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Fünftes Kapitel

Eines Tages empfing Peter Witt Herrn Heinrich in seinem Kontor. Das war ein kleiner einfenstriger Raum neben dem Laden und roch ebenso nach Käse wie dieser. Herr Witt mußte besonders alten Limburger und ähnliche Marken feilhalten. Herr Heinrich hatte bei seinem Eintritt in den Laden den Atem angehalten, und sein fragender Blick war auf eine große Glasglocke auf dem Ladentisch gefallen, die eine wunderliche Masse bedeckte, die sofort den Verdacht erwecken mußte, der Verbreiter dieses beklemmenden Duftes zu sein. Eine helle rasselnde Klingel an der kleinen Traillentür, die den Zugang zum Laden noch besonders sperrte, hatte Peter Witt sofort aus seinem Kontor gerufen, während aus einem dunklen Hinterraum Tetje Butt hervorschoß, aber sofort mit einem hochroten Kopf wieder verschwunden war.

Peter Witt hatte Herrn Heinrich in sein Kontor komplimentiert und auf einen Rohrsessel genötigt, der hart neben seinem Pult stand.

»Sie haben mich zu sich gebeten, Herr Witt,« begann Herr Heinrich die Unterhaltung.

»Dschawoll, das hab ich. Ich hätt ja auch zu Ihnen kommen können, aber es ist doch besser, ich sag Ihnen das gleich hier.«

Er stand auf und schloß die Tür nach dem Laden. Herr Heinrich, als Vormund Tetje Butts erwartete nichts anderes, als daß es sich um sein Mündel handeln würde und fragte daher geradezu: »Schickt er sich nicht?«

Peter Witt kratzte sich den Hinterkopf.

»Schicken? Das is n ganz aasigen Bengel,« sagte er mit leuchtenden Augen. »Da steckt was in, der kanns zu was bringen, wenn er bloß man will.«

»Aber er will nicht?«

»Wissen Sie, er is ganz fix ins Geschäft, ich kann ihn hinstellen, wo ich will, es geht ihm allens von der Hand.«

»Nun das freut mich aber zu hören, Herr Witt.«

»Dschawoll, der Bengel ist brauchbar, brauchbar is der Bengel.«

Herr Heinrich rieb sich erwartungsvoll und froh, daß nichts Schlimmeres vorlag, die Hände.

Peter Witt aber war aufgestanden und ging in dem kleinen Zimmer immer hin und her.

Plötzlich blieb er stehen, sah Herrn Heinrich herausfordernd an und sagte:

»Und was meinen Sie, was der Junge jetzt tut, – bestiehlt mich.«

Herr Heinrich hob erschrocken den Kopf.

»Bestiehlt mich,« wiederholte Herr Witt mit Nachdruck.

»Bestiehlt Sie? Was? Waren?«

»Ne, Käse kann er so viel essen als er will, da hat er sich all durchgefressen.«

»Die Kasse doch nicht?«

Peter Witt sah ihn triumphierend an: Das hättest du dir wohl nicht gedacht?

»Aber das ist ja –«

»Was soll ich nu machen?« unterbrach ihn Peter Witt. »Soll ich den Jungen anzeigen, dann ist er für sein Leben unglücklich, das strafbare Alter hat er ja.«

Herr Heinrich sah den kleinen Mann bestürzt an.

Peter Witt sprach lebhaft, aber in einem Ton, der vermuten ließ, daß er die Sache nicht gar zu tragisch nahm.

»Ich möchte Sie freilich auch bitten,« sagte Herr Heinrich, »diesmal von einer Anzeige abzusehen, Gnade für Recht ergehen zu lassen, seine verwahrloste Kindheit –«

»Weiß, weiß alles, lieber Herr Heinrich.«

»Kann ich ihn nicht sprechen, ihm ins Gewissen reden?«

»Dscha, das is s gerade. Er soll wissen, daß Sie es wissen, Sie und ich, weiter keiner. Und dann soll er sich vorsehen und wird sich vorsehen. Das nächste Mal –«

»Sie tun ein gutes Werk.«

Peter Witt war schon an der Tür und rief laut: Theodor!

