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Zweites Kapitel

In drei Jahren langen, rastlosen, aufopfernden Wirkens hatten Pastor Collasius und Herr Heinrich ihren Bestrebungen einen breiten und festen Boden gewonnen. Sie hatten werktätige Hilfe gefunden; ihre Kräfte allein hätten auch nicht weiter ausgereicht. Junge Helfer waren ihnen erstanden, die sie für ihre Ideen zu begeistern gewußt hatten, und einsichtsvolle Männer hatten auch hier und da namhafte Summen hergeschenkt. Sie suchten nach erweiterten Räumen, und die Einsicht, daß hier ein Eingreifen besonders notwendig war, hatte den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit bald nach dem volkreichen Hammerbrook hinverlegt. Auch Herr Heinrich war dorthin übergesiedelt, um da zu wohnen, wo er wirken wollte, und nur recht wirken konnte, wenn er da heimisch war, die Lebensbedingungen und Bedürfnisse an Ort und Stelle und am eigenen Leibe erfahren und studieren konnte. »Buchbinders« hatten ihren langjährigen Mieter ungern ziehen lassen und Frau Miele ihm wirklich ein paar Tränen nachgeweint. Christian hatte gefürchtet, daß nun seine Beziehungen zum Volksheim gelockert würden, aber mit Unrecht. Denn »Buchbinders«, denen Herr Heinrich manchen Vortrag über den Wert solcher Bestrebungen gehalten hatte, waren in ihrem Vertrauen zu der guten Sache jetzt dauernd gefestigt, so daß sie auch ohne Herrn Heinrichs Anwesenheit Christian völlige Freiheit in seinem Verkehr mit dort ließen.

Heut stand nun Pastor Collasius in dem neuen geräumigen Saal des gemieteten Erdgeschosses auf dem Podium und sah den Raum vor sich bis auf den letzten Platz gefüllt; Männer und Frauen, Alte und Junge, Meister und Gesellen und Lehrlinge, Reiche und Arme, Helfer, und die, denen geholfen werden sollte. Das Pult war bekränzt. Eine festliche Stimmung beherrschte die Versammlung.

Zuerst hatte Hugo Winsemann einen von Herrn Heinrich verfaßten Prolog gesprochen, der den Gedanken zum Ausgang nahm, daß hier von Mensch zu Mensch Annäherung und Verständnis gesucht wurde, in freudigem Streben nach ein und demselben Ziel.

»Der Kaiser, hungert ihn, fühlt wie der Bauer
Und geht zu Tisch und speist. Im Regenschauer
Wird die Prinzessin naß wie der Lakei,
Und kalt macht kalt, es sei auch wie es sei.
Wir leben alle und sterben all und sind
In Leid und Freud all einer Mutter Kind.
Uns alle eint, uns alle hält und bindet
Die Menschnatur, die Lust und Schmerz empfindet.
Und Tränen, die die Könige vergießen,
Sind bitter, wie die Tränen, die uns fließen.«

Hugo Winsemann stand verlegen, aber nicht ohne den rechten Anstand da. Das schmale Büchlein, in dem der geschriebene Text verborgen war, zitterte merklich in seiner Hand. Doch sprach er frei, ohne einen Blick ins Manuskript. Reicher Beifall belohnte den Sprecher, der sich blaß vor Erregung verneigte, aber doch beim Abtreten ein Gefühl bescheidenen Stolzes zu zeigen nicht unterdrücken konnte. Hastig eilte er dann durch das kleine Nebenzimmer in den Saal, um nichts von Collasius' Rede zu verlieren.

Dieser hatte inzwischen das Podium bestiegen, von erwartungsvollem Schweigen begrüßt. Er ließ einen Augenblick die großen, dunklen Augen mit einem freudigen Leuchten durch den Saal wandern und begann dann langsam mit wohlklingender Stimme, indem er, an den Prolog anknüpfend, dessen Anfangsworte noch einmal wiederholte und das Gemeinsame, das Mensch und Mensch verbindet, vor dem Trennenden hervorhob, in weiterer energischerer Ausführung als der Rahmen des Prologs es gestattet hatte.

