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Erstes Buch

Erstes Kapitel

Alle diese verräucherten und verwitterten Häuser, die sich in dem engen Sackgäßchen zusammendrängten, wie gebrechliche Greise in einem Alterswinkel, die sich gegenseitig stützen und wärmen und die alten Köpfe voll von Erinnerungen eines langen Lebens zusammenstecken, auch im Schweigen noch mit dem beredten Ausdruck eines nachdenklichen Gemütes – alle diese altersschwachen, schiefen, halb in sich zusammengesunkenen Häuser waren Heimstätten menschlichen Glückes und menschlichen Elendes, Heimstätten der Hoffnung und Heimstätten der Sorge.

Wenn man von der lichtüberfluteten Hafenstraße mit ihrem nimmerruhenden Lärm der Straßenbahn, der Rollfuhrwerke, des rastlos auf und ab wogenden Welthandels, durch den niederen Torweg in dieses dämmerige Gäßchen hineinsah, erschien es freilich nichts weniger als heimisch und wohnlich. Man sah dann auch seinen schönsten Schmuck nicht, den Kirchturm von St. Michael, der im Hintergrund über die niedrigen Häuschen schlank und schön in den Himmel stieg.

Zu Zeiten konnte der schmale Torweg sogar einen unheimlichen Eindruck machen, wenn der dunkle Abend von hier seinen Ausgang zu nehmen schien, und die einzige Laterne, die ihn erhellte, noch nicht ihren traulichen Schimmer auf die schmutzigen Wände und das schadhafte Pflaster warf. Oder wenn der Wind, der auf dem Strom durch die Schiffstaue pfiff, einen plötzlichen Seitenstoß in diesen dunklen Winkel wagte, daß die Scheiben der alten Laterne erschrocken klirrten. Aber es gab auch Stunden, wo die Sonne die eine Hälfte des engen Gäßchens überleuchtete, daß die alten Baracken aussahen, wie fröhliche Greise, die in behaglicher Sonntagsstimmung eine lustige Geschichte aus ihrer Jugend erzählen. Und wenn gar der Mond, beweglicher als die Sonne, in schönen, stillen Nächten seinen milden Schimmer über das Gäßchen breitete, und St. Michael wie in einem flüssigen Silber dastand – ja, dann hatte es manchmal etwas Feierliches, märchenhaft Heimliches, und die Ratten, die über das spitze Pflaster huschten, konnten aussehen, wie verwunschene Prinzen und Prinzessinnen. Dann träumten die Menschen, die diese alten Häuser bewohnten, in ihren Betten auch wohl von Glanz und Glück. Ihre Seelen, entzauberte Prinzen, spazierten in einem stolzen freien Schritt in ihren königlichen Gärten umher und vergaßen, daß sie am Tage eigentlich nur ein Rattendasein führten, in einem ärmlichen Winkel, umgeben von Reichtum und Glück, wovon sie nur träumen durften.

*

Ohlsens Gang hieß dieses Gäßchen. Mit großen, schwarzen Buchstaben stand es über dem niederen Torweg. Asmus Andreas Ohlsen war der Schiffshändler rechts neben dem Torweg. Ihm gehörte dieses hohe schmale Haus in der Hafenstraße, dessen altertümlicher Treppengiebel über den breiten Strom hinweg auf die gegenüberliegende Werft von Thoms und Dieckmann sah, und ihm zinsten auch die zwölf kleinen Wohnungen, die sich in dem engen Gang versteckten. Außer diesem Zinsverhältnis gab es noch ein Band, das die kleine dämmerige Welt der Hinterhäuser mit der großen hellen des Vorderhauses verband. Das war Mutter Krautsch. Mutter Krautsch, wie man sie, trotz ihrer Jugend, ihrer breiten Behäbigkeit wegen allgemein nannte. Sie hatte im Vorderhaus den Geschäftekeller inne, hinter dessen immer blitzblankem Fenster sie so appetitliche Dinge wie Grün- und Rotkohl, gelbe Rüben, weiße Teltower und was der Markt gerade brachte, zu einem reizvollen Bilde aufzustapeln wußte. Da stand sie tagsüber mit ihrer großen breiten Figur hinter dem niederen Ladentisch, oder bewegte sich in dem kleinen Raum mit einer Gewandtheit, die man ihrer Fülle nicht zugetraut hätte. Schien die Sonne, stand sie auch wohl, die vollen Arme in die Seite gestemmt, in der Tür oder auf halber Höhe auf der Treppe, die aus ihrem Kellergewölbe ans Licht des Tages führte, und wandte ihr volles, gutmütiges Gesicht dem vorüberfließenden Strom täglicher Arbeit zu. Und selten stand sie so, daß nicht einer oder der andere der Vorüberschreitenden ihr einen Gruß zurief. »Dag, Mudder Krautsch.« »Süh, Krautschen, auch 'n büschen auskucken?« »Was macht der Mann? Noch immer in der Südsee?« »Ja, wi Schippersfrun sünd man halbe Frun.«

Aber Mutter Krautsch sah nicht aus wie eine halbe Frau, wenn man das Wort so nehmen wollte. Sie brauchte Platz für zwei, wenn sie so dastand, ein Bild der Zufriedenheit und Gesundheit und einer dauerhaften Jugend. Sie war jetzt fünfunddreißig Jahre alt. Eine junge Frau. Und sie würde in zehn Jahren noch eine junge Frau sein, sagte Schiffshändler Ohlsen, der sie nicht nur als seine beste Mieterin gern leiden konnte.

Oft, wenn Mutter Krautsch sich einen Augenblick auf der Treppe sonnte, galten ihre Blicke ihrem einzigen Kinde, einem runden, untersetzten, strammen Jungen von sieben Jahren, der auf der Straße, unbekümmert um die Fußgänger, seinen Kreisel trieb oder mit andern Kindern Marmel spielte.

»Anton, daß du mich nich von Haus gehst.«

»Nee, ich geh schon nich, man nich bange.«

»Es gibt n Jackvoll.«

Nach solchen kurzen, aber meist lauten und heftigen Zwiegesprächen verschwand die Mutter wieder in ihrem Keller, und Anton marmelte oder kreiselte gleichgültig weiter, als wär n Jackvoll etwas, dem nicht weiter Gewicht beizulegen ist.

Heute, es war ein Mittwoch in der ersten Hälfte des Juli, ein heißer, trockner, staubiger Tag, stand Mutter Krautsch nicht hinter dem Ladentisch und sah auch nicht mit eingestemmten Armen auf die glühende Straße. Heute stand da Lene Lerch, ein halbwüchsiges, blasses Kind von vierzehn Jahren, einen großen, grauen Wollstrumpf in der Hand, das Knäuel unter die Achselhöhle geklemmt, und sah mit ihren wasserblauen Augen starr auf den blauen Schornsteinring eines Schleppers, der gerade vor Schiffshändler Ohlsens Haus seinen Liegeplatz hatte.

Wo aber war Mutter Krautsch? Mutter Krautsch hatte heute ein schwarzes Kleid angelegt und war in diesem feierlichen Staat nach dem letzten kleinen Haus an der rechten Seite von Ohlsens Gang gegangen. Ihre großen, gutmütigen, braunen Augen sahen verweint aus, und wer grade in der Tür oder am Fenster stand, sah ihr mit einem mitleidigen Kopfschütteln nach. Ein paar alte Frauen hatten ihr sogar die Hand gedrückt und sich ihr dann angeschlossen.

»Das ist der Krautschen ihr schwerster Tag. Man gut, daß ihr Mann schon wieder abgereist ist,« sagte die alte Cyriaks, die die weißen Zuggardinen von ihrem Fenster zurückgezogen hatte und nun mit ihrem Vogelgesicht hinter den Scheiben lauerte.

Inzwischen fuhr vorne ein schlichter, schmuckloser Leichenwagen vor. Die vier Träger – viel Umstände waren hier nicht nötig – saßen gleich darin und ließen die Beine pendeln. Grade vor Lene Lerch hielt der Wagen und verdeckte ihr den schönen blauen Ring um den Schornstein des Schleppers. Die mageren Arme erwachten aus ihrer Regungslosigkeit, die starren, wasserblauen Augen bekamen einen lebhaften, fast triumphierenden Glanz, und der ganze hagere Körper geriet in eine zappelnde Beweglichkeit. Sie lief die paar Stufen vollends hinauf, wobei ihr das Knäuel entfiel. Es rollte mit einem langen Faden bis unter den Wagen. Sie sprang ihm hastig nach und kroch halb unter das unheimliche Fuhrwerk, wo sie es wieder erhaschte. Sie ließ sich keine Zeit, den Faden wieder aufzuwickeln, und raffte ihn mit ein paar schnellen Griffen zusammen. Sie sah um die Ecke in den Torweg hinein, lief wieder zurück, in den Keller hinunter, kam wieder nach oben und beteiligte sich mit wichtiger Miene an der lebhaften Unterhaltung der jugendlichen Gaffer, die plötzlich wie hergeweht dastanden. Die vier Leichenträger in ihren abgetragenen schwarzen Röcken mit sammetnen Ärmelaufschlägen verschwanden im Torweg, während der Kutscher an den schwarzen Pferdedecken herumzupfte, die schwarzen Federbüsche zwischen den Ohren der Tiere ein wenig grader rückte und sich sonst an dem Wagen zu schaffen machte.

Der Bürgersteig war jetzt fast gesperrt von neugierigen Kindern, meistens Mädchen. Auch ein paar Frauen standen müßig dabei. Alle sahen dem Kutscher zu, als sähen sie solche Hantierung zum erstenmal. Der schwarze Wagen des Todes, so plötzlich in die helle, grelle Tagessonne gestellt, schien ihnen aber nichts Schreckliches zu haben. In dem Getöse des Lebens, umgellt von dem Pfeifen der Dampfschiffe auf dem Strom, dem Läuten der Straßenbahnen, fügte er sich in seiner schmucklosen Nüchternheit dem Ganzen als etwas Dazugehöriges ein.

Was alle diese Gesichter ausdrückten, war Neugierde, nichts als Neugierde. Selbst die Gesichter der Alten verrieten wenig tiefere Anteilnahme. Sie hatten das so oft in ihrem Leben gesehen. Eine Beerdigung. Und auch die Kinder waren dagegen abgestumpft. Es war auch ihnen nur ein Schauspiel für die immer neugierigen Augen. Die wollten sich nichts entgehen lassen, nicht das Geringste. Sie sahen alles, was auf der Straße vorging. Sie flogen links, sie flogen rechts. Ihre hastigen, oberflächlichen Blicke betasteten alles, faßten es an, warfen es weg. Ohne ein besonderes Interesse daran. Aber sie mußten es anfassen. Alle diese frechen, hastigen, neugierigen Augen tasteten an dem schwarzen Wagen herum, an den schwarzen Pferden und an dem Kutscher mit dem Dreimaster und dem langen Trauerflor.

Dieser, gewohnt so angegafft zu werden, trocknete sich mit dem Schnupftuch die Stirn und wischte seinen Hut aus. Dann begann er mit dem Wirt einer nahen Schenke, der sich barhaupt, mit einer weißen Schürze vor, der Menge zugesellt hatte, ein Gespräch. Er lachte ein paarmal laut und roh auf und ließ sich zuletzt einen Schnitt Bier und einen kleinen Kognak aus der Schenke holen.

»Ach, Herr Kleesand, mir auch n kleinen,« rief eine freche Knabenstimme.

In diesem Augenblick fuhr eine einfache Droschke vor. Der Pastor, ein langer, hagerer Mann, stieg schnell aus und bahnte sich, mit der linken Hand das Testament an seine Brust drückend, hastig einen Weg durch die Umstehenden. Alle rissen die Augen weit auf, und ein paar Frauen schüttelten wehleidig die Köpfe, als finge es jetzt erst an, recht traurig zu werden.

Nur die freche Knabenstimme fand keinen Geschmack mehr an der Sache.

»Nun dauerts noch drei Stunden,« gellte sie in das Schweigen hinein. »Da lur up.«

Und pfeifend trollte sich der Bengel quer über den Fahrdamm.

*

Endlich wurde der Sarg die kleine schmale, ausgetretene Treppe im Trauerhause heruntergetragen, erschien in der hellen Sonne, die die eine Seite von Ohlsens Gang erfüllte, leuchtete im Schmuck seiner billigen Kränze verschämt auf und verbreitete schnell einen strengen Duft von Koniferen und Tubarosen durch das kleine Gäßchen.

Im obern Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses drückten sich zwei kleine Kindernasen an den Scheiben platt. An jedem Fenster, an jeder Tür, erschien jetzt ein Gesicht, dem langsam in der Mitte des schmalen Ganges, grade über dem Rinnstein hinschaukelnden Särglein nachzublicken. Eine noch junge, aber blasse, verhärmte und abgearbeitete Frau im dürftigen Trauerkleid schritt hinter dem Sarg her, still und verweint. Das war Frau Mau. Neben ihr ging ein etwas älterer Mann mit breitem, rotem Gesicht, dem sein Trauerkleid schlecht stand, und der verlegen einen Fuß vor den andern setzte. Er trug den abgenutzten schwarzen Zylinder in der Hand und setzte ihn erst auf, als der Torweg den kleinen Zug auf einen Augenblick den fremden Blicken entzog. Niemand kannte den Mann. Er war ein entfernter Verwandter der Frau Mau, der einzige, den sie in dieser Stadt hatte.

Der aber im Sarge lag, war noch vor kurzem als ein kleiner blonder, lebhafter, sechsjähriger Junge durch diesen Torweg ein und aus gesprungen. Ostern hatte er zum ersten Male seine Fibel aufgeschlagen. Nun hatte er sie so bald wieder zumachen müssen. Und welchen Spaß hatte es ihm gemacht, als er die ersten Wörter lautieren konnte. Und die Bilder in der Fibel, wie hatte er sich ihrer gefreut. »Sieh mal, Mama, ein Adler. Sieh mal, Mama, das is ein Affe.« Und was hatte er nicht alles von seinem Lehrer zu erzählen gehabt. »Du, Mama, der Herr Heinrich, das is aber einer. Zu nett is er.«

Daran mußte die arme Mutter denken, als der Sarg nun aus dem niedern Torweg in das helle, grelle Licht der Straße hinausschwankte, an all den kleinen neugierigen Kindergesichtern vorbei. Da waren welche darunter, mit denen er oft Marmel gespielt hatte. Und da waren viele, die immer freundlich mit ihrem kleinen Willi gewesen waren. Und da stand auch der Kommis von Schiffshändler Ohlsen, der ihm mal fünf Pfennige geschenkt hatte, weil er so kläglich um einen verlorenen Kreisel weinte. Aber da stand auch Lene Lerch mit ihren stechenden Augen und ihren gekreuzten Armen und erschreckte sie. Sie hatte nichts gegen Lene Lerch, aber Lene Lerch stand in dieser sonderbaren, herausfordernden Haltung auf der oberen Stufe von Krautschens Kellertreppe. Einen Augenblick krampfte sich das Herz der Mutter zusammen, und ein harter Zug erschien in ihrem Gesicht. Aber dann hörte sie wieder Mutter Krautsch laut aufschluchzen, als der Pastor von der unschuldigen Hand sprach, deren der liebe Gott sich bedient hätte, um ihren Willi aus diesem Tal der Schmerzen früh in seine himmlische Heimat zurückzuführen. Und plötzlich mußte auch sie, den einen Fuß schon auf dem Wagentritt, krampfhaft aufweinen, so daß ihr Begleiter nicht wußte, wohin vor Verlegenheit, und die alten Weiber unter den Zuschauern ein wehleidiges »ach Gott, ach Gott« hören ließen.

Wie froh war der Vetter, als er in der Droschke saß und die Tür zuschlagen konnte, was zu seinem Schrecken einen sehr lauten und nach seiner Meinung in diesem Augenblick höchst unpassenden Knall gab.

Langsam setzte sich der kleine Zug in Bewegung. Es war kein anderes Gefolge, als diese eine Droschke mit der Mutter und ihrem Vetter. Jetzt, unter dem tosenden Lärm des rastlosen Lebens langsam dahinziehend, das kleine bekränzte Särglein auf dem schwarzen Wagen, dahinter die eine alte klappernde Droschke, jetzt war es ein fremder Ton in dieser vielstimmigen Symphonie. Jetzt ging ein leiser Schauer aus von diesem düsteren Fahrzeug, diesem kärglichen Gepränge der Trauer, und faßte hier und da einen der hastig Vorübereilenden mit leisem Frösteln ans Herz.

Vor Ohlsens Gang hatten sich die Gaffer schon verlaufen, als die lange, hagere Gestalt des Geistlichen gebückt aus dem niedern Torweg ins Freie trat. Er hatte noch ein viertel Stündchen mit Mutter Krautsch gesprochen. Gesenkten Blickes ging er mit eiligen Schritten durch die Menge. Er überragte sie alle um Kopfeslänge. Der schwarze Talar wehte trotz der stillen Luft um seine Füße, so hastig ging er, als fühlte er sich in die helle, grelle Sonne und unter die eilenden, treibenden Menschen nicht hingehörend und suchte ihnen zu entfliehen. Vielleicht war es nur eine Amtshandlung, die ihn so eilen ließ. Noch ein Toter? Oder ein Täufling, der aufgenommen sein wollte in die Gemeinschaft der Gläubigen, um sich für dereinst einen Platz in der himmlischen Heimat zu sichern?

In Ohlsens Gang aber stand schon ein Apfelsinenhändler mit seiner Karre und rief laut sein »Appelsina, scheune Appelsina! Dutzend föftig Penn!«

Und die alte Cyriaks kaufte sechs Stück der schon etwas überreifen Früchte. Sie wollte sich die besten aussuchen. Aber der Händler sah es nicht gern.

»Sünd all zuckersöt, Madam, scheune Appelsinas.«


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