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Viel zu wenig Abwasch! Die Erschaffung des Murkel. Auch Lämmchen wird schreien

Es ist nicht ganz leicht, mit dem Gedanken ›Vielleicht werde ich sie nie wiedersehen‹ in einer leer gewordenen Wohnung zu stehen. Für Pinneberg jedenfalls war es nicht leicht. Zuerst war ja immer noch der Abwasch da, sich daran zu halten, und Pinneberg besorgte ihn langsam und gründlich, er ging jedem Topf mit Ata und Strohwisch zu Leibe, an ihm sollte es nicht liegen. Seine Gedanken wanderten dabei eigentlich nicht recht weiter, da war nun dies mit blauen Buchstabenkränzen bedruckte Hemd, und sie sah gerötet und kindlich aus, und dann war es alle?

Nein.

Der Abwasch war zu Ende. Was nun? Ihm fiel ein, daß er schon längst die Tür mit einem Filzstreifen gegen Zug hatte dichten wollen, er war nie dazu gekommen. Der Filzstreifen lag seit Anfang des Winters da und Blauköpfe auch. Jetzt war März, nun ging er an die Arbeit. Er paßte den Streifen genau ein, heftete ihn provisorisch an und versuchte, ob die Tür schloß. Sie schloß. Und nun machte er den Filzstreifen fest, Blaustift um Blaustift, er hatte alle Zeit, vor sieben hatte es wohl kaum Zweck, anzurufen. Übrigens würde er nicht anrufen, sondern hingehen. Man sparte einen Groschen und erfuhr vielleicht mehr. Vielleicht durfte man sie sogar sehen.

Aber vielleicht sah man sie nie wieder.

Nun blieben noch ihre Kleider wegzuhängen, sie rochen so gut nach ihr, ihren Geruch hatte er immer geliebt. Natürlich war er nicht nett genug zu ihr gewesen, und zu oft war er brummig gewesen, und richtig an das gedacht, was sie bekümmerte, hatte er auch nicht. All solches Zeug. Natürlich dachten alle Männer an solche Geschichten, wenn es vielleicht zu spät war, wie üblich, hatte die Oberschwester gesagt. Es war wirklich wie üblich. Sie war zwecklos, solche Reue.

Fünf Uhr fünfzehn. Vor gut einer Stunde war er erst aus dem Krankenhaus fortgegangen und schon hatte er nichts mehr zu tun. Er warf sich auf das große Wachstuchsofa und lag da, das Gesicht in den Händen verborgen, er lag lange still. Ja, er war klein und elend, er schrie und krakehlte und brauchte seine Ellbogen, um seinen Platz zu halten im Leben, aber verdiente er einen Platz? Er war ein Garnichts. Und um seinetwillen mußte sie sich quälen. Hätte er nie ... wäre er nie – hätte er doch immer ...

Da lag er, denken konnte man es nicht nennen, es trieb in ihm, er tat nichts dazu.

Man mag in einer halben Schiffskabine liegen, in Berlin NW, auf einem Wachstuchsofa, nach einem Garten hinaus: der Lärm der Großstadt kommt doch zu einem. Nur daß er hier verschmolzen ist, aus tausend Einzelgeräuschen in ein großes allgemeines Geräusch. Das schwillt und nimmt ab, das wird ganz laut und ist fast fort, als hätte es der Wind geschluckt.

Pinneberg liegt da, das Geräusch erreicht ihn und hebt ihn auf, dann senkt es ihn langsam nieder, er fühlt, wie das kühle Wachstuchsofa seinem Gesicht entgegenkommt, ihn hebt und senkt, und doch nie aus dem Arm läßt, das ist wie die Dünung der See. Die geht auch so zwecklos vor sich hin, immer weiter, warum eigentlich –?

Lensahn hieß der Ort und von Ducherow gab es Sonntagsrückfahrkarten dahin. An einem Sonnabend um zwei fuhr Pinneberg los, es war Frühsommer, Mai oder Juni. Nein, es war Juni gewesen. Bergmann hatte ihm frei gegeben.

Lensahn ist nicht sehr weit ab von Platz. Und so kam es, daß das Dorf voll war von Menschen, das Radio lärmte aus allen Wirtshausgärten und am Strand tobten sie wie die Wilden.

