Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel

Mutter Krautsch hatte sichs in schlafloser Nacht überlegt. Sie wollte der Sache ihren Lauf lassen. Anton hatte ja Mariechens Jawort, möchte es jetzt darauf ankommen, wie Frau Mau sich dazu stellte. War doch alles so lange, lange her. Anton selbst hatte ja kaum mehr eine Erinnerung aus den Jahren dieser ersten Kinderzeit. Ebensowenig Mariechen. Wenn Frau Mau nun alles überwunden hätte und schwieg, so wollte sie doch sicher nicht diejenige sein, die wieder daran rührte und Anton diesen Schatten auf seinen Lebensweg würfe. Anton freute sich, seine Mutter am nächsten Morgen soviel nachgiebiger zu finden.

»Du mußt es ja wissen, mein Sohn, ob es zu deinem Glück ist,« sagte Mutter Krautsch. »Mich kommt es so überraschend. Und das mit Lene und die ganze alte Geschichte. – Wenn man alt ist, nimmt einem das ümmer ganz anders mit.«

»Du alt?« lachte Anton. »Oll Mutter, dor hest noch n beten Tid mit.«

»Seggst woll, Anton, seggst dat woll, aber der Mensch nimmt mal ab und wenn denn allens so auf ihn reinbricht –«

»Was bricht denn rein? Ne kleine niedliche Schwiegertochter. Das wirst doch wohl noch aushalten können.«

Er faßte sie um und küßte sie. Er tat das selten. Aber heute war ihm das Herz zu voll. Er konnte die Zeit nicht erwarten, wo er sich wieder auf den Weg zu Maus machen dürfte. Wie langsam schlichen die wenigen Stunden. Er spielte mit Hellachen und dachte: Nachher hast du auch so n kleinen Wurm. Dabei wurde es ihm wunderlich zu Sinn. Er als Papa. Mit Frau und Kind. – Na, das war ja noch ein bißchen hin, aber er lachte doch still in sich hinein bei diesem Ausblick in die Zukunft.

Lene, die wohl merkte, daß Mutter und Sohn was auf dem Herzen hatten, aber mit keinem Gedanken das Rechte traf, freute sich, daß »Onkel Anton« so nett mit ihrer Kleinen war. Wenn er der Vater ihres Kindes wäre! Er und nicht Fritz Kleesand. Aber das war jetzt ein dummer Gedanke. Anton dachte wohl noch nicht ans Heiraten. Einmal würde freilich wohl die Zeit kommen. Was er sich dann wohl für eine aussucht? Vielleicht hat er schon in Kiel eine sitzen. Er spricht sich über solche Sachen ja nicht aus. Er war ja immer schon so komisch, was die Mädchen anbelangt.

Nachmittags machte Anton sich fein. Er hatte doch Herzklopfen jetzt. Wie würde Frau Mau ihn aufnehmen? »Zwischenkommen kann da nichts mehr,« sagte er zu sich selbst. »Mariechen ist ja volljährig. Wenn sie will, ist alles in Ordnung, und sie will ja.«

»Wenn ich wiederkomme, bring ich ihr gleich mit, Mutter,« sagte er laut.

»Is recht mein Jung, geh nur erst mal hin. Das andre findet sich ja dann alles. Du bist ordentlich n büschen blaß.«

»I wo!«

Er sah aber doch in den Spiegel. War er wirklich blaß? Es mag ja sein. Schwer ist so ein Gang ja immer. Nun war ihm wirklich etwas beklommen zumute. Was mußte seine Mutter auch von Blaßsein sprechen.

»Hast nicht noch n Schluck Portwein, Mutter?«

»Ne mein Jung, da is wohl nichts mehr ein. Aber n kleinen Pfeffermünz.«

Anton nahm einen kleinen Pfeffermünz, trank aber gleich ein Glas Wasser hinterher. »So n pfeffermünzigen Kuß wird sie auch nicht mögen.«

Endlich ging er.

»Adjüs Mutter. Heute abend gibt es Punsch.«

Lene, die das von der Küche aus gehört hatte, fragte verwundert: »Was ist denn los?«

»Was soll los sein?«

»Ich mein, von wegen dem Punsch.«

»Ach, er is man büschen übermütig heute,« sagte Mutter Krautsch.

Anton war indessen kaum auf die Straße getreten, als ihn der Briefträger anhielt. Ein Brief? Er bekam nicht oft Briefe. So griff er hastig danach und öffnete ihn ungeschickt.

»Von Hugon? Was will der denn?«

Es waren nur wenige Zeilen, aber Anton las sie dreimal, viermal. Jetzt war er wirklich blaß, totenblaß. Die Leute sahen sich nach ihm um.

Plötzlich riß er sich aus seiner Erstarrung. Alles Blut schoß ihm stürmisch zu Kopf.

»Das ist nicht wahr. Das lügt er!«

Mutter Krautsch erschrak, als er wieder zurückkam, einen offenen Brief in der Hand, zitternd vor Erregung.

»Was is dich? Anton, was is?«

»Mutter!«

Er rang nach Atem.

»Da, da!«

Er warf den Brief auf den Tisch.

»Lene, ga rut! Dat geiht di nix an!«

Anton schob Lene zur Tür hinaus.

»Lies dat erst. Lies dat mal!«

Mutter Krautsch, von bangen Ahnungen erfüllt, nahm zitternd den Brief.

»Anton, dat is n Niedertracht, dat is n jämmerliche Niedertracht!«

Sie fiel in ihre Sofaecke zurück und starrte Anton mit ängstlichen, fast irren Augen an.

»Dat lügt he. Is dat wohr, Mutter.«

»Mien Söhn! Mien Söhn! Mien arme Söhn,« jammerte Mutter Krautsch.

»Is dat wohr Mutter?«

»Wat schrifft he?«

Mutter Krautsch griff nochmals nach dem Brief.

»Sozusagen Mörder des kleinen Willi – o, disse Bengel, de Hugo de, dat is infam, dat is ja infam.«

»Wo het he dat her? Mutter? Wat is daran wohr? Ick will dat wet'n.«

»Ne, mien Söhn, du bist ken Mörder. Bin allmächtigen Gott nich.«

»Aber da möt doch was Wohres an sien. Dat kann he doch nich ut de Luft grip'n.«

»Dat kann he nich. Ne, dat hett he von ehr. Dat hett se em seggt, wenn dor nich n anner över sprek'n het.«

»Woröver? Da is wat. Dat hett wat to bedüden.«

»Ja, mien Anton, dat hett dat. Ick kann di dat ja nu nich länger verschwigen. Aber n Mörder bist nich. Ne mien Söhn, dat weet de leeve Gott, un dat weet ick un dat weet'n all Lüd.«

Als Anton von seiner Mutter erfahren hatte, um was es sich handelte, sagte er nur langsam: »Dat is dat?« Dann ging er mit schweren Schritten im Zimmer auf und ab.

»Ich mein, das is man Kinderkram gewesen, Mutter. Das is mir so, als hätt ichs gar nicht getan. Ich hab da ja niemals von gewußt. Und weiß auch jetzt nichts davon. Glauben muß ich es ja, und für Frau Mau is es ja schrecklich. Und für Mariechen, wenn sie es erfährt – und dann – auch für mich.«

Er setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände, sprang aber gleich wieder auf. »Nun sagt sie wohl nein. Da kann ich ja nichts bei machen. Dann muß ich das so hinnehmen. Aber von wegen Mord und so was« – er lachte hart auf.

»Das will ich vorn lieben Gott verantworten. Das is man bloß n Unglück, n Malör. Und das hat auch Frau Mau gar nicht gesagt. Das sagte die Frau Mau nicht. Das ist ein Schurkenstreich von Hugo.«

»Wie kommt der Jung dazu,« jammerte Mutter Krautsch.

»Da frag ich ihn nach, da verlaß dich auf.«

»Anton, laß dir man bloß nicht hinreißen.«

»Der? Der? Der is mir viel zu gemein. Man bloß anspucken!«

»Geh man bloß heute nicht mehr hin. Ich bitte dich, mein lieber Sohn.«

»Ne, sei nich bang. Als angeschuldigter Mörder geh ich nicht wieder in das Haus. Erst soll alles ins reine.«

»Aber er wohnt ja doch bei ihr im Haus.«

»Ich schreibe.«

»An Hugo?«

Anton besann sich einen Augenblick.

»An Marie.«

»Das kannst du doch nicht so. Wenn die nun noch nicht davon weiß? Aber an ihre Mutter kannst du schreiben, so und so hätte Hugo dich geschrieben.«

»Und ich käme nicht eher wieder, bis alles aufgeklärt ist.«

»Ja, so tu das man, mein Sohn, so is es denn wohl auch am besten. Oder soll ich mal hingehen?«

»Du Mutter? Keinen Schritt. Solang dein Sohn n Mörder ist? Nein, dazu bist du zu gut.«

Wie anders hatte Anton sich diese Nachmittagsstunden geträumt. Statt Mariechens liebe Lippen zu küssen, malte er nun mit schwerfälliger Hand seine großen Buchstaben aufs Papier. Es war ein schwerer Brief, nicht weil ihm die Gedanken, sondern weil ihm die Hand nicht gehorchen wollte. Viel war es nachher nicht, was da stand, aber es genügte und dünkte ihm selbst gut und würdig, als er es noch einmal durchlas.

»Sehr geehrte Frau Mau!

Hugo Winsemann schreibt mir, daß ich der Mörder Ihres Willi bin. Ich fühle mich nun keines solchen furchtbaren Verbrechens schuldig. Hugo muß es mal vor Gott verantworten, daß er so schlecht an mir jetzt handelt. Meine Mutter hat mich alles erzählt und tut mir das Herz weh, daß ich Sie solchen Kummer gemacht habe. Aber ich war doch man noch klein und ist allens nur ein schweres Malöhr gewesen. Zu Mariechen kann ich nun nicht eher wieder hinkommen, als bis Sie mich schreiben, daß ich es tun soll. Soll ich es nicht, so muß ich es ja auf mich nehmen. Grüßen Sie Ihr Fräulein Tochter. Ich hätte das ja alles nicht gewußt und fühlte mich gänzlich unschuldig. Einem Mörder sollen Sie Ihr Kind nicht geben, womit ich verbleibe und grüße als

Ihr Anton Krautsch.

Antons Ruhe und Selbstbeherrschung war mit dem Schreiben erschöpft. Er fing an, sich mit jenem schrecklichen Unglück aus seinen Kindestagen zu beschäftigen, grübelte sich hinein und kam sich zuletzt doch fast wie ein Mörder vor. Er scheute sich auf die Straße zu gehen, und Mutter Krautsch mußte den Brief selbst nach dem Briefkasten tragen.

Lene Lerch, die einzelne erregte Worte aufgefangen hatte, bekam ihre Neugierde gestillt.

»Besser sie weiß allens, als sie denkt sich allerlei zurecht,« sagte Mutter Krautsch.

Lene fand das alles nicht so schlimm.

Das konnte doch jedem mal passieren. Ein reines Malheur.

»Das hab ich überhaupt längst gewußt, daß da nichts an war.«

»Du hast das gewußt? Woher? Bist wohl nicht klug, Deern.«

»Ich war doch auch kein Kind mehr damals. Und die alte Cyriaksen und – ich weiß nicht, wer die andern noch waren, die quasselten mal so was zusammen. Ganz hab ich es ja nicht verstanden. Und geglaubt hab ich es auch nicht. Nur einmal, als Mutter so weinte. Aber dann war Frau Mau wieder so freundlich mit Anton, und Anton war immer so vergnügt.«

»Und all die Zeit hast du dir gar nichts dabei gedacht und gar nichts mal davon gesprochen.«

»Ne, Vater lebte ja noch. Und denn war ich da ja auch noch ümmer so n büschen bang, und nachher wurde da ja überhaupt nicht mehr von gesprochen, und da dachte ich: Das ist doch man allens Unsinn.«

»Deern, Deern. Und das hast du allens gewußt,« rief Mutter Krautsch. »Mich wird ganz schlecht bei dem Gedanken.«

»Wie gut, daß Hugo Winsemann nicht früher davon gewußt hat,« meinte Lene. »Der Bengel ist ja wohl verrückt. Der will die Deern man selber haben. Sollt man sehen, das ist nur so n eifersüchtiger Filoustreich.«

»Ja, das is er, Anton, hörst es? Lene hat ganz recht, weiter is es auch woll gar nichts gewesen. Nun wird mir allens klar. Er will ihr man selber haben, und nun schwärzt er dich an und will dich zurückhalten damit.«

»Damit wird es nicht anders, Mutter. Einmal is ja doch so n bischen was Wahres dabei, und dann ist das ne ganz furchtbare Niedertracht vom Hugo. Und das soll er fressen, fressen soll er das!«

Lene dachte an den Punsch, den Anton sich für den Abend bestellt hatte. Er tat ihr leid.

»Ja, ja, mit der Liebe is das man nicht so,« dachte sie. »Das weiß ich am besten. Da kommt oft was zwischen. Wenn nicht früher, dann nachher. So ne gemeine Handlungsweise von dem Hugo. So was hätte Fritz nie getan. Aber er hat ja all immer um ihr rumscharwenzelt. Schon als Jung. Sie war da ja immer schon auf aus. So kokett wie sie ist. Nun sieht sie, was sie angerichtet hat. Anton hätte man besser getan und wäre davon geblieben. Viel los is da ja doch nicht.«

Das waren Lenens Gedanken, die ja nie gut auf Mariechen Mau zu sprechen war und ihr nun Anton gönnen sollte.

