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Viertes Kapitel

Was ist ein Jahr für einen stillen Winkel, wie Ohlsens Gang. Vorne, an der Straße, ging kein Jahr spurlos vorüber. Ihr Aussehen änderte sich rastlos. Hier ein neuer Anstrich, da eine neue Fassade, dort ein ganzer Neubau. Gleichgültige bemerkten es erst spät. Aufmerksame folgten der steten Verwandlung und ärgerten oder freuten sich. An Ohlsens Gang, schien es, gingen selbst zehn Jahre spurlos vorüber. Ein paar Schritte nur, und jenseits des Torweges trug der Strom die Fülle brausenden Lebens hinaus ins Meer. Dort begrüßten sich die Länder aller Erdteile mit ihren Flaggen und ihren Erzeugnissen. Hier, hinter diesem dunklen Torweg, schien das Leben stillzustehen. Es blieben immer dieselben alten Häuser mit denselben alten Fenstern, denselben alten Gardinen, denselben alten Blumentöpfen vor den kleinen Scheiben. Standen auch vorübergehend mal Nelken vor dem Fenster der Cyriaks, im allgemeinen hielt sie sich doch an Goldlack, und die Schulzen über ihr zog Geranien.

Jeden Morgen öffnete die Cyriaks ihr Fenster und warf die Brotkrumen von ihrem Frühstück den Sperlingen hin, die sich pünktlich auf diesem Futterplatz einfanden. Und jeden Sonnabend roch es nach Seife in Ohlsens Gang, und lief Seifenwasser in der Mitte im Rinnstein, denn alle Haustüren und Fenster wurden da einer gründlichen Reinigung unterzogen. Es hatte alles seinen geregelten, eintönigen, schleppenden Gang hier im Winkel.

Und in diesen greisenhaften, hinträumenden Häusern, waren es nicht immer dieselben Leute? Es starb mal einer, machte Platz. Aber wer an seine Stelle kam, sah er nicht aus wie er? Sie trugen alle die Kleider der Armut, hatten alle die Gewohnheiten und Hantierungen der kleinen, abseits lebenden, in die Ecke gedrängten Stiefkinder des Lebens. Etwas Altes, Müdes, Graues wie ihre Häuser. Auch die Jungen, auch die Kinder. Ja, auch diese.

Hugo Winsemann und Mariechen Mau, hatten sie nicht beide diese suchenden Augen, als ob sie immer nach etwas aussahen, nach einem Stückchen Himmel, nach einem bischen Glück, nach ein bischen Sonnenschein auf den gegenüberliegenden Dächern, nach einem einzigen Stern an dem schmalen Himmelsband, das von den schiefen, schmutzigen Giebeln von Ohlsens Gang eingefaßt wurde, oder nach St. Michaels grüner Spitze, die da so hoch und einsam über allem Dächergewirr in die Luft ragte?

Und Anton Krautsch, hatte der nicht so offene, helle Augen, die alles mit einem großen, flinken Blick zu umfassen schienen? Augen, vor denen die ganze Welt ausgebreitet lag? Sie brauchten nicht zu suchen, sie öffneten sich und sahen alles. Tausend Sterne mit einem Blick, den Strom mit all seinen Schiffen, seine Masten und Segel, das brausende Leben auf der Straße, das auf dem Wasser und im Winde, und das geräuschvolle drüben auf den Werften, dessen heißer Atem durch hundert Schlote in den weiten Ozean der Luft hinaufströmte.

Hugo, der jetzt endlich aufzuleben und ein Junge zu werden schien und sich viel mit Anton und anderen Kameraden umhertrieb, behielt trotzdem diesen suchenden, etwas ängstlichen, verkümmerten Blick, wenn ihn nicht besondere Knabenfreude mit fortriß.

*

Sie waren jetzt alle vier Jahre älter. Große Bengels von zwölf und dreizehn Jahren, rechte Hamburger Jungens von der Wasserkante, die nicht nur auf der Straße zu Hause waren, sondern auch auf dem Strom. Sie konnten rudern wie ein richtiger Jollenführer, kannten alle Schiffe und bewegten sich in Ausdrücken, die meist nach Seewasser und Tabak rochen. Den Ton gab Fritz Kleesand an. Der hatte die Schule schon verlassen und sollte im Sommer auf See gehen. Er sprach schon wie ein Matrose und priemte. In der Schenke seines Vaters verkehrten genug Lehrmeister, die seine Erziehung in dieser Hinsicht übernahmen, ohne daß sie etwas mehr taten, als ihn durch Beispiele zu leiten, indem sie tranken, fluchten, aufschnitten, Karten spielten und kauten und schnupften.

Den anderen imponierte sein seemännisches Wesen. Nur das Kauen flößte ihnen Ekel ein, und Anton, der etwas auf sein Zeug hielt, sagte einfach »Du Schwein!« als Fritz Kleesand ihm einmal aus Versehen – wer will das feststellen – auf den Stiefel spuckte. Das fand Fritz Kleesand so komisch, daß er laut auflachte.

Im allgemeinen vertrugen sie sich gut. Sie waren in den Jahren, wo die Phantasie, immer mit abenteuerlichen Plänen beschäftigt, die ersten praktischen Versuche macht, sich in der Welt zurechtzufinden, sich in diesen schäumenden und brausenden Wassern des Lebens eine Insel zu suchen, wo sie ihr Königreich gründen könnte. Fritz Kleesand träumte seines irgendwo in Indien oder Kalifornien, ohne bestimmte Vorstellung; nur erst einmal hinaus, weit weg, in die Freiheit!

Hugos Phantasie war mehr an Büchern genährt. Ihm lagen Robinson und Lederstrumpf im Kopf. Anton war wohl auch für Lederstrumpf, aber weniger aus Lust am Abenteuerlichen und Phantastischen, als aus dem gesunden Drang heraus, sich auszutoben, seinen jungen, wachsenden Kräften ein Bett zu finden, in dem sie sich austoben konnten. Das mütterliche Erbteil in ihm war mehr überwiegend. Er war mehr für Land als für Wasser, und da er auch die große Überredungsgabe von ihr hatte – Junge, konnte er schwätzen, wenn er in Eifer kam – so heckte er meistens die Touren aus und setzte seine Pläne durch. Heute aber, es war ein freier Sonnabendnachmittag, hatten sie Fritz Kleesand die Führung überlassen. Der sollte in vierzehn Tagen als Schiffsjunge mit Käpt'n Krüzfeld von der »Alaska« in See stechen. Es war das letztemal heute, daß er mit ihnen zusammen war. Da erwiesen sie ihm allerlei Ehre und taten nach seinem Willen. Der war natürlich aufs Wasser gerichtet, und recht famos, das heißt, recht abenteuerlich sollte es zu guter Letzt noch werden.

Sie wollten ein Boot nehmen und nach der Insel Roß hinüber rudern und Eroberer spielen. Sehr kriegerisch waren ihre Vorbereitungen nicht, aber nicht ohne Umsicht und Einsicht. Krieg oder Frieden, der Magen will seine Rechte. Wer weiß, ob man am fremden Strande genügend Nahrungsmittel findet, ob die Eingeborenen gastliche Leute sind. Eine Erbswurst kann bei allen Unternehmungen gute Dienste tun. Ein Praktikus läßt sie nie außer Rechnung, und so stand bei allen Beteiligten schon wochenlang vorher fest, daß sie eine Erbswurst auf jeden Fall mitnehmen wollten. Sie wurde auf gemeinschaftliche Kosten angeschafft, Fritz Kleesand hatte den Einkauf übernommen. Dann war man übereingekommen, daß jeder für seinen Teil Proviant nach Wahl und Geschmack und in genügender Menge mitbringen solle. Anton sorgte für rote Wurzeln, Äpfel und Johannisbrot. Sein anderes Brot sollte jeder beistecken. Fritz Kleesand war für gemeinschaftlichen Einkauf von Schnecken oder Hörnchen oder so etwas Süßem; er war lecker. Aber Anton fragte ihn, ob er meine, daß Pizarro oder Kolumbus mit Apfelschnitten oder Vanilletorten auf die Entdeckung von Amerika ausgezogen wären. Und ob er glaube, daß er nachher bei Käpt'n Krüzfeld Schnecken zum Kaffee kriegen würde.

»Nu quatsch man nich erst wieder solang, um so n Dreck,« wehrte Fritz Kleesand ab, und dann brachte er nachher, um Anton zu beschämen, Schiffszwieback mit, richtigen, harten Schiffszwieback.

»Donnerwetter, Schiffszwieback!« rief Anton. »Wo hast du die her? Das ist famos. Da hätte ich auch an denken sollen.«

»Ja, nachher! Was wißt ihr, was zu einer Seereise gehört,« sagte Kleesand großartig und machte ein Gesicht, als hätte er noch etwas ganz Besonderes im Hinterhalt. Die drei Flaschen »Elbschloß« waren es nicht, denn davon hatte er eine unterm Arm, und die andern steckten jede ihren Hals aus seinen Seitentaschen heraus, von Anton gleichfalls mit einem vielsagendem »Donnerwetter!« begrüßt. Und die »Schweden«, die Fritz Kleesand vorzeigte, waren es wohl auch nicht.

»Dein Flintstein wird mal wieder keinen Funken hergeben,« sagte er zu Anton. »Besser ist besser.«

»So?« entgegnete Anton. »Wie fein brannte es neulich, das ist nur n Kleinigkeit.«

Hugo war der stille Handlanger wie immer. Er hatte nicht über viel Barmittel zu verfügen und hatte keinen Vater, dem man Flaschenbier ausführen, und keine Mutter, der man Wurzeln und Äpfel unter Einkaufspreis abluchsen konnte. Er hing von der Großmut der anderen ab und konnte sich nur mit einer Stange Lakritzen und einem Stück Schokolade im Gesamtwert von zehn Pfennigen, die er seiner Mutter mühsam abgebettelt hatte, am »Freßdepot« beteiligen, das seiner Obhut anvertraut wurde, nachdem man es wohl verstaut hatte.

Anton setzte sich ans Steuer, und Fritz Kleesand legte sich in die Riemen. Natürlich hatte er vorher in die Hände gespuckt und sich die Mütze in den Nacken geschoben, und Anton, der sonst nicht so war, ließ das Steuer noch mal schnell fahren und machte es ihm nach. Die Anmusterung auf der »Alaska« hatte Fritz Kleesand mit einem Nimbus umgeben. Alles was er sagte und tat, bekam dadurch einen Nachdruck, eine höhere Weihe.

Hugo hätte sich auch gerne in die Hände gespuckt, aber er hatte ja nichts anzufassen. So begnügte er sich damit, sich die trockenen Hände kräftig zu reiben, ließ aber die Mütze sitzen, wie sie saß. Verwegenheit lag so wenig in seiner Natur, daß die besten Beispiele hier nichts ausrichteten.

Anton, der für alle Kraftleistungen ein bewunderndes Auge hatte, staunte Fritz Kleesand an, der sich mächtig ins Zeug legte, und freute sich auf den Augenblick, wo sie die Plätze tauschen würden. Hugo war nur schwach, der konnte höchstens steuern. Und dann mußte man ihm auch noch auf die Finger passen.

Offenes Auge und sichere Hand mußte man freilich haben, wollte man durch dieses Gewirre von Böten, Ewern, Fährdampfern, Schleppern, Barkassen, um nur das Kleinzeug zu nennen, was da auf dem Strom durcheinander hastete, ohne Havarie hindurchkommen. Mancher warnende Pfiff der Dampfpfeife galt ihnen und führte Hugo, dessen Gedanken meist bei der Erbswurst verweilten, zu Gemüte, wie unsicher alles in diesem Leben ist, und daß man nur die schon genossenen Freuden zählen darf.


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