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Dreizehntes Kapitel

Frau Winsemann war die erste, die sich nach einer neuen Wohnung umsah und auch bald eine passende gefunden hatte. Freilich in einem ganz anderen Viertel, in Hammerbroock. Es war eine nette, billige Wohnung im dritten Stockwerk eines neuen Hauses. Dieser gegenüber, im selben Stockwerk, befand sich eine gleich freundliche Wohnung, die, weil sie um ein Zimmer kleiner war, auch um ein Billigeres zu haben war. Diese empfahl sie Frau Mau zu beziehen. Frau Mau machte Umstände. Woher solle sie neue Kundschaft nehmen, wenn sie die alte hier in diesem Hafenviertel verließe? Aber Mariechen legte sich ins Mittel. So viele Kunden würde sie als fleißige und zuverlässige Wäscherin schon finden, um einiges zu verdienen. Im übrigen wäre jetzt sie, Mariechen da und würde schon mit ihrer Arbeit so viel beschaffen, daß sie keine Not litten.

»Aber Kind, so aus allem heraus.«

»Grade! Dann sieht man doch mal was anderes.«

»Zwanzig Jahre hab ich hier nu gewohnt.«

»Na, das ist doch lange genug? Wie kann man nur immer auf demselben Fleck hocken wollen. Und es hilft ja auch nichts, heraus mußt du doch.«

Frau Mau seufzte. Zwanzig Jahre. Was weiß das Kind davon, was sie mir waren – und nicht waren. Da starb ihr Vater. Da an der Wand. Da stand das Bett damals. Da, vor dem Fenster, hatt er noch in den letzten Wochen gesessen und seinem Kanarienvogel was vorgepfiffen. Ach, und dann mußte er immer so danach husten.

Und die Kinder. Jede Ecke, wo sie »Kieck, kieck, mum« gespielt, jeder Winkel, wo sie ihr Püppchen zu Bett, ihr Pferdchen zu Stall gebracht. Sein Pferdchen. Sie hatte es noch aufbewahrt.

Aber sollte sie der Gedanke an ihren kleinen Willi nicht grade wegtreiben? Aber würde sie denn anderswo, in dem neuen fremden Hause, sein helles Stimmchen je wieder so hören, wie es ihr hier manchmal aus irgend einem Winkel wieder entgegenschallte, in dem es früher einmal laut war.

Ja, weg mußte sie ja. Aber sie wollte bis zum letzten Tag bleiben, nicht früher ausziehen, als es durchaus nötig war. Und wie sie, dachten die meisten in Ohlsens Gang. Sie konnten sich nicht trennen von den alten dämmerigen Räumen. Wenigstens die alten Leute nicht. Die Jungen, die Kinder, die waren mit ihren Gedanken schon unterwegs. Die einen wollten nach St. Georg. »Da ist es fein, Mutter. Da ist die Alster nah bei.« Andere wollten mehr aufs Land: »Wo wir n Stück Land haben, Vater, man zu. Und n Ziege. Lehmanns in Fuhlsbüttel haben auch n Ziege.« Andere wieder wollten vom Wasser nicht weg. »Sonst gehen wir jeden Tag nach dem Hafen.«

Am ruhigsten war die Cyriaks. Nicht, weil sie Taler im Strumpf hatte, wie die andern meinten, sondern weil sie sich vorgesehen hatte. Ihr christlicher, Frau Melitta und Pastor Brügge wohlgefälliger Lebenswandel, der freilich nur im allsonntäglichen Kirchengehen bestand, trug nun Früchte. Sie bekam mit Hilfe ihrer Gönner einen Platz im Friederikenstift, ein nettes Zimmer mit Kammer und Küche und vierzig Mark Feuerungszuschuß. Trotzdem studierte sie eifrig den Wohnungsanzeiger, scheinshalber. Es gab so viel Neid und Mißgunst auf dieser argen Welt. Man muß im Stillen wandeln, will man Frieden haben.

*

Das war nun ein Packen und Umziehen in Ohlsens Gang. Fast jede Woche zog eine Familie aus. Die Gardinen verschwanden von den kleinen Fenstern. Ströme Wassers ergossen sich über die Hausschwelle in den Rinnstein, denn fast alle diese arbeitsamen Frauen, unter Scheuern und Schruppen groß geworden, hatten, den wunderlichen Ehrgeiz, keinen Schmutz und Unrat zurück zu lassen. Man sollte ihnen nichts nachsagen. Sauber wollten sie ihr Haus dem Abbrecher übergeben. Die Frau Löser, die trotz der vielen Kinder ewig beim Reinmachen war, hatte das Beispiel gegeben. Und da wollte keine zurückstehen, wenn sie sich auch wohl sagten: För wen denn? Hätt ja doch nu n Enn.

Kleine Handkarren hielten vor den Türen, oder größere standen draußen vor dem Torweg, auch wohl ein Gespann, wenn es galt, schwere Möbel zu verladen. Was kam da nun alles zum Vorschein. All der alte kärgliche Haushalt der kleinen Leute, deren Stolz die eine Stube war mit dem versessenen abgenutzten Haartuchsofa, dem kleinen vergoldeten Spiegel, der Mahagonikommode mit den goldumränderten Tassen und billigen Jahrmarktsvasen darauf als Zierat, und mit den bunten, stockfleckigen Lithographien auf den grellen Tapeten.

Viel Bettzeug kam zum Vorschein, buntes, karriertes Zeug, in einem großen Bündel zusammengeschnürt. Töpfe und Pfannen und Eimer. Stühle mit gesunden und Stühle mit kranken Beinen. Alte Korblehnsessel. Blumentöpfe mit sorglich gepflegten Pflanzen. Hin und wieder ein altes Stück, das einen Liebhaber reizen könnte. Eine alte Truhe aus Vierlanden, oder eine bemalte Dielenuhr. Auch Töpfe und Tassen, mit leuchtenden Mustern, alte Bauernstücke, die hier in versteckten Winkeln von jenen fernen, guten Zeiten träumten, wo sie noch die Großmutter oder Urgroßmutter der jetzigen Besitzerin in irgend einem wohlhabenden bäuerlichen Gewese bewahrte.

So zogen sie aus, die Suhr mit ihrem Dompfaff im Bauer, die Meiers mit einer alten Petroleumlampe neben dem hochbeladenen Karren her.

Frau Mau war die letzte. Ein spärlicher Haushalt. Aber sie zog erst in später Abendstunde, und das Dunkel verschleierte die Geringfügigkeit ihrer Habe. Mariechen war vorausgegangen, um die Sachen in der neuen Wohnung in Empfang zu nehmen. Am Torweg hatte sie Mutter Krautsch getroffen und sich nochmal von ihr verabschiedet.

»Na, Fräulein, solls nu losgehen? Wo ist denn Ihre Mutter?«

»Ach, der Kerl kommt ja nicht. Er soll noch so n altes Küchenbrett losmachen, Mutter will es ja partu mithaben.«

»Das ist ja man ebensoviel,« sagte Mutter Krautsch. »Anton, mein Jung, helf Frau Mau mal.«

Anton war gleich bereit und war schon mit Hammer und Stemmeisen unterwegs, als es Mutter Krautsch einfiel, daß es Frau Mau am Ende doch nicht recht sein konnte.

»Na laß. Vielleicht ist es grade gut so.«

»Kommen Sie noch mal?« schalt Frau Mau, als Anton die dunkle Treppe hinaufpolterte.

»n Abend, Frau Mau! Mutter schickt mich, hier ist noch was loszumachen?«

»Ach Gott, Sie sind es, Herr Krautsch?« Frau Mau fühlte, wie sie blaß wurde. Sie wollte ihn abweisen. Sie stotterte ein paar Worte von »unnötig« und »er wird schon kommen«.

Aber da stand er schon lachend vor ihr. »n Abend, Frau Mau. n Kleinigkeit. Das tu ich gern. Wo ist denn das Ding?«

Sie fügte sich. »Das Brett hier, Herr Krautsch. Der Mann wollte es noch losmachen. Aber er kommt ja nicht. Und die Karre steht auch noch unten.«

»Er wird schon kommen,« tröstete Anton und machte sich gleich an die Arbeit. Ein paar Schläge, daß der Mörtel davonspritzte, lösten das Brett.

»Kommt da ja nun nicht mehr auf an,« meinte er. »Bleibt ja doch kein Stein auf dem andern.«

»Ich danke Ihnen, Herr Krautsch.«

»Da nich für. Haben Sie noch was? Wenn ich grad mal da bin.«

Er schwang den Hammer angriffslustig gegen die kahle Wand und sah sich in dem leeren Raum um.

»Was ist denn das? Brauchen Sie das noch?«

Er ging auf den Ofen zu, bückte sich und zog etwas Buntes hinter ihm hervor. »Das brauchen Sie wohl nicht mehr,« lachte er.

Frau Mau streckte die Hand danach aus. Es war ein alter, ganz verstaubter kleiner Beutel aus bunter Wolle, wie Anton ihn als Knabe auch für seine Marmeln benutzt hatte.

»Das ist ja –« ihre Stimme zitterte. Sie trat mit dem Beutelchen ans Fenster. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie lehnte den Kopf an das Fensterkreuz. Und auf einmal fuhr sie herum, wild, heftig. Aber es wurde kein Schelten, keine Anklage, kein Fluch. Ein paar unartikulierte Laute. Ein leises, wimmerndes: »Mein Willi, mein süßer Willi.«

Anton stand verlegen vor ihr. »Ist das Willi sein?« sagte er gutmütig. »Ich hab auch grad solchen gehabt.« Er war ein ungeschickter Tröster. »Ich weiß noch ganz gut, als wir beide zusammen spielten. Willi halt immer den Beutel voll.«

Der Ton seiner guten, breiten Stimme übte seine Wirkung auf Frau Mau aus. »Er weiß nichts,« dachte sie. »Sonst könnte er nicht so sprechen. Wenn du es ihm nun gesagt hättest. Nein. Es ist ja nun auch alles einerlei.«

Sie wischte sich die Augen aus, und war froh, als in diesem Augenblick der erwartete Arbeiter die Treppe hinauf lärmte.

»Büschen spät wordn, Madamm. Verdammt düster all. Na wo is?«

Anton gab ihm das Brett.

»Na, denn geiht ja nix verkehrt. Denn kann ick ja forts afschuven.«

Anton half dem Mann, die Karre aus dem Gang schieben und verabschiedete sich draußen von Frau Mau. »Adiö Frau Mau, lassen Sie sichs gut gehen. Grüßen Sie auch Frau Winsemann noch vielmal. Und kommen Sie man gut hin.«

*

Ein paar Tage später fuhren die ersten Spitzhämmer in die alten Ziegelmauern von Ohlsens Gang. Die ersten Steine bröckelten ab. Staub flog auf. Ganze Wände prasselten zusammen. Sparrenwerk stürzte auf den Schutt. Und dazwischen wards lebendig. Ratten flohen erschreckt aus ihren Schlupfwinkeln und Mäuse ängstlich über das Pflaster.

Alles, was da innen morsch gewesen, feucht und schimmelig geworden war in der langen dumpfen Dämmerung, lag jetzt frei zutage und ließ sich von der Sonne bescheinen, die über freigelegte Stufen in dumpfige, nasse Kellerräume drang. Und nachts legte der Mond einen versöhnenden, verklärenden Schleier über diese Zerstörung. Man konnte jetzt ungehindert von der Hafenstraße aus den ganzen Platz überblicken. Der Wind fegte darüber hin und nahm von dem Staub dieser zerstörten Wohnungen mit sich. Er hatte auch von der Rückseite Zutritt und streute Mörtel und Tapetenfetzen in die Elbe, und der Strom riß alles mit sich fort.

Altes Buschwerk und verkrüppelte Bäume wurden sichtbar, die bisher die kleinen Höfe der Häuser beschatteten, die Ohlsens Gang mit ihrer Rückseite abgeschlossen hatten. Und ungehindert konnte man jetzt von der Hafenstraße aus über Schutt und kümmerlichem Grün den schlanken Turm von St. Michael aufsteigen sehen, ein stolzes Wahrzeichen, das in seiner Dauerhaftigkeit ein stummer Prediger zu sein schien:

Menschenwerk vergeht,
Gottes Werk besteht.


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