»Auf welchen Wegen wir dieses unser Ziel gegenseitiger Annäherung, gegenseitigen Verstehens erstreben, und wie weit es uns auf diesen Wegen geglückt ist, wissen Sie ja alle. Daß wir heute hier in einem eigenen Heim sitzen, ist ja auch mit ein Beweis, daß wir auf dem rechten Wege waren, denn sonst hätten wir die Unterstützung und das freudige Entgegenkommen von Ihnen nicht gefunden.

Volksheim haben wir dieses Haus genannt. Was will das sagen? Das will sagen, was es heißt: Ein Heim fürs Volk. Und unter Volk ist hier der Teil unseres Volkes verstanden, der eines Heims bedarf, also die Heimatlosen, die Unheimischen. Ihnen vor allem wollen wir ein Heim bieten.

Zu einem Heim gehört mehr als vier Wände und ein Dach, mehr als ein Raum zum Unterschlüpfen vor Kälte und Nässe, mehr als ein Teller Suppe zum Sättigen und ein Bett zum Schlafen. Zu einem Heim gehört vor allem ein Herd, auf dem ein stetiges wärmendes Feuer brennt, ein Feuer, das nicht nur den äußeren, das auch den inneren Menschen mit seiner Glut durchsegnet. Es sind da unendlich viele, denen diese erste Bedingung eines menschenwürdigen Daseins nicht erfüllt ist, die, wie Samen im Wind verstreut, auf einen steinigen Acker fallen, wo sie keine Wurzel fassen können. Ihnen wollen wir hier ein Erdreich öffnen, aus dem sie Nahrung saugen, aus dem sie sich entwickeln können, zu blüten- und fruchttragenden Pflanzen, je nachdem ihre Art es zuläßt.

Was liegt nicht alles in dem Wort »Heim«. Wir wollen uns gegenseitig ineinander heimisch machen, und wir wollen uns in unserer engeren Heimat und in unserem weiteren Vaterland heimisch machen. In uns selbst wollen wir uns heimisch machen – es sind heutzutage gar so viele »außer sich«. – Und in unserer Arbeit wollen wir uns heimisch machen. Wie ich in einem Hause nicht wahrhaft heimisch sein kann, dessen Räume und Winkel ich nicht alle kenne, dessen Geschichte ich nicht kenne, wie ich in einem Lande nicht heimisch sein kann, der mir nur ein toter geographischer Begriff geblieben ist, so kann ich auch in der Arbeit nicht heimisch sein, deren Sinn, Wert und Adel mir verschlossen geblieben ist, der mir nur eine gleichgültige werkelnde Magd und keine Freundin geworden ist.

Sind wir aber in unserer Arbeit heimisch geworden, so werden wir jede Art Arbeit und jede Art Arbeiter, gehe er in welchem Kleid er wolle, mit Ehrfurcht betrachten. Sind wir aber einmal so weit, daß wir gegenseitige Achtung voreinander haben, da werden sich hundert Brücken und Wege zueinander zeigen, die wir jetzt verblendeten Auges nicht sehen. Ein ansehnliches Niveau gleicher Bildung und gleicher Gesittung wird sich gestalten, und es wird eine größere Lust zu leben sein, als es jetzt manchmal ist.

Ein größeres Verantwortlichkeitsgefühl des einzelnen für die Gesamtheit und der Gesamtheit für den einzelnen wird Platz greifen. Der heimisch gewordene Mensch – wir sind alle viel heimatloser geworden als wir wissen – der wieder heimisch gewordene Mensch, seines Wertes als Mensch und Bürger bewußt, wird sein Heimatsgefühl zum großen deutschen Vaterland sich staunend und beglückt erweitern sehen. Er wird sein »Deutschland, Deutschland über alles« in einem schönen und rechten Sinn singen. Nicht über alles in der Welt, daß nun alles Deutsche an sich und überall noch mehr wert wäre, als das Englische oder Französische, nein, aber für mich als Deutscher Deutschland über alles, wie mir meine Mutter über alle Mütter, mein Kind über alle Kinder geht.« Collasius hielt einen Augenblick inne und lächelte über seinen eigenen Eifer, der ihn ins Weite geführt hatte, weiter, als es in seinem Konzept vorgesehen war. So fuhr er denn fort: »Ich will mich nicht verlieren. Wird unsere Arbeit auch dem Weiteren zugute kommen, so setzt sie doch im Engeren ein, und nur in der Beschränkung können wir etwas erreichen. Hier bei uns zu Hause, hier in unserem Heim gilt es zu wirken. Und um wieder an den Begriff der Heimat, des Heimischen anzuknüpfen – zu den Mitteln, mit denen wir unseren Zweck verfolgen, gehören auch Spiel und Wanderungen. Diese, die Wanderungen, auch für die Kenntnis der Heimat fruchtbar zu machen, sind wir bestrebt. Die Heimat gehört auch zu den Gütern, die wir erwerben müssen, um sie zu besitzen, die jeder für sich erobern muß.

