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Fünftes Kapitel

Die Insel Roß lag wie ein Stück vergessene Wildnis, umrauscht von dem Strom des großen Weltgetriebes. Ein paar Krähen flogen lautlos auf, als das Boot an den Strand stieß. Fritz Kleesand vertaute es kunstgerecht, während die anderen unternehmend, wie rechte Eroberer, ihre Blicke umherwandern ließen. Dann warfen sie sich in den Sand und ruhten von den Anstrengungen des Ruderns aus. Hugo wollte sofort Feuer machen. Sein Appetit war zu rege geworden. Aber Anton fragte ihn ruhig und freundlich: »Bist du eigentlich verrückt?« Eine Frage, die nicht beantwortet wurde, aber doch den Ausschlag gab.

Aber »Einen aus der Buddel« wollte Fritz Kleesand doch erstmal nehmen. Er wäre verdammt heiß geworden. Und als Hugo den Proviantsack öffnete, verlangte Fritz auch gleich Schiffszwieback. Anton protestierte umsonst.

»Du kannst ja meinetwegen erst n Büffel jagen, oder n paar Indianer skalpieren,« meinte Fritz Kleesand gemütlich. »Ich bin hungrig.«

»Meinst, ich will allein jagen?« gab Anton zurück und sah Hugo auffordernd an. Aber Hugo hätte es nicht übers Herz gebracht, Fritz Kleesand ohne Aufsicht beim Proviant zu lassen. Da warf sich Anton wieder hin und fügte sich. Und so nahmen sie erst alle einen aus der Buddel und knapperten Schiffszwieback.

Vor ihnen lag das belebte Strombild im Glanz der langsam sich neigenden Sonne. Die weißen Segel der kleinen Fahrzeuge leuchteten auf und blitzten aus dem spiegelnden Wasser zurück. Die dunkleren Segel brannten förmlich in der Abendglut. Der Rauch aus den Schornsteinen der Dampfschiffe wiegte sich hier gemächlich auf den Flügeln des leisen Windes, flog dort in hastigen zerrissenen Flocken, da die kleine Barkasse ihn höchst eilig ausstieß und wie ein Hecht auf Raub stromabwärts schoß. Auf den jenseitigen Höhen leuchteten alle Fenster des Seemannshauses und der Navigationsschule wie flüssiges Gold, und der Turm von St. Michael stieg feurig über die dunkle Masse der beschatteten Dächer in den frühen Abendhimmel. Dem Lärm vom Strom her, den Dampfpfeifen, dem Rufen, dem Kreischen einer Ankerwinde, einte sich die vom Köhlbrand unablässig herüberklingende an- und abschwellende Musik der Arbeit: das hämmernde, kreischende Geräusch von den Werften her, wo riesige Schiffsgerippe unter der Wucht der Schläge erzitterten, die sie fertigen und festen sollten für die Stürme, die da draußen im Ozean auf sie lauerten, und für die Wogen, die mit ihnen Fangball spielen wollten. Man hörte das Dröhnen und Klingen der Eisenplatten, hörte das Gerassel von Ketten.

Und hart neben dieser rastlosen Werkstatt tätigen, schaffenden Menschenlebens diese kleine unbewohnte Wildnis, diese kleine noch jungfräuliche Insel, wo das grüne Gras sich leise vom Wind streicheln ließ, der auch die langhaarigen Perücken der alten Weiden kämmte. Über dem Strom und den Köpfen der Stranderoberer hinweg schossen die leuchtenden Möwen hin und her, fielen blitzschnell auf den Wasserspiegel nieder, flatterten suchend darüber hin und erhoben sich wieder, ab und an einen kurzen schrillen Schrei ausstoßend.

Kauend sahen die Jungens auf den Strom hinaus. Fritz Kleesand fuhr mit jedem Segel, das elbabwärts glitt, in die Welt. Eigentlich war es doch nett von ihm, daß er sich mit diesen beiden Schulfritzen noch abgab, eigentlich gegen seine Würde. Na, er wollte ihnen nachher noch zeigen, daß er mehr war als sie. Sie sollten noch Augen machen.

