Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Tetje Butt war am Donnerstag wenn auch etwas verlegen in den Verein gekommen, wie die Jungen ihre Verbindung kurzweg nannten. Er hatte schon lange durchgefühlt, daß Herr Heinrich es gut mit ihm meine. Ein »ordentliches Fell voll« hatte er von der Mutter bekommen, und Tetje senior hatte, abends ein wenig nüchterner, energisch von ihm den Beweis verlangt, daß er, Theodor Krahnstöver senior, am Montag in Kuxhaven gewesen sei. Aber Mutter Krahnstöver war ihm über den Mund gefahren: »Lat doch din Gequassel. Du hörst ja, de Jung hett lagen. Sin Fell vull hett he weg, und dat anner is min Sak.«

»Vertreck den Jung man. He ward di dat ja woll danken,« sagte Tetje senior. Tetje junior aber dachte: »Vertrecken? Dammi noch mal!« Und er scheuerte den gewissen Teil seines Körpers, den die Mutter einzig zu »versohlen« pflegte. Tetje Butt war das von klein auf gewohnt, und seiner großen grobknochigen Mutter gegenüber war er immer noch nur n Handvoll, die sie noch ebenso leicht regierte wie früher. Nur schrie er jetzt nicht mehr, wie gespießt, sondern ließ jeden Schlag des Schicksals mit zusammengebissenen Zähnen lautlos über sich ergehen, solange bis seine Mutter genug hatte.

»Wat hett de Kerl mi to verklatschen, wat geiht em dat an.« So zürnte Tetje Butt. Aber er gab doch am Donnerstag Herrn Heinrich die Hand und war bald mit den anderen Knaben, die in dem geräumigen, behaglichen Raum, den Collasius für seine Zwecke gemietet hatte, um den Tisch saßen und sich mit Spielen und Handarbeiten beschäftigten, in eifriger Tätigkeit. Dann nahm Herr Heinrich ein Buch und las ihnen vor, aus den alten Hansekämpfen ihrer Vaterstadt. Das war Tetje Butts liebstes, so dasitzen, unverwandt den Lesenden anstarren und das Gehörte wie ein traumhaftes, buntes Theater an sich vorbeiziehen lassen. Selber lesen liebte er nicht. Er besaß keine Bücher, und sich mit geliehenen »herumschleppen«, gefiel ihm nicht. Und dann das unangenehme Wiederabliefern. Nein, die Bücher waren nichts für Tetje. Die waren für Hugo und Christian.

Anton war auf Tetjes Seite. Er war mehr praktisch veranlagt. Schnitzen, sägen und leimen und basteln. Oder spielen. Er spielte gern Schach, wenn er auch Hugo gegenüber immer verlor. Aber mit Christian wurde er gut fertig. Der spielte zwar auch langsam und überlegt, aber nicht so »raffiniert« wie Hugo.

»Raffiniert?« verteidigte sich Hugo. »Was nennst du raffiniert? Wenn man nicht mit Nachdenken spielt, hat das ganze Spiel ja keinen Sinn.«

»Reg di man nich op,« sagte Anton gelassen.

Mit Christian kam er nie in Streit. Er war sogar immer etwas verlegen ihm gegenüber. Er merkte, daß der kleine verwachsene Mensch ihm sein Herz geschenkt hatte, mit einer scheuen, zarten Neigung an ihm hing. Es kam nur bei kleinen Anlässen zum Vorschein. Anton hatte einmal seinen Hut fallen lassen, und Christian bückte sich danach. Ein anderes Mal merkte er, daß Christian ihm aus Gutmütigkeit einen Stein im Brett hatte stehen lassen, und sein ehrliches Gemüt wurde empfindlich. »Das hast nicht nötig. Spiel ist Spiel.« Aber gleich reuten ihn die Worte, denn Christian errötete bei dem Vorwurf. Bei Hugo konnte er alle Lappigkeit und Lischenhaftigkeit nicht ausstehen, bei Christian war es etwas Zarteres, Feineres, was ihn in Verlegenheit setzte, und was er achtete und instinktiv verstand, als etwas seinem Wesen im Grunde Verwandtes. Denn Anton war auch zartfühlend, wenn auch nicht empfindlich. Er tat nicht gern weh und haßte Unrecht, wenn er auch selbst ziemlich dickfellig war gegen ihm zugefügte Schmerzen. Auch über ihm widerfahrenes Unrecht konnte er sich gutmütig hinwegsetzen. Wenn es aber einmal bei ihm überlief – »Anton Krautsch ist immer gleich so grob« hieß es dann. Und es ist wahr, seine Schlosserfäuste waren nicht zart.

*

»Junge, wenn man erst wieder Sommer ist und wir wieder Tagestouren machen. In die Heide müssen wir mal, und dann im Freien übernachten, und dann ein Feuer anmachen. Junge, das macht Spaß.«

Anton war ganz Eifer bei dem Gedanken.

»Hast du das denn schon mal getan,« fragte Tetje Butt.

»Nein, noch nicht, aber das denk ich mir sein. Ich habs Herrn Heinrich schon gesagt. Er will es auch mal machen. Und im Winter will er auch mal mit uns los, in der Nacht, wenn mal so n schöne Frostnacht ist, und der Mond scheint und alles voll Schnee ist.«

»Danke,« meinte Hugo. »Im Winter?«

»Natürlich, bist bang, daß du dir n Schnuppen holst? Kriech du man ins Bett. Aber laß dir auch n Wärmflasche machen.«

»Magst du mit?« fragte Hugo Christian.

»Ja,« kam etwas zögernd die Antwort. »Ich glaub, ich möcht wohl. Schön muß es sein.«

Daß Christian nicht mitmachen würde, stand allen fest, und sie sahen auch ein, daß es für ihn zu anstrengend wäre. Aber Tetje Butt sagte: »So n Nacht im Winter? Mach ich ganz allein. Bin ich gar nicht bang bei.«

»Na, prahl man nicht, Buttje,« fuhr ihm Anton über den Mund.

»Prahlen? Dat möt ick erst bi di leern, min Jung.«

Anton packte mit beiden Fäusten zu und setzte Tetje Butt, dem alles Zappeln nichts half, auf den Schrank, in welchem die Liederbücher und andere Sachen aufbewahrt wurden.

»Ick bliv hier sitten,« sagte Tetje und schlug die Arme übereinander. Und Tetje Butt blieb da sitzen, bis Pastor Collasius eintrat und ihn herunter holte.

»Laß das, ja?«

»Wenn er mir hier hinsetzt,« wollte Tetje antworten, verschluckte aber seine Rede wieder. Bei Pastor Collasius konnte man nicht frech sein.

Collasius brachte Bilder von Hans Thoma mit, und Hugo Winsemann trat ihm im Eifer auf den Fuß. Seitdem er zum erstenmal an der Hand dieses freundlichen und verständigen Führers von der bildenden Kunst hatte genießen dürfen – Collasius hatte mit Dürerschen Blättern den Anfang gemacht – war er unter den Eifrigen der Eifrigste.

Die deutsche Heimat in der Kunst wollte Collasius seinen Jungen näher bringen. Sie hatten sich um Dürer ehrlich Mühe gegeben, aber Collasius merkte wohl, es war eine Saat, die langsam reifen mußte. Aber in Schwinds Märchenwelt, in Ludwig Richters trauten Garten waren sie ihm verständnisvoll gefolgt, und nun war es Hans Thoma, der treue, deutsche Meister, der ihm helfen sollte, in diesen jungen Gemütern bewußtes, liebevolles Erfassen des Heimatlichen zu erwecken, daß sie ihres Deutschtums, ihrer Eigenart sich bewußt wurden. »Hurra, Germania!« und »Fest steht und treu die Wacht am Rhein,« das sangen sie wohl bei passenden und unpassenden Gelegenheiten mit viel Stimmenaufwand und »patriotischer« Begeisterung. Aber es war ein verflackerndes Feuer, das nicht tief brannte, und sie sangen die Verse herunter, wie sie das Vaterunser gedankenlos herplapperten oder die Hafenstädte um den großen Stiefel Italien herum aufsagten. Aber wo sollte bei diesen jungen, ach oft so heimatlosen Seelen die Liebe zur Heimat herkommen, wie sollten sie mit echter Begeisterung und wahrem Feuer der Liebe »Hurra Germania« rufen.