Nun ist es aber so mit einem tüchtigen Sandstrand, daß er verlockt, weiter zu gehen, immer weiter. Pinneberg zieht Schuh und Strümpfe aus und wandert dahin. Er hat keine Ahnung, wohin er geht, ob hier überhaupt noch ein Ort kommt, aber ist das nicht gleichgültig?

Er läuft ein paar Stunden, er sieht keinen Menschen mehr, er setzt sich am Strande hin und raucht eine Zigarette.

Dann steht er wieder auf und geht weiter. Ach, dieser Strand, mit seinen Buchten und Vorsprüngen, manchmal sieht es aus, als käme hinter dieser Dünennase gar nichts mehr, als ginge man direkt ins Meer. Und dann geht es doch weiter, mit einer unendlich sanften Schwingung landeinwärts. Eine große Bucht, erfüllt von blauem weißköpfigem Wasser, und eine neue Dünennase, drüben, ganz drüben.

Noch bis dahin und dann kommt wirklich gar nichts mehr.

Es kam doch noch etwas, sogar außer der obligaten Bucht, es kam ihm ein Mensch entgegen. Erst runzelte er die Stirn, es war ja nur ein schwarzer Strich, ein Mensch also, was machten Menschen hier draußen? Sie sollten in Lensahn bleiben.

Als sie sich näher kamen, sah er, es war ein Mädchen, sie wanderte barfuß und storchenbeinig mit breiten Schultern in einer rosa Seidenbluse und einem weißen Faltenrock, ihm entgegen.

Es war gegen Abend, der Himmel färbte sich schon rötlich.

»Guten Abend«, sagte Pinneberg und blieb stehen und sah sie an.

»Guten Abend«, sagte Emma Mörschel, blieb stehen und sah ihn auch an.

»Gehen Sie doch nicht dahin«, sagte er und zeigte, woher er gekommen war. »Da ist lauter Jazz, Fräulein, und die Hälfte ist betrunken.«

»Ja?« sagte sie. »Aber gehen Sie auch nicht dahin«, und sie zeigte in die Richtung, aus der sie kam. »In Wiek ist es nicht anders.«

»Was machen wir da?« fragte er und lachte.

»Ja, was ist zu machen?« fragte auch sie.

»Essen wir hier zu Abend«, schlug er vor.

»Mir ist es recht«, sagte sie.

Sie stapften in die Dünen, sie saßen in einer Mulde wie in einer großen freundlichen Hand, der Wind strich über die Dünenkuppen über ihre Köpfe fort. Sie tauschten harte Eier und Wurstbrote aus, er hatte Kaffee in der Thermosflasche, sie Kakao.

Sie schwätzten auch ein bißchen und lachten. In der Hauptsache aber aßen sie sehr gründlich und ausdauernd. Im übrigen waren sie einig, daß Menschen gräßlich seien.

»O Gott, ich möchte gar nicht nach Lensahn«, sagte sie.

»Und ich nicht nach Wiek«, sagte er.

»Also was machen wir?«

»Jetzt baden wir erst mal.«

Die Sonne war herunter, aber noch war es hell. Sie liefen hinein in die sanfte Brandung, sie spritzten sich und lachten. Sie waren gute Bürger, jedes hatte seinen Badeanzug mitgebracht und jedes sein Handtuch. (Pinneberg allerdings das seiner Wirtin.)

Später saßen sie da und wußten nicht, was tun.

»Also gehen wir?« sagte sie.

»Ja, es wird kalt.«

Und sie blieben sitzen, stumm.

»Gehen wir nun nach Wiek oder Lensahn?« fragte sie nach einer langen Weile.

»Mir ist es gleich«, sagte er.

»Mir auch«, sagte sie.

Wieder eine lange Stille. Das Meer kommt in einer solchen Stille, es tritt ein in das Gespräch, es wird lauter.

»Also gehen wir«, sagte sie noch einmal.

Er legte ganz vorsichtig und leise seinen Arm um sie. Er zitterte ebenso wie sie. Das Wasser wurde sehr laut.

Er neigte seinen Kopf über sie, ihre Augen waren dunkle Höhlen, in denen Glanz war.

Seine Lippen legten sich auf ihren Mund, der Mund teilte sich willig, kam ihm entgegen, tat sich auf.