Aber im gleichen Augenblick rasselte die Traillentür und eine Kundin trat ein. Tetje Butt stürzte sogleich auf sie zu. Er mochte um diesen kurzen Aufschub recht froh sein. Aber Peter Witt ging selbst in den Laden, um die Frau zu bedienen, und Tetje Butt stand in hundert Ängsten dabei.

Währenddessen hatte Herr Heinrich Zeit, über Tetje Butts Untat nachzudenken. Er erinnerte sich der schönen Krawatten und weißen Manschetten und des pomadisierten Scheitels und anderer schöner Sachen, womit Tetje in der letzten Zeit glänzte. Er erinnerte sich, ihn einmal auf der Straße mit einem zierlichen Spazierstock, die Zigarette im Mund, getroffen zu haben. Er hatte ihn auch einmal im Volksheim mit seiner Eitelkeit geneckt, aber für ernste Ermahnungen war ihm das alles doch in zu harmlosen Grenzen erschienen. Jetzt machte er sich Vorwürfe, daß er als Vormund seine Pflicht gegen Tetje Butt verabsäumt hätte. Der Krawattenteufel, wie Collasius es einmal humorvoll bezeichnet hatte, hatte seine Hand zuerst nach Tetje Butt ausgestreckt, und dann war so nach und nach die Begehrlichkeit erwacht, und jedem Gelüst der Eitelkeit mußte gefröhnt werden. Aber daß dazu ein Griff in die Kasse nötig war! Tetje Butt verdiente doch weit mehr bei Herrn Witt, als früher als Laufbursche in der Konditorei.

Die Frau draußen hatte ihre Einkäufe gemacht, und Peter Witt, dessen lautes, unbekümmertes Lachen einmal zu Herrn Heinrich gedrungen war, erschien mit dem zitternden Sünder. Herr Heinrich erhob sich und sah ihn mit langem, ernsten Blick fragend an, aber er gab ihm dabei die Hand.

Tetje Butt wagte nicht aufzublicken.

»Herr Heinrich weiß allens,« sagte Peter Witt.

Tetje Butt sah immer auf seine Stiefelspitzen. Am schrecklichsten war ihm, daß Herr Heinrich seine Hand nicht losließ.

»Wie konntest du das tun, Theodor,« fragte Herr Heinrich bekümmert, bekam aber natürlich keine Auskunft.

»Er wird es nicht wieder tun,« sagte Peter Witt statt seiner.

»Ich bin auch barfuß groß geworden, dschawoll, das bin ich, und ich bin manchmal hungrig zu Bett gegangen, dschawoll, mit leerem Magen. Aber gestohlen hab ich nie. Und ich bin bis auf den heutigen Tag ein ehrlicher Mann geblieben.« Peter Witt ereiferte sich. Der Gedanke an seine eigene Ehrlichkeit schien ihn mehr zu bewegen, als der an Tetje Butts Unehrlichkeit.

»Immer ehrlich! Immer ehrlich! Das ist mein Prinzip. Davon muß man nicht abgehen, und dann genießt man auch immer Achtung. Die hab ich. Die bringt mich jeder entgegen. Und ich kann hinkommen, wo ich will, man respektiert mir, dschawoll.«

Herrn Heinrich war diese erregte Versicherung Peter Witts etwas peinlich. Er hatte ja gar nicht an dessen Ehrlichkeit gezweifelt. Es handelte sich hier ja um Tetje Butt.

Der atmete etwas auf, denn Herr Heinrich hatte während Peter Witts Deklamation seine Hand endlich losgelassen.

»Und nun sag ich dich, hier vor Herrn Heinrich,« wandte sich dieser jetzt an den armen Sünder. »Ich will dich nichts nachtragen, es bleibt alles, wie es ist zwischen uns, als wäre nichts vorgefallen. Und nu sieh mal her –«

Tetje hob scheu die Augen.

Peter Witt schloß ein kleines Schubfach in seinem Pult auf und zog es hervor.

»Sieh, hier hab ich die Portokasse, die laß ich jetzt immer auf. Herr Heinrich ist nun dabei und weiß Bescheid.«

Wieder rasselte die Schellentür, und Peter Witt ging selbst in den Laden.