In diesem Sinn pflegen wir auch deutsche Kunst, deutsches Wort bei uns. Mozart, Beethoven und Wagner haben zu Ihnen gesprochen, und Ihre Augen aufleuchten lassen, Goethe und Schiller, Uhland und Hebbel und viele andere haben Ihren Geist und Ihre Seele gespeist. Ludwig Richter und Schwind, Thoma und Steinhausen haben die deutsche Landschaft gezeigt und damit Ihren Blick für die Schönheit und Eigenheit Ihrer engeren heimischen Umgebung geschärft – wenigstens war das unsere Absicht mit diesem Zweig unserer Volksheimarbeit.

Und wenn wir so gemeinsame Besitztümer des deutschen Volkes pflegen, wird sich manches Trennende allmählich verwischen. Wir werden nicht gegeneinander sondern miteinander sein und wirken wollen und uns über manchen Graben und Wall hinweg die Hand reichen können, ja von dem Scheidewall, den Verhältnisse und Umstände aufwerfen und erhalten, noch ein blühendes Zweiglein für jeden von uns pflücken können.

Sie, die zu uns gekommen sind als Mitglieder mit der geheimen Frage: Was soll es werden, was will man uns geben? Sie werden nicht leugnen können, daß Ihnen manches gegeben worden ist, was einen Wert für Sie gewonnen hat. Und wir, die wir nur geben wollten, erkennen freudig an, daß wir auch empfangen haben, reichlich empfangen haben. Alte Anschauungen und Meinungen sind ins Wanken gekommen, neue haben sich befestigt. So ist in jedem von uns eine kleine stille Revolution vorgegangen, eine kleine Weltverbesserung.

Ach, der Weltverbesserer gibt es so viele, aber keiner will bei sich selbst anfangen. Sie verlangen immer mit großem Geschrei, daß der Nachbar damit beginne, sie würden dann schon Beifall klatschen und nachfolgen. Andere wieder wollen gleich mit Feuer und Schwert dreinfahren und meinen, wenn sie alles auf den Kopf stellen, ginge alles besser, und es kommt doch nur darauf an, den Füßen eine andere Richtung zu geben.

Wir aber, im Schutz und Frieden unseres neuen Heimes, wollen in gemeinsamer Arbeit mit und an andern, uns der Möglichkeit erfreuen, die Welt für uns zu verbessern, indem wir, Mensch und Mensch, über Gemeinsames uns verständigen, über Trennendes uns hinweghelfen, über gegenseitige Pflichten uns aufklären, woraus die Achtung des Rechtes sich von selbst ergibt.

Wenn wir Ihnen Kunst und Kunstgenüsse vermitteln, mit Rat und Tat bereit sind, Liebe zur Heimat wecken und pflegen, Treue und Freunde schaffen, und, in Spiel und Wandern, Gesundheit des Leibes und der Seele pflegen, so ist uns das, was wir in den wenigen Jahren unseres Bestehens schon erreicht haben, Beweis genug, daß wir es auf rechte Weise angefaßt haben, daß wir alle von dem rechten Willen beseelt sind. Lassen Sie uns so fortfahren in gemeinsamer Arbeit zu Ihrem und zu unserem Segen. Manches ist noch zu tun und wird noch getan werden. Aber nichts kann Erfolg haben, was nicht in reiner und treuer Gesinnung getan wird. Solchem Tun fehlt der Segen nie. Möge dieser Segen auch unserem Volksheim nicht fehlen.«

Collasius schloß. Er hatte, einer Kanzelgewohnheit folgend, bei den letzten Worten unwillkürlich die Hände gefaltet, und sah mit stillen, fast schwärmerischen Blicken über die Menge seiner Hörer hin, die fast atemlos gelauscht hatte. Auch jetzt, als er das Pult verließ, blieb noch alles still, bis ein erstes schüchternes Händepaar einen lauten und langen Beifallssturm entfesselte.

Frau Winsemann, die mit ihren Hausgenossen noch in einer der vorderen Reihen Platz gefunden hatte, überdies Hugos wegen in einer besonderen Gemütsbewegung war, wischte ganz verschämt ein paar Tränen ab, während Frau Mau, die so etwas zum erstenmal in ihrem Leben hörte, mit einer Ergriffenheit, die ihr sonst so strenges Gesicht ordentlich verklärte, noch immer aufs leere Pult starrte.

Nur Mariechen sah sich munter um und meinte zu Christian, der still neben ihr saß:

»Der kann aber famos reden.«

»Haben Sie ihn noch nie gehört?« fragte Christian.

»Nein, ich bin erst ein paarmal dabei gewesen. Da war fast immer Musik und so was.«

»Was mögen Sie wohl lieber?«

»Na, wies so kommt. Gesang hör ich gern. Nachher gibts ja auch noch Lieder.«

»Und Hugo mit seinem Tiberius.«

»Der beberte aber nicht eklig beim Prolog. Na, nun ist er ja wohl durch und fühlt sich.«

Hugo fühlte sich in der Tat und brannte auf den Augenblick, wo er noch einmal aufs Podium steigen durfte. Man hatte nach Collasius' Ansprache für ein unterhaltendes, gemischtes Programm gesorgt, Klavier- und Gesangsvorträge mit Rezitationen abwechselnd. Herr Heinrich, der dafür war, die unter den Mitgliedern vorhandene Begabung heranzuziehen, hatte Hugo ermuntert. Bei dem hatte sich ein weiches, klingendes Organ entwickelt und ein natürlicher, verständiger Vortrag stand ihm zu Gebote.

Herr Heinrich rechnete mit dem Ehrgeiz, den er längst an Hugo erkannt hatte. War auch nach seiner Überzeugung für das Volk, wie für die Kinder das Beste grade gut genug, so leitete ihn doch andererseits wieder die Rücksicht auf den großen Wert, den es hatte, wenn die jungen Leute aus sich heraus ihr Vereinsbedürfnis auch nach dieser Seite hin bestreiten konnten. Hugo hatte bei kleinen Veranstaltungen im Gesellenklub schon hier und da durch eine Rezitation ernsten oder heiteren Charakters zu einer Unterhaltung beigetragen, so daß es einem Teil der Mitglieder keine Überraschung war, ihn heute auf dem Podium zu sehen, andere aber waren erstaunt, manche neidisch, einige erfreut, daß einer von ihnen da oben stand und sich hervortat.

Ein vierhändiger Marsch von Schubert leitete die Vorträge ein. Ein Herr und eine junge Dame, Kinder eines Großkaufmanns, der sich den Bestrebungen des Volksheims geneigt zeigte, saßen am Flügel und zeigten eine mehr als dilettantische Fertigkeit. Dann folgten ein paar Lieder von Brahms und Schubert. Alles wurde mit Andacht aufgenommen und mit reichlichem Beifall belohnt.

Und jetzt war es Zeit für Hugo.

Frau Winsemann und ihre Freunde reckten die Hälse, und Mariechen kicherte nach Art der jungen Mädchen hinter dem vorgehaltenen Programm. Freilich nicht ohne Ursache; denn Hugo, statt vor dem Flügel weg an die Rampe zu treten, lief in einer plötzlichen Anwandlung von »Verbastheit«, wie Mariechen es leise zu ihrem Nachbar nannte, erst um das Instrument herum. Dann machte er seine Verbeugung mit einer großen Geste, indem er mit der rechten Hand durch seinen schwarzen Haarpoll fuhr.

»Großartig, was?« flüsterte Mariechen.

Christian lächelte. »Gehört dazu,« sagte er.

Hugo, mit einem herausfordernden Blick aufs Publikum, gewahrte ziemlich in der Mitte des Saales Frau Sophie Behrens sitzen. Er hatte sich bisher vergebens nach den beiden Familien umgesehen. Jetzt entdeckte er neben der Frau auch seinen früheren Meister und »Buchbinders«. Der Alte hatte sogar seine Brille ungeniert auf die Stirne hinaufgerückt und sah ihm unter seinen grauen buschigen Augenbrauen gerade ins Gesicht, während Frau Miele stumm in ihren Schoß guckte.

Also doch! Sie waren da! Ein Gefühl der Genugtuung wirkte aufmunternd. Er gedachte nicht der vielen »Esel und Döskopp«, die der Meister ihm bis vor wenigen Jahren noch an den Kopf geworfen hatte, fühlte nicht Frau Sophies rasche Finger an seinem Ohr, wo sie in den ersten Jahren seiner Lehrzeit manchmal Griffe übte – das hätte ihn wahrscheinlich nur aus dem Gleichgewicht gebracht, indem es ihn beschämte. Es war nur das triumphierende Gefühl, nun kannst du ihnen mal zeigen, was du eigentlich für ein Kerl bist, und der Stolz, hier oben zu stehen, ausgezeichnet vor vielen, und aus der Höhe seiner geistigen Bildung auf sie herab sehen zu dürfen.

»Der Tod des Tiberius. Von Emanuel Geibel,« begann er. Das düstere Feuer seiner Augen, das tiefe, fast ingrimmige Räuspern bereitete die Hörer schon auf etwas Schweres und Tragisches vor. Aber von allen Äußerlichkeiten abgesehen, bestand der Rezitator mit Ehren. Die schönen schwungvollen Verse vertrugen das schwelgerische Pathos, in dem Dilettanten sich so gern gefallen, und der Stoff des Gedichtes übte über dieses Publikum seine unfehlbare Macht aus; denn immer läßt sich das Volk gern vom Geschick der Mächtigen und Großen erschüttern, weidet sich an den verdienten Qualen des Tyrannen und sucht sich aus der Gerechtigkeit der Weltgeschichte seinen Trost.

Als Hugo die Worte sprach:

»Im Hofe stand
In sich vertieft ein Kriegsknecht auf der Wacht,
Blondbärtig, hoch.«

richtete er sich merklich auf. Mariechen, die ein Schelm war und Hugo gut kannte, erhob die Hand und strich einen eingebildeten Bart von mächtiger Länge. Hugo sah das, aber ließ sich nicht stören, seine Stimme rollte weiter und als er mit erhobenem Ton die Schlußverse gesprochen hatte:

»Er aber schaute kühn ins Morgenrot
Und sahs wie einer Zukunft Vorhang wallen.«

fühlte er sich wieder ganz in der Rolle und sah mit einem Blick über das Publikum hinweg auf die gegenüberliegende Wand, als sähe er dort wirklich den Vorhang der Zukunft wallen.

Oder hatte sein Blick dort hinten Tetje Butt entdeckt, der wirklich wie eine Verheißung besserer Zukunft dastand und über das ganze Gesicht strahlte? Daß dieses Strahlen dem endlichen Tod des schrecklichen Tiberius galt, mochten näher Sitzende, die ihn beobachteten, glauben. Es war aber nicht der Fall. Vielmehr war es sein neuer bunter Schlips und ein Paar weißer, sehr weit über die Hand fallender Manschetten, was Tetje Butt schon den ganzen Abend in gehobener Stimmung erhielt. Tetje Butt war »nobel«. Er war noch immer so klein, wie er vor drei Jahren war und hatte noch immer die Gewohnheit, die Hände in die Hosentaschen zu schieben, wie er das auch jetzt tat, gegen die Wand gelehnt und mit seinen hellen Augen auf das Podium starrend, mit einer belustigten Miene, als sei Hugo so eine Art von »August« vom Zirkus Renz, und als erwarte Tetje Butt, daß er sich im nächsten Augenblick auf den Kopf stellen oder in einem Satz über das Pult voltigieren würde. Doch das sah nur so aus. In Wahrheit erwartete Tetje Butt nichts derartiges. Er war im Gegenteil ganz wunschlos, und nur glücklich, daß er hier mit im Saal stehen konnte, die Hände in den Hosentaschen, mit einem so schönen neuen Schlips und so modernen Manschetten. Tetje Butt konnte sich dieses noble Auftreten gestatten. Er hatte seit einem Jahr eine einträgliche Stellung und zwar bei Peter Witt, dem Käsehändler auf dem Meßberg. Er war so ein Mittelding zwischen Hausknecht und Verkäufer, für das er selbst keinen treffenderen Titel wußte, als »Kommis«. Und sich überall durch tadellose Wäsche als seiner Stellung würdig zu erweisen, war jetzt sein Hauptbestreben. So stand er denn auch hier als der »Kommis« Tetje Butt von der Firma Peter Witt an der Wand und repräsentierte.

Nach Hugos Vortrag hatte sich ein lebhafter Beifall erhoben, in den auch Herr Heinrich, ob er gleich über das Pathos seines Schülers lächelte, herzlich mit einstimmte.

Hugo war glücklich, wenn er auch das Podium noch mit der finsteren Miene eines Unheil brütenden Tyrannen verließ. Erst an der Seite der Mutter und in Mariechens Nähe gewann er seine Natürlichkeit wieder und verbarg nicht länger die große Freude, die ihm sein Triumph bereitete.

»Hast gut gebrüllt,« neckte Mariechen.

Christian blieb in Schweigen versunken. Könntest du doch auch da oben stehen, dachte er. In dir lebt das alles auch ebenso glühend und farbenreich und du wolltest die Hörer hinreißen. Wie schön muß das sein! Aber du mit deiner schwachen Brust und der schwächlichen Stimme.

Eine breite Gestalt schob sich vor ihn, und Wilhelm Kröger sagte zu Hugo: »Dat hest fin makt, Minsch. Hev ick di gornich totrut.«

Und er sah sich triumphierend um. Sie sollten alle gewahr werden, daß er mit so einem seinen »Deklamatohr« befreundet war.

Frau Winsemann aber dachte: »Schade, daß die Krautschen nicht da ist. So was brächte ihr Anton nicht fertig.«

Nach Hugos Vortrag folgten noch ein paar Lieder, und den Schluß machte wieder ein vierhändiger Marsch von Schubert, von jenem Geschwisterpaar virtuos gespielt.

Langsam leerte sich der Saal auf die nächtliche Straße. Es regnete, und Christian mußte husten, sowie er in die kalte Nachtluft hinaustrat. Mariechen griff ohne ein Wort zu sagen zu und schlug ihm seinen Rockkragen in die Höhe. Er errötete und sah sie dankbar an.

»Drinkt wi noch n Seidel,« fragte Wilhelm Krögers dröhnende Stimme, der man die Freude anhörte, endlich befreit zu sein. »Man to,« drängte er, als alle ablehnten. »Wie möt doch Sünndag to Enn fieren.«

»Nach so n Fiern hölt man bi sick sülwen Inkehr,« sagte Frau Mau vorwurfsvoll.

»Ja, ja. Dat kümmt ok noch, Mutter, awerst n Beer möt ick erst noch hebben. Denn adjüs. Tiberius schull man leever noch mitkam'n.«

Sein lautes Lachen schallte noch vom Fahrdamm herüber. Die anderen warteten auf die Straßenbahn, die Christian nach der Hafenstraße bringen sollte. Da sich auch beide Ehepaare Behrens hier an der Haltestelle einfanden, verabschiedete man sich schnell. Hugo hätte zwar gern sein früheres Meisterpaar begrüßt und sich vor ihnen in die Brust geworfen, aber die Frauen genierten sich und drängten fort.

»Setzen Sie sich man nicht in Zug,« rief Mariechen noch Christian vorsorglich zu, dann hing sie sich ungeniert an Hugos Arm.

»Armer Bengel. Er dauert mich immer so,« sagte sie.


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