Anton war mit seinen Augen und Sinnen überall. Der rastlose Lärm der Arbeit, der von überallher sich über dies stille Fleckchen Erde ergoß, berauschte ihn förmlich. Er hörte es gern, das Hämmern und Schmieden und Feilen. Er war mit seinen Gedanken mehr in den mächtigen Fabriken und Werftanlagen, als auf dem Wasser. Und er sprang kauend auf und lief nach dem Fischerkutter, der weiterhin schief auf dem Sand lag und gereinigt wurde, und sah nach dem Kohlenhafen hinüber, wo schwarze Gestalten bei der Arbeit waren. Hugo aber verfiel in ein traumhaftes Genießen des blitzenden Strombildes, und fühlte sich wohlig beim Kauen des Zwiebackes und unter der leise einschläfernden Wirkung des Bieres.

Als Anton von den Kohlenschiffen zurückkam, war Fritz faul geworden und wollte überhaupt nicht aufstehen.

»Dein dummes Rumrennen,« sagte er gähnend. »Jetzt machen wir Feuer. Und dann kommt die Erbswurst dran.«

Hugo erwachte sofort aus seinem Hinträumen und stimmte lebhaft zu. Und bald flammte ein Feuer, das sie nicht ohne Mühe unterhielten, denn sie hatten wohl an Schweden und Flintstein gedacht, aber nicht an Brennmaterial. Und was sie am Strande fanden, war nicht viel, und wollte nicht recht brennen. Aber es ging doch. Und die Erbswurst schmeckte auch. Und alles war jetzt köstlich.

»Und nu paßt auf,« sagte Fritz Kleesand und schleuderte die leeren Bierflaschen mit gutem Wurf weithin in den Strom. »Das Zeug mag ich nun nicht mehr.« Und dann zog er mit verschmitztem Lachen eine andere Flasche aus seiner Brusttasche. Sie war klein und flach, und die beiden erkannten sofort, was sie enthielt, schon bevor Fritz Kleesand sie gegen die Sonne hielt und mit einem Auge durch die braune Flüssigkeit blinzelte.

»So sieht die Welt gleich ganz anders aus,« sagte er und steckte die Flasche wieder in die Tasche.

»Donnerwetter! Kognak?« rief Anton überrascht. Hugo aber war entsetzt.

»Mensch, was n Unsinn!« rief er.

»Hätte dir gern n Schnullerbuddel mitgebracht, wenn du es mir nur gesagt hättest,« höhnte Fritz Kleesand. Dann holte er mit großer Gebärde die Flasche wieder heraus und entkorkte sie.

»Matrosenmilch,« sagte er. »Prost!« Und der erste Schluck rann ihm durch die Kehle, ohne daß er das Gesicht verzog.

Anton langte etwas zögernd nach der Flasche, setzte aber mutig an. »Brennt das Zeug,« sagte er und schüttelte sich. Hugo aber spuckte das Zeug wieder aus.

»Lappen,« sagte Fritz verächtlich und nahm noch einen Schluck.

»Mensch, du kriegst n Brand,« warnte Anton.

»Von dem Fingerhut voll? Dein Vater ist doch auch Käpt'n, solltest doch n halben Kognak vertragen können.«

»Kann ich auch,« antwortete Anton, der nicht gern zurückstand, aber Hugo riß ihm die Flasche aus der Hand. »Wir sollen doch man wieder heil nach Hause,« schalt er.

»Du büst n Bangbüx,« höhnte Fritz Kleesand. »Da ist dein Alter doch ein andrer Kerl. Der fürchtet sich nicht vorm Kognak!« Er lachte roh auf.

»Hör mal!« rief Anton scharf. »So was mußt nicht sagen!«

Hugo aber war blutrot geworden.

»Laß meinen Vater zufrieden.«

»Wer tut ihm was?«

»Du hast ihn beschimpft!«

»Wer hat geschimpft?«

»Du!«

»Weil ich gesagt hab, daß er sich vorm Kognak nicht fürchtet, und manchmal duhn ist? Das ist er doch?«

»Gemeinheit!« rief Anton empört. »Nun schweigst du aber!«

»Gemeinheit?« Fritz Kleesand sprang auf.

Aber er sah sich beiden gegenüber und legte sich wieder hin, lang auf den Rücken, und pfiff.

»Das ist langweilig,« sagte Anton. »Ich mein, wir wollten spielen.«

»Ach du mit deinem Spielen! – Und wenn ihr alles gleich krumm nehmt – man kann doch mal n Wort sagen,« meinte Fritz Kleesand und warf sich auf die Seite.

»Na ja! n Wort,« sagte Hugo halb nachgiebig.

»Also!« triumphierte Fritz und richtete sich auf. »Du solltest uns übrigens lieber die Indianergeschichte zu Ende erzählen, sie wollten grade die Prinzessin skalpieren.«

»Die Gräfin,« verbesserte Hugo.

»Deern ist Deern,« entschied Fritz. Anton stand mit den Händen in den Hosentaschen und sah auf den Strom hinaus. Er war unzufrieden. Er hatte sich das anders gedacht. Den alten Kognakgeschmack konnte er auch nicht loswerden, soviel er auch ausspuckte. Nun setzte er sich schnell an Hugos Seite und hörte gespannt zu.

»Der weiße Bär hatte grade ihre goldenen Locken um seine Hand gewickelt und schwang in der Rechten das drohende Messer, als ein langgezogener Pfiff den Mordstahl in seinem verhängnisvollen Lauf aufhielt. Der weiße Bär richtete sich unwillkürlich auf, und in diesem Augenblicke krachte ein Schuß, der Häuptling taumelte und fiel mit dumpfem Laut vornüber, das schöne Mädchen unter der Last seines Riesenleibes begrabend. Schon der Anblick des Mordstahls hatte das liebliche Geschöpf ohnmächtig gemacht. Nun lag sie wie leblos unter der Leiche ihres Peinigers.

Wildtöter, denn niemand anders war es, stieß mit dem Fuß den leblosen Körper des weißen Bären beiseite, kniete neben Gräfin Dolores nieder und sah mit einem langen Blick auf das schöne blasse Gesicht. Dann entnahm er seiner Jagdtasche ein Fläschchen mit Portwein und flößte ihr einige Tropfen ein.«

»Portwein?« fragte Fritz Kleesand ungläubig. »Wird wohl Whisky gewesen sein.«

»Das ist doch einerlei!« rief Anton ärgerlich ob dieser Störung.

»Als die Schöne die Augen aufschlug,« fuhr Hugo fort, »sah sie sich verwundert um. Wo bin ich? fragte sie. Und als sie Wildtöter erkannte, war ihre erste Frage: »Was macht mein Vater? Wo ist Graf Arthur?«

»Neulich hieß er Graf Alfred,« warf Fritz Kleesand wieder ein.

»Ist ja gleich«, entschied Anton wieder.

»Ja, wenn alles gleich ist, ob Portwein oder Whisky, ob Arthur oder Alfred, da kann er ja meinetwegen n andere Geschichte erzählen. Das bleibt sich ja dann auch gleich.«

»Aber Mensch, fang doch nicht immer Streit an,« schalt Anton.

»Streit an? Wer macht Streit?«

»Du!«

»Du willst wohl eins aufs Maul?«

»Könnt dir schlecht bekommen!«

»Du Butt!« sagte Fritz Kleesand verächtlich.

Alle drei waren wie der Blitz auf den Beinen. Hugo stieß einmal Fritz an und einmal Anton. »Was soll das! Seid doch vernünftig!« Aber beide schoben ihn mit einfacher Armbewegung wie eine Puppe beiseite und warfen sich wütende Blicke zu. Auf einmal drehte sich Fritz Kleesand mit spöttischem Lächeln um und legte sich wieder hin. Er war feige. Anton stand noch wie ein gereizter Bulle da, bis Hugo am Ärmel ihn zu sich herunterzog.

Mit der Geschichte wars nun natürlich aus. Fritz Kleesand aber hatte mit einem Mal die Kognakflasche wieder in der Hand und wollte seinen Ärger hinunterspülen. »Prost!« rief er höhnisch.

Aber Hugo, durch die Indianergeschichte und den Anblick der beiden Kampfbereiten auch allmählich in kriegerische Stimmung geraten, schlug ihm die Flasche aus der Hand. Da warf sich Fritz Kleesand wie ein Tiger auf ihn. Umsonst versuchte Anton ihn von seinem Opfer loszureißen und trommelte mit beiden Fäusten einen Generalmarsch auf seinem Rücken. Es nützte ihm nichts.

Als Fritz Kleesand endlich losließ, richtete Hugo sich auf, ohne ein Wort zu sagen. Er war sehr blaß und zitterte am ganzen Körper vor Wut und Scham. Das war nun der Dank für seine Geschichte. »Du Spatz,« höhnte Fritz Kleesand.