»Eigentlich wäre es man ganz schön, wenn es auf die Art wieder auseinanderkäme. Das is doch nichts Rechtes für ihn.«

Aber vorläufig sah es nicht so aus, als ob es gleich wieder auseinanderkommen sollte, denn am andern Morgen – es war ein »Sauwetter«, wie sämtliche Frühkunden Mutter Krautschens versicherten – kam Mariechen Mau im Regenmantel und unter dem Regenschirm, den sie nicht ohne Mühe im Wind niederspannte, als sie sich anschickte, die Treppe zu Krautschens Keller hinunterzusteigen.

Anton hatte sie vom Sofa aus kommen sehen, stand jetzt mit beiden Fäusten auf den Tisch gestützt und starrte auf die Tür. Er hörte sie draußen sprechen.

»Ist Ihr Sohn zu Hause?«

»Ja, warten Sie mal n Augenblick. Bin gleich fertig.«

Aber es dauerte nach Antons Meinung eine Ewigkeit, bis seine Mutter fertig war. Sollte er hinausgehen? Was wollte sie? War das zum Guten oder zum Bösen?

Endlich öffnete sich die Tür.

Er stand noch immer in derselben Stellung.

»Fräulein – Mau –« wollte er sagen, aber sie kam ihm zuvor. »Anton!«

Mit beiden ausgestreckten Händen kam sie ihm entgegen.

»Was n Unsinn, was n Blödsinn!«

Sie lachte. Es war mehr ein mißglückter Versuch dazu.

»Das hat er dir angetan?«

Es kam nur noch schluchzend heraus, und als Anton, hilflos wie ein Kind, Tränen in den Augen, aber im Herzen noch einen Rest von Stolz und Scham, sich nur mühsam sammelte, fiel sie ihm um den Hals und weinte.

Mutter Krautsch konnte keine Tränen sehen und fing mit an zu weinen, und hier war sie wirklich die Nächste dazu. Sie weinte in ihr Schnupftuch, und als sie das überströmte Gesicht etwas erhob, sah sie, wie die beiden sich küßten. Sie ließen sich auch darin nicht stören. Konnte der Junge küssen!

»Anton, du tust ihr ja weh,« rief sie besorgt.

»Bist eifersüchtig, Mutter?«

Da kam sie auch an die Reihe.

Solchen Gemütsstürmen war sie nicht gewachsen.

Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Eckschrank und weinte sich aus. Mariechen aber erzählte.

»Meine Mutter denkt gar nicht daran. Das ist ja all lang in der Reihe. Hugo ist ja wohl n bißchen püttjerich geworden. Na, ich hab ihm den Kopf gewaschen, aber naß, sag ich dir. So klein ist er, so ganz klein. So ne Dummheit! Und warum?«

Sie lachte gutmütig und erzählte von Hugos Werbung.

»Kannst dir wohl denken, wie ihm das nu is, als er hörte, daß du den Treffer gemacht hast.«

»Sag ichs nicht?« rief Mutter Krautsch. »Lene hat recht gehabt.«

»Aber so was hätt ich doch Hugo nicht zugetraut.«

»Ne, für so gemein hätt ich ihn nicht gehalten!«

Antons Gesicht drückte tiefste Verachtung aus.

»Nein, er ist nicht so schlecht,« verteidigte Mariechen ihn. »n bischen überspannt. Er hats auch gleich bereut. Geheult hat er, sag ich dir. Und du mußt ihm das nicht nachtragen –«

»Nicht nachtragen?« unterbrach Anton sie heftig. »So was kann man nich einfach wegwischen wie n Dreck.«

»Hugo ist wie n Bruder zu mir, da ist nun mal nichts zu ändern. Alle die vielen Jahre. Und Unfrieden soll durch mich nicht kommen.«

»Durch dich?«

»Nu ja. Ich bin doch mal das Karnickel. Wenn ich ihn genommen hätt, wär er doch vernünftig geblieben.«

Anton fand, daß Mariechen die Sache etwas zu leicht nahm, aber Mutter Krautsch sah nur ihr gutes Herz darin.

»Sie hat recht, Anton. Das war n alter dummer Streich von ihm. Er is nich ganz bei sich gewesen. Wenn Fräulein Mau das auch so meint –«

»Fräulein Mau is gut,« sagte Mariechen dazwischen.

»Das kann ich nicht,« rief Anton. »Mit Hugon is es aus!«

»Ne, Anton. Ich hab es ihm versprochen, daß ich alles wieder ins Rechte bringen wollte. Und eh geh ich nich wieder weg. Regnen tuts auch noch, und es wartet sich hier ganz nett.« Sie warf einen Blick zum Fenster hinaus. »Wirklich n schönen Tag heute. Das muß ich sagen.«

Sollte er schelten, oder sollte er sich über Mariechens drollige Art freuen?

»So schnell kann ich da nich über weg,« sagte er.