Ja, und doch! Das Blut, ob es nun rot und rasch, oder blaß und müde durch ihre Adern kreiste, der Mutter Laute, die aus allem Elend heraus zu ihnen sprachen – ja, das sind die Quellen, aus denen ihre Heimatsliebe, ihre Vaterlandsliebe gespeist wurde. Aber sind sie gar nicht zu verschütten diese Quellen? Die Stimme des Blutes, schweigt sie nicht einmal, überschrien von anderen? Die alten Wiegenlieder, verklingen sie nicht einmal? Und der Zauber der Sprache, ist er immer mächtig?

Hier, in diesen schlichten Blättern der deutschen Meister war Blut der Heimat, Blick der Heimat, Laut der Heimat. Aus diesen Quellen sollten die Jungen trinken. Und wenn Collasius dann auf den Wanderungen – auch Herr Heinrich verstand ein wenig von dieser Kunst – ihnen die Augen öffnete, daß sie in der Landschaft das von jenen Künstlern Geschaute nun wieder schauten, in den besonderen Formen und Farben ihrer eigenen Heimat, dann glaubte er oft, sich des heimlichen Segens seiner Mühen schon freuen zu dürfen.

Anton verhielt sich diesen Dingen gegenüber ziemlich passiv. Das Bilderbesehen ermüdete ihn. Alles Gefühlsmäßige und Empfindsame war ihm zuwider. »So n sentimentalen Kram.« Er war eine praktische, nüchterne Natur mit einer großen Liebe zu Freiheit und frischer Luft. Er war gern draußen in der Natur. Aber es war ihm mehr ein physisches Behagen, als ein ästhetischer Genuß. Er hätte gern einen Garten gehabt, und wäre ein fleißiger Gemüsegärtner geworden, der auch seine Blumen nicht ganz vernachlässigt hätte. Aber der Reiz hätte für ihn in der Arbeit gelegen, im Graben, Jäten und Pflegen und in dem wachsenden Erfolg. Ein Wiesenbach, noch so lieblich und wahr von Meister Thoma aufs Papier gezeichnet, es war ihm ein buntes Bild wie andere. Aber draußen, wenn er mit einem mutigen Sprung von einem Ufer ans andere setzen, oder seinen jungen muskulösen Körper in der klaren Flut baden konnte, ja, dann wußte er das Bächlein wohl zu schätzen. Auch die Fischlein im Bach ergötzten ihn, und den Krebsen nachzustellen, konnte er nicht müde werden, wenn es ihm auch nicht darauf ankam, den Fang mit warmer Hand zu verschenken.

So hatte die Natur auch für ihn ihre Freuden, und er genoß sie in seiner Weise. Hugo aber war für ästhetische Reize empfänglich. Des Vaters Natur regte sich in ihm. Er hatte sich ein paar billige Blätter angeschafft, die neben Schillers Gedichten, Hauffs Lichtenstein und einer billigen Anthologie moderner Lyrik seinen mit stolz gehüteten Schatz ausmachten. Christian teilte in still genießender Weise seine Neigungen, ohne sich viel auszusprechen. Nur die feine Röte seiner Wangen zeigte, wenn ihm ein Bild, ein Gedicht ans Herz gegangen war.

Tetje Butt hielt es mit Anton, Tetje Butt, der immer mit den Händen in den Hosentaschen dabei stand, bis Collasius ihn mit einem Blick ermahnte. Dann nahm er die Hände aus den Taschen und schob sich sachte an einen andern Platz, von wo aus er die blanken, schwarzen Augen ruhelos hin und her wandern ließ, vom Bild zu Collasius, von Antons etwas gelangweiltem Gesicht zu Hugos überlegener Kennermiene. Immer mit einem Blick, als wollte er fragen: Was sagt ihr dazu? Was soll das? Versteht ihr das? Und immer unglücklich und mit hilflosen Armbewegungen, wenn er nicht die Hände in den Hosentaschen vergraben durfte.


 << zurück weiter >>