Anton hielt mühsam an sich. Fritz war ein Flegel und Feigling. Mit dem Schwächeren band er immer gleich an. Er verachtete ihn. Hugo war ein Lappen. Und was hatte er Fritz die Flasche aus der Hand zu schlagen.

»Ich gehe nach Haus,« sagte Anton mürrisch. »Das gefällt mir nicht mehr.«

»Meinst du mir?« lachte Fritz Kleesand. »Ich werd hier auch nicht übernachten.«

So gingen sie ans Boot und banden es los. Keiner sprach ein Wort. Als sie einstiegen, torkelte Fritz über seinen Sitz. Anton mußte ihn halten. »Ist doch gut,« dachte er, »daß er ihm die Flasche aus der Hand schlug. Er ist ja schon besoffen.«

Fritz wollte steuern, aber Anton heuchelte Schmerz in der Schulter, er könne nicht rudern, er müsse sich beim Balgen die Schulter ausgesetzt haben. Fritz Kleesand setzte eine verächtliche Miene auf: »Was wagt ihr euch auch an Fritz Kleesand heran.« Dann stieß er ab, das Boot schwankte gefährlich, und ein Riemen mußte wieder aufgefischt werden.

Anton war besorgt. Als sie auf dem Wasser waren, fühlte er, daß sein Kopf heiß war und sein Magen etwas rebellisch wurde. Aber er nahm sich zusammen.

Fritz Kleesand legte höllisch aus. Er warf sich fast ganz hintenüber. Sie flogen nur so dahin. Hugo saß blaß da und nagte an seiner Oberlippe. Er war aufs tiefste gekränkt und nahm sich vor, kein Wort mehr mit Fritz Kleesand zu sprechen. Dabei dachte er an seine Stange Lakritzen, die er noch ungeteilt in der Tasche hatte. Das war ein schwacher Freudenschimmer in seiner Verdüsterung.

Nach kurzer Zeit erklärte Fritz Kleesand, er könne nicht mehr rudern, ihm würde schlecht. Er wurde plötzlich kreideweiß und das Malheur war da.

Anton erwischte mit Mühe die Riemen, und Hugo mußte ans Steuer.

»Um Gottes willen, Mensch, paß auf. Sonst gehts schief. Zehn Minuten noch.«

Hugo, verstockt, sagte kein Wort. So schlängelten sie sich mit ihrem Boot wieder durch das Gewimmel auf dem Strom zurück. Ihr Zwist hatte sie früher nach Hause getrieben, als sie beabsichtigt hatten, und führte sie nun mitten unter die Menge der heimkehrenden Arbeiter. Die Dampfpfeifen der verschiedenen Fabriken, die den Feierabend ankündigten, hatten sie in ihres Herzens Zorn überhört. Nun waren sie in das lebhafteste Treiben hineingeraten, die kleinen, teilweise überfüllten Fährboote kreuzten jeden Augenblick ihren Weg. Lachen und Gesang schallte übers Wasser, und der dichte Qualm aus den schnell vorüberschießenden, niederen Schornsteinen verschleierte ihre Blicke. Anton rief alle Augenblicke: »Backbord! Steuerbord! Mensch! Schaf!« Aber Hugo wurde nur verwirrt dadurch und hockte immer ängstlicher und unglücklicher am Steuer.

Fritz Kleesand hatte sich schnell erholt, und überlegte, ob er nicht wieder die Führung übernehmen solle. Aber da war es auch schon zu spät. Nach einem verzweiflungsvoll von Anton gezeterten »Hugo!« ertönte ein Pfeifen, Schelten, Schrammen, Knirschen. Ein Riemen zerbrach am Bug des Dampfers, und die drei Jungen lagen im Wasser.

Böte schossen von allen Seiten heran und zogen sie wie nasse Katzen wieder heraus.

»Jungstüg! Infamichtes! Jackvoll möt ji hebb'n!«

»Dat helpt nu nich. Man ers drög Tüg.«

»Dat is den Kleesand sin Bengel!«

»Na, nu köp di man n stiven Grog bi din Vadder.«

So klang es durcheinander, und die letzte Bemerkung war von einer bezeichnenden Handbewegung begleitet. Die Jungen aber fuhren aufeinander los und gaben sich gegenseitig die Schuld, bis ein alter Bootsmann sie grob anließ: »Holt Mul! Sünst givt dat furts wat.«


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