»Sollst auch nicht gleich. Heut siehst ihn doch nicht mehr.«

Anton hatte ihr den Rücken gewandt und sah zum Fenster hinaus; der Regen klatschte auf das Trottoir und warf seine Spritzer gegen die Scheiben.

»Es is ihm eben sauer geworden, auf so n hübsches Mädchen zu verzichten, und das muß dich doch freuen, daß sie sich all so um mich haben,« sagte sie schelmisch und trat an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Und wenn ich bitt, kannst du doch nicht anders als ja sagen.«

Da wandte er sich um und schloß sie in seine Arme. »Deern, wenn de Hund dat je in sin Leben vergeten deiht, daß du för em beddelt hest ...«

Seine Stimme nahm einen drohenden Klang an, doch seine Augen sahen mit inniger Zärtlichkeit auf das schelmische Gesicht des Mädchens, das sich ihm voll entgegenhob.

»Der macht noch n Gedicht zu unserer Hochzeit, sollst mal sehen,« scherzte Mariechen.

»Deern, du bist n Racker!«

Er riß sie an sich und küßte sie.

Nun mußte auch Lene hereinkommen. Sie war befangen. Die Kleine hing an der Schürze. Aber Mariechen überhob sie der Befangenheit, indem sie gleich mit dem Kind an zu scherzen fing, vor ihm niederkniete und es in die Arme nahm.

»Wie heißt du denn?«

»Hella,« antwortete Lene für das Kind.

»Eigentlich heißt sie auch Lene,« sagte Mutter Krautsch.

»Ach Hella finde ich süß,« meinte Mariechen.

»Und wie sieht sie Ihnen ähnlich!«

Allen fiel das Sie auf, aber Lene sagte auch Sie und Fräulein Mau, und Mariechen sagte auch zu Mutter Krautsch Sie. Wie sollte sie auch anders sagen. Aber jeder hatte das Gefühl des Fremden und Steifen dabei. Gehörten sie denn eigentlich nicht alle zusammen von früher her?

Lene war glücklich, daß die Kleine ihr ähnlich sehen sollte, sie war Mariechen ordentlich etwas gut dafür. Sie widersprach zwar, das hätte noch niemand gesagt, und freute sich, daß Mariechen es lebhaft wiederholte, und daß auch Mutter Krautsch zustimmte.

Nur Anton dachte: Bis auf die Nase. Die muß bei Lene noch n bischen wachsen. Und er nahm im Übermut Lenens Nase zwischen zwei Finger, so daß sie ihm einen derben Klaps gab.

Mutter Krautschens Sorge war jetzt, etwas vorzusetzen. Aber was? Wein war nicht da. Bier paßte sich nicht. Aber einen Kirschlikör. Selbstgemachten Kirschlikör. Aller Widerspruch half nicht. Sie mußten mit Kirschlikör anstoßen. Und danach sagte Mutter Krautsch zum erstenmal: »Mien Dochder« zu Mariechen. Und jeder duzte den andern. Mariechen aber nahm Lenens Kleine auf den Schoß. Und als sie sie zurückgab, küßte sie sie. »Die finde ich aber nüdlich, Lene. Da könnt ich dich um beneiden.«

Alles lachte hell auf, nur bei Lene schlug es in Weinen um. Aber es waren Tränen, durch die ein Sonnenschein brach. Den hatte Mariechen ihr ins Herz geworfen.

Jetzt drängte diese Anton zum Aufbruch.

»Du mußt gleich mitkommen. So was muß schnell klar werden. Und Mutter ist doch am Ende die Hauptperson dabei,« setzte sie leise hinzu.

Da ging Anton mit ihr.

»Was n Tag, was n Tag,« sagte Mutter Krautsch. »Und dabei so n Wetter, nu sieh mal, wie es wieder klatscht. Wenn sie man nich so naß werden unterwegs. Sie sind nun beide so heiß. Bist du auch so heiß?«

Lene war auch so heiß.

»Ich muß man immer an Hugo denken,« sagte Mutter Krautsch, »und war so n kleinen netten stillen Jung früher.«

*

Hugo hatte seinen übereilten törichten Schritt sofort bereut. Er hätte alles darum gegeben, den Brief wieder zurückzubekommen. Aber es war zu spät.

Er hatte seiner Mutter nichts davon gesagt. Sollte er sich ihr jetzt anvertrauen? Aber er schämte sich gründlich. In dieser verzweifelten Stimmung war ihm Mariechens Einmischung eine Erlösung.

»Pfui! Pfui!« Mit diesem zweimaligen Ruf der Verachtung war sie ins Zimmer getreten und hatte ordentlich vor ihm ausgespuckt. Aber dann hatte sie sich gleich auf einen Stuhl fallen lassen und hatte laut geschluchzt.

