nichts. Keine Polizei. Vorsichtig hebt er einen Fuß und setzt ihn auf den Bürgersteig. Dann den anderen. Er steht nicht mehr auf dem Fahrdamm, er steht wieder auf dem Trottoir.

Und nun geht Pinneberg weiter, Schritt für Schritt, durch Berlin. Aber es ist nirgendwo ganz dunkel und es ist sehr schwer, an den Schupos vorbeizugehen.


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