»O!« sagte er und atmete tief auf.

Dann senkte sich seine Hand leise von ihrer Schulter, ging tiefer, unter der weichen Seide fühlte er ihre Brust, voll und fest. Sie machte eine kleine Bewegung.

»Bitte ...«, sagte er leise.

Und die Brust kam zurück in seine Hand.

Und plötzlich sagte sie: »Ja. Ja. Ja.«

Es war wie ein Jubel. Es kam ganz tief aus ihrer Brust heraus. Sie warf ihre Arme um seinen Hals, sie preßte sich an ihn. Er fühlte, wie sie ihm entgegenkam.

Sie hatte dreimal Ja gesagt.

Sie wußten nicht einmal, wie sie hießen. Sie hatten sich nie vorher gesehen.

Das Meer war da, und über ihm der Himmel – Lämmchen konnte ihn gut sehen – wurde immer dunkler und die Sterne kamen, einer nach dem andern.

Nein, sie wußten nichts voneinander, sie fühlten nur, daß sie jung waren und daß es gut ist, einander zu lieben. An den Murkel dachten sie nicht.

Und nun kam er ...

Die Stadt braust heran. Es war herrlich gewesen, es war herrlich geblieben, es war das große Los gewesen, das Mädchen aus den Dünen war die beste Frau von der Welt geworden. Nur er nicht der beste Mann.

Pinneberg stand langsam auf. Er machte Licht und sah auf die Uhr. Es war sieben. Sie war drüben, drei Straßen weit ab von ihm. Da geschah es nun.

Er zog den Mantel an und lief hinüber. Der Pförtner fragte: »Wohin denn jetzt noch?«

»Entbindungsheim. Ich ...« Aber er braucht nichts zu erklären.

»Immer geradeaus. Der letzte Pavillon.«

»Danke«, sagt Pinneberg.

Er läuft zwischen den Häusern hin, in allen Fenstern ist Licht, unter jedem Licht stehen vier, sechs, acht Betten. Da liegen sie. Hunderte, Tausende, sie sterben langsam und rasch, sie werden auch wieder gesund, um etwas später zu sterben, es ist eine traurige Geschichte um das Leben.

Im Entbindungsheim auf dem Gang, das Licht ist so düster. Im Zimmer der Oberschwester kein Mensch. Er steht entschlußlos da. Eine Schwester kommt: »Na?«

Er erklärt, er heiße Pinneberg, er möchte gern hören ...

»Pinneberg?«, sagt die Schwester. »Einen Augenblick ...«

Sie geht durch eine Tür, die Tür ist gepolstert. Dann kommt direkt dahinter noch eine Tür, auch diese Tür ist gepolstert. Diese Tür schließt sie.

Pinneberg steht und wartet.

Dann kommt aus der gepolsterten Tür eilig eine Schwester, wieder eine andere, dunkel, untersetzt, sehr energisch.

»Herr Pinneberg? Es geht alles gut. Nein, es ist noch nicht soweit. Vielleicht rufen Sie noch mal um zwölf an. Nein, es geht alles gut ...«

In diesem Augenblick ertönt hinter der Polstertür ein Gebrüll, nein, es ist kein Gebrüll, es ist ein Geschrei, ein Gewimmer, eine jagende Serie von hervorgerissenen Qualschreien ... es ist nichts Menschliches, keine Menschenstimme hört man daraus ... Und ebbt ab.

Pinneberg ist kalkweiß geworden. Die Schwester sieht ihn an. »Ist es«, fragt er stotternd, »ist das meine Frau? –«

»Nein«, sagt die Schwester. »Das ist Ihre Frau nicht, Ihre Frau ist noch nicht so weit.«

»Muß«, fragt Pinneberg, und seine Lippen beben, »... muß meine Frau auch so schreien ...?«

Die Schwester sieht ihn wieder an. Vielleicht denkt sie, es ist ganz gut, wenn er weiß, die Männer sind heute nicht sehr nett zu ihren Frauen. »Ja«, sagt sie. »Die erste Geburt ist meistens schwer.«

Pinneberg steht und horcht. Aber das Haus ist still.

»Also um zwölf«, sagt die Schwester und geht.

»Danke schön, Schwester«, sagt er und horcht noch immer.


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