Er stand blaß und wortlos zwischen Tisch und Sofa, und seine aufgestützten Arme schlotterten. Was sollte er sagen? Die Kehle war ihm wie zugeschnürt.

»Ich war wahnsinnig,« brachte er endlich heraus.

»Verrückt warst du!« fuhr sie auf und sah ihn aus überträntem Gesicht zornfunkelnd an. »Verrückt warst du!« stieß sie nochmals heftig hervor.

Er hatte die Empfindung, sie nie so schön gesehen zu haben, aber seine verletzte Eitelkeit machte ihm zu schaffen. Ausgespuckt hatte sie vor ihm.

»Ich schreib gleich nochmal,« sagte er gepreßt.

»Schreiben, schreiben,« höhnte sie. »Man gleich in Versen. Aufs Schreiben verstehst du dich ja.«

Er war totenblaß bei dem Spott geworden.

»Mariechen!« rief er. Es klang wie Schluchzen. –

»Ach was! All deinen gelehrten Kram und die ewigen alten Gedichte. Da hast du dir bloß den Kopf mit verdreht. Das is all so n Theaterkram, so n überspannten.«

»Das verstehst du doch wohl nicht, Mariechen,« sagte er ruhig und verweisend.

Sein überlegener Ton machte sie stutzig.

»Will ich auch gar nicht. Das ist ja auch alles ganz gut. Das mußt du ja auch selbst am besten wissen.«

»Die Dichter geben uns das Höchste und Heiligste.«

»Ach was. Das hört hier gar nicht her. Es handelt sich jetzt um Anton und deinen dummen Brief.«

Er schwieg und fuhr sich nur mit der Hand durch seinen Haarschopf.

»Was hast du dir eigentlich bei dem ganzen Quatsch gedacht? He?«

Sollte er sich wie ein Schuljunge von ihr ausfragen und abkanzeln lassen? Seine demütigende Lage trieb ihm Tränen der Wut und Scham in die Augen. »Was ich mir gedacht habe? Du? Du fragst mich darnach? Da! Da!« schrie er fast und griff in die Brusttasche und warf ihr ein beschriebenes Papier nach dem andern auf den Tisch. »Und du fragst? Und da – lies, lies!« herrschte er sie an. »Mein Herz, meine Seele! Mein Blut! Ja, mein Blut. Wenn du das verstehst. Aber was ist das dir! Und dann soll man nicht verrückt werden. Wenn du in diesen Busen sehen könntest!« Und als ob das pathetische Wort Busen ihn plötzlich aufs tiefste gepackt und erschüttert hätte, ließ er sich in die Sofaecke fallen und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus.

Mariechen hatte mit spöttischem Blick ein Papier nach dem andern auf den Tisch fliegen sehen, und sein Pathos hatte sie geärgert, denn sie witterte recht wohl eine wenn auch unbewußte Schauspielerei heraus. Seinen Tränen gegenüber aber wurde sie unsicher. Sie wurde verlegen, errötete und wünschte, sie hätte diese Szene nicht hervorgerufen.

Als er fassungslos weiterweinte, übermannte sie das Mitgefühl. Sie trat an ihn heran und legte leise die Hand auf seinen Arm.

»Hugo,« sagt sie mit leisem Vorwurf.

Er ließ ruhig ihre Hand auf seinem Arm und rührte sich nicht.

»Reg dich doch nicht so auf. Ich weiß ja, wie du es meinst. Wenn nur der alte Brief nicht wäre. Anton kann dir ja nie wieder gut sein. – Aber ich sag ihm –«

»Was willst du ihm sagen?« fuhr er auf.

»Daß es dir leid tut. Daß du selbst nicht weißt, wie du dazu gekommen bist.«

»Das wird auch viel nützen.«

»Laß mich nur machen. Ihr könnt Euch ja sonst nie wieder ins Gesicht sehen. Das muß sein, als ob es gar nicht gewesen wäre. So wie n bösen Traum.«

So sprach sie lange auf ihn ein, und es gelang ihr, ihn zu beruhigen.

Und dann machte sie sich auf den Weg zu Anton.

Er aber sammelte mit finsterer Stirn seine Marienlieder zusammen, steckte sie aber nicht wieder in die Brusttasche, sondern zerriß sie nach einem kurzen Schwanken in lauter kleine Fetzen.

Theaterkram hatte sie sein Versemachen und seine Schwärmerei für Kunst und Literatur genannt, überspannten Theaterkram.

Nein, sie verstand ihn nicht. Sie wäre am Ende doch nicht die Rechte für ihn gewesen. Sie war eine nüchterne Natur wie Anton. Seine Liebe zu ihr war ein Irrtum gewesen, ein schöner Traum. Ein Gedicht. – Gut. Das Gedicht war aus.

Aber was jetzt?

Mit einem unklaren, trostlosen Gefühl starrte er auf die zerfetzten Marienlieder, die zu einem kleinen Haufen zusammengeschoben vor ihm auf dem Tisch lagen.

Hätte er doch den unglücklichen Brief auch noch, um ihn ebenso vernichten zu können. –

Ob Mariechen Anton umstimmte? Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wirksamer und männlicher, er hätte einen zweiten Brief geschrieben. Doch das blieb ihm ja auch noch, wenn Mariechens Bemühungen fehlschlügen. Und wenn er mal zur Feder griff – einer so schlichten Natur wie Anton wollte er schon imponieren. Fast wünschte er, diesen Brief schreiben zu können, schön, hochtönend, voll Schwung und Edelsinn.

Aber dann dachte er, wenn Anton ihm Mariechen zuliebe verzieh, vielleicht zu ihm käme, ihm die Hand böte – wie sollte er sich benehmen, ohne sich etwas zu vergeben?

Vergeben? Konnte er sich dem gegenüber etwas vergeben? Wenn doch nur irgend etwas wäre, womit er ihn herabsetzen könnte. Aber war Anton nicht immer ein anständiger Kerl gewesen? Freilich immer etwas für sich, mehr ein guter Bekannter, als gerade Freund. Aber wie ritterlich war er stets gegen Christian gewesen. Und auf einmal stand ihm die Szene wieder vor Augen, wie Anton sich seinetwegen mit Fritz Kleesand geprügelt, als er seinen Vater beschimpft hatte. Damals, als sie noch Knaben waren. Auf der Insel Roß. Fritz Kleesand hatte noch seine Kognakflasche bei sich. Und davon kam der ganze Streit.

Und so die Jahre seiner Bekanntschaft mit Anton Krautsch durchdenkend, halb widerwillig, vergaß er ganz den eigentlichen Grund der jetzigen Entzweiung, bis sein Blick wieder auf die zerfetzten Verse fiel.

Und plötzlich schämte er sich. Eine heiße Blutwelle stieg ihm zu Kopf.

War es wirklich echte Liebe, die ihn durchglüht hatte? War nicht sehr viel Eitelkeit, sehr viel »Theaterkram« dabei gewesen? Wäre es nicht besser, sich das ehrlich einzugestehen, als den verschmähten Liebhaber zu spielen? Er kam sich lächerlich vor. Und noch einmal stieg ihm eine heiße Blutwelle in die Schläfen. Aber dann überkam ihm ein Wunderliches. Es kam gleichsam wie aus tiefster Brust heraufgekrochen, bis in den Hals hinein. Ein Beklemmendes. Er wollte aufatmen. Es klang wie ein gepreßter Seufzer. Er erkannte es jetzt. Wollte es abschütteln mit einem höhnischen Lachen. Aber es hatte ihn, und ließ ihn nicht. Ein lautes, krampfhaftes, fast pfeifendes Schluchzen rang sich aus seiner Kehle, und dann warf es ihn über den Tisch, über seine zerfetzten Marienlieder. Unaufhaltsam flossen die Tränen. Wie wohl das tat.

So überhörte er, daß seine Mutter anklopfte und auf sein Schweigen zögernd eintrat. Sie glaubte erst, er schliefe. Aber als sie erkannte, daß er weinte, trat sie schweigend näher. Sie wußte nichts von dem Brief und glaubte nun nicht anders, als seine Tränen gälten einzig Mariechens Verlust. Sie strich über seinen Scheitel.

»Hugo, das hilft nun nicht. Das haben viele durchmachen müssen. Das bist du nicht allein. Das gibt sich alles. Du findest schon ein anderes Mädchen.«

In diesen Worten zitterte der ganze Stolz auf ihren Sohn, der ihrer Meinung nach ganz andere Ansprüche machen konnte. Sie war erbittert auf Mariechen, daß sie den Schatz, der ihr in Hugo geworden wäre, nicht zu würdigen, nicht zu erkennen gewußt hatte.

»Mariechen ist ja ein ganz nettes Mädchen. Aber so eine kannst du doch jeden Tag noch kriegen.«

Und wieder lag ihr ganzer mütterlicher Stolz in dem »du«.

Und während ihre banalen Trostworte sanft auf ihn niederplätscherten und wirklich ein Echo in seinem Herzen fanden, wagte er doch nicht, den Kopf zu erheben, weil seine Mutter von der einzigen wirklich schlechten Handlung seines Lebens nichts wußte, und es ihm war, sie müsse es ihm vom Gesicht ablesen, daß sie nun nicht so stolz mehr auf ihren Sohn sein dürfe.

Und so fuhr sie fort, auf ihn einzureden.

»So begabt wie du bist und so gut, wie alle Leute von dir sprechen – sollst mal sehen. Dir steht noch ne ganz andere Zukunft offen. Und so schön, wie du nun all verdienst. Wenn das dein Vater noch erlebt hätte. Der war auch immer so für alles Höhere und Edle. Wenn er sich nur nicht so in das alte Dichten verbissen hätte. Da kommt selten was Ordentliches bei heraus. Ich bin man ordentlich froh, daß du dafür gar keine Ader hast.«

Jetzt ging zum erstenmal eine Bewegung durch Hugos Körper, als wollte er sich aufrichten. Aber er verharrte noch eine Weile in seiner Lage. Doch er konnte nicht immer so über den Tisch gebeugt bleiben. Und so fiel Frau Winsemanns Blick doch noch auf die Marienlieder.

»n Brief von ihr?« fragte sie.

Einen Augenblick besann er sich.

»An sie.«

Er errötete bei der Lüge, aber sie hielt das für die Farbe einer edleren Scham.

»Ist auch man ebensogut,« sagte sie. »Das steck nun man alles ins Feuer. Da würd ich mich nicht lange mit quälen. Komm, ich will das man gleich in den Herd werfen, es ist grad noch etwas Feuer da.«

Sie streckte schon die Hand aus, die Fetzen in ihre Schürze zu raken. Aber er wehrte ihr.

»Nein, laß man. Das tu ich selbst.«

»Recht so, Hugo. Und dann laß nun auch man alles aus der Welt sein.«

Sie folgte ihm in die Küche und rührte das Feuer noch einmal mit dem Eisen zu hellerer Glut auf.

*

Frau Mau hatte den ganzen Vormittag in ihrem Lehnstuhl am Fenster gesessen. Mariechen hatte abschließen müssen. Sie wollte ganz allein sein, ohne Störung. Sie dachte dabei besonders an Winsemanns. Einmal hatte es auch geschellt, aber sie war nicht von ihrem Platz gegangen. Mariechen hatte ja den Schlüssel, und weiter wollte sie keinen Menschen sehen heute. Das Wetter regnete an die Scheiben. Große schwere Regentropfen trommelten ordentlich gegen das Glas, und der Wind fegte stoßweise durch die nassen Straßen. Aber drinnen bei der alten Frau war Sonnenschein. Sie hatte bald den Weg ins Helle gefunden. Freilich mit Mariechens Hilfe, die tapfer zu ihrem Liebsten stand; und mit Hugos Hilfe, dessen Handlungsweise sie mit Entrüstung erfüllt hatte. Als hätte sie den häßlichen Brief selbst geschrieben, fühlte sie sich dadurch Anton gegenüber schuldig geworden.

Der arme Mensch. Hatten darum alle Wissenden jahrelang geschwiegen, damit die Geschichte ihm nun so plump und häßlich beigebracht wurde.

Nein, vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.

Diese Hilfe war ihr nötig gewesen, Gebetshilfe. Aber jetzt war auch geholfen.

Ihre Gedanken waren lange in der alten Zeit, und dann waren sie mit der Zeit weitergegangen bis zum heutigen Tage. Und was hatte als stilles, helles, tröstliches Licht diesen ganzen Weg begleitet? Hatte sie nicht an Mariechen einen Schatz behalten, um den man sie beneiden durfte? Und hatte Mariechen es nicht um sie verdient, daß sie ihr jedes Opfer brächte? Und war dies ein Opfer?

Ja, es war wohl eins, aber sie fühlte sich stark und freudig genug, es zu bringen all die Jahre, die sie noch mit Gottes Willen zu leben hatte. Und wenn er ihr Kind glücklich machte, ging darin nicht alles andere unter?

Da knarrte die Stiege. Da wurden Schritte auf dem Korridor laut, und ein Schlüssel suchte das Schlüsselloch.

Sie erhob sich und ging ihnen entgegen. Ihre Beine zitterten doch, und sie blieb mitten im Zimmer stehen, an den Tisch gestützt, die Augen auf die Tür gerichtet.

Und da traten sie ein. Anton voran, den Mariechen ins Zimmer schob.

»Da, Mutter,« sagte sie.

Sie sagte es laut und resolut. Aber es klang doch ein aufsteigendes und gewaltsam unterdrücktes Schluchzen hindurch.

Anton rang nach einem Wort.

Er warf einen hilflosen Blick hinter sich, als erwarte er, daß Mariechen etwas sage. Aber da kam Frau Mau ihm entgegen.

»Min Söhn,« sagte sie und faßte seine Hände, »min Söhn.«

Ende


 << zurück