Tetje Butt drückte sich in eine Ecke, wo man ihn vom Laden aus nicht sehen konnte. Herr Heinrich folgte ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Du müßtest ein ganz schlechter, tief gesunkener Mensch sein, Theodor, wenn du das Vertrauen eines solchen Herrn noch einmal mißbrauchst. Versprich mir, daß du es nie wieder tun wirst.«

Da fing Tetje Butt an zu weinen, zerrte ein großes blaukariertes Taschentuch hervor und duldete Herrn Heinrichs leise Hand auf seiner Schulter, die der erst wegzog, als Tetje Butt anfing, sich umständlich zu schneuzen.

Peter Witt, wieder ins Kontor tretend, warf Herrn Heinrich einen verständnisvollen Blick zu, und ein pfiffiges Lächeln spielte auf seinem bartlosen Gesicht. »Das hat geholfen,« sagte dieser Blick, »und man muß es nur verstehen,« sagte dieses Lächeln.

»So, nu geh man wieder an die Arbeit. Nachher mußt du nach Rosowsky mit die Schmalztonnen.« Tetje Butt kam beschämt aus seiner Ecke heraus und wischte sich mit der Linken die letzten Tränen ab, während er die Rechte in Herrn Heinrichs dargebotene Hand legte. Dieser hätte ihm gern noch ein Wort der Ermahnung gesagt, fand aber keines, das den Eindruck noch hätte vertiefen können. So begnügte er sich mit dem wortlosen Händedruck.

Von Peter Witt verabschiedete er sich mit warmem Dank und einer großen Hochachtung.

»Man muß allens immer ruhig anfassen. Immer gleich nach der Polizei rufen, da bin ich gar nicht für, das ist keine Kunst. Nu hat er Zeit, sich zu besinnen, und es wird sich nu allens geben. Dschawoll! Aber Sie sollten es doch wissen, von wegen ihm selber, weil ihm das besser ist. Haben Sie gesehen, wie er sich geschämt hat? Der tut es nu nich wieder.«

Mit diesen Worten brachte Peter Witt seinen Besuch vor die Tür.

*

Dieses Erlebnis mit Tetje Butt verstimmte Herrn Heinrich auf Tage. Er wollte sich Vorwürfe machen, daß er sich des elternlosen jungen Menschen nicht noch mehr angenommen hatte, aber er mußte sich doch zuletzt sagen, daß er nichts versäumt hatte, was man billigerweise von ihm verlangen konnte. Er durfte Tetje Butt bei Peter Witt gut aufgehoben wähnen. Der Prinzipal lobte seinen Fleiß und seine Anstelligkeit. Tetje war gerne da, und sein Einkommen war gewachsen. Unredlichkeit hatte er bei ihm nicht vermutet, wie es denn überhaupt nicht in seiner Natur lag, Mißtrauen zu zeigen.

Vor Peter Witts Methode, den Sünder auf den rechten Weg zu bringen, empfand er ehrlichen Respekt. Peter Witt hatte ihm imponiert, trotzdem er innerlich mehr als einmal über den drolligen kleinen Herrn hatte lachen müssen.

Wieviel Verbrecher wären gewiß gerettet worden, hätte man ihren ersten Fehltritt als einen Hebel zu ihrer Gesundung und Gesittung und nicht als einen Strick zu ihrer gänzlichen moralischen Erdrosselung benutzt.

Die Begeisterung, mit der Herr Heinrich sich der Volksheimsache widmete, hatte in dem kleinen übelriechenden Kontor Peter Witts neue Nahrung bekommen. Wieviele Tetje Butts gab es zu retten, zu erziehen. Wie viele andere streckten ihre Arme nach Liebe und Verständnis aus. Wieviel suchende Augen irrten umher und konnten den Weg nicht finden, der sie auf festes, gesichertes Land führte.

Aber war er, der da helfen und führen wollte, auch immer auf dem rechten Wege, konnte er bei gutem Willen nicht doch irregehen? Wie schwer war es, allen diesen verschiedenen jungen Seelen das Brot zu bieten, dessen sie gerade bedurften. Freilich, es hieß Menschenunmögliches verlangen, sich jedes einzelnen besonders anzunehmen. Aber man tat es doch bei diesem und jenem, wo Umstände und Verhältnisse dazu einluden und einem darin entgegenkamen. Bei Hugo Winsemann zum Beispiel hatte er sich eine leitende Hand angemaßt. War der auf dem rechten Lebenswege? War ihm nicht manchmal der Gedanke gekommen, daß der junge Tischler eigentlich kein rechter Handwerker war und einer rechtzeitigen Unterstützung, die ihm erlaubt hätte, das Seminar zu besuchen, keine Schande gemacht hätte. Jetzt war es zu spät.

Aber das war eine Sache für sich, die mit dem Volksheim nichts zu tun hatte. Wie aber wirkte das hier Gebotene auf einen so gearteten Geist? Fördernd? Beglückend? Oder zersplitternd, oberflächlich und zu seinem eigentlichen Beruf unlustig machend?

Es war ihm in letzter Zeit bange um Hugo geworden. Er bemerkte in diesem Kopf eine phantastische Unordnung von halbverdautem Wissen und einen Hang zu geistigem Hochmut. War das Volksheim daran schuld? Oder hätte er sich ohne dessen Eingriff ebenso entwickelt? Vielleicht noch verworrener? Es waren eine Menge Volksheimschüler da, die immer freier, immer klarer, immer gefestigter wurden. Das zeugte für den rechten Weg und den rechten Sinn ihrer Lehrer und Führer, die zugleich ihre Freunde zu sein sich bemühten. Allen gerecht zu werden, war unmöglich.

Er sprach mit Collasius darüber. Der hörte ihn vielfach zustimmend an, meinte aber dann:

»Lieber Freund, warum wollen wir uns mit Zweifeln und Bedenken lähmen? Daß wir im einzelnen mal etwas verkehrt machen, wäre es nicht ein Wunder, wenn wir es nicht täten? Wo ist ein Heilsweg, der nicht über Irrtum führt. Im ganzen tun wir das Rechte, indem wir jenen, die wie hirtenlose Schafe draußen stehen, einen Stall und eine bessere Weide öffnen, tun das Richtige, indem wir Elementen, wie dem kleinen Krahnstöwer, der mir eben nur einfällt, einen Halt geben, eine gesittete Gemeinschaft zugänglich machen. Im übrigen muß jeder einzelne an seinem Teil mithelfen, mit an sich erziehen und sich mit dem anderen großen Lehrmeister, dem Leben auf seine besondere Weise auseinandersetzen. Genug, wenn wir ihm dazu Weg und Werkzeug sein können. Will er sich auf dem Weg nicht halten, will er das Werkzeug nicht in die Hand nehmen, so muß er sehen, was aus ihm wird und wo er endet.«

*

Als Tetje Butt die Schmalzfässer für Rosowsky auf einer schottischen Karre über den Rödingsmarkt schob, warf er nicht wie gewöhnlich helle und kecke Blicke um sich, sondern sah scheu vor sich aufs Pflaster, die Augen nicht mehr erhebend als gerade nötig. Das war denn die Ursache, daß er mit einer Karre zusammenstieß, die glücklicherweise nur leere Körbe geladen hatte, die jetzt sämtlich auf die Straße purzelten.

»Kannst nich kieken?« schrie ihn eine helle, erboste Stimme an.

Tetje, dem die Deichsel seines Karrens unsanft an die Hüfte gestoßen hatte, hielt es für angezeigt, die Frage zurück zu geben.

»Kannst woll sülwst nich kieken,« schalt er, und fügte noch ein kräftiges »Schapskopp« hinzu.

»Wull du noch schimpen?«

Der andere stand mit zornrotem Gesicht vor ihm. Auch so ein kurzer kleiner Kerl, so daß sie Nase gegen Nase standen.

»Wull du wat?« fragte Tetje.

Mit funkelnden Augen maßen sich beide.

Tetje wandte sich verächtlich ab.

»So n Butt!«

Aber da traf ihn schon die Faust des Gegners in den Nacken.

»Dat will ick di wiesen!«

Die Prügelei war im schönsten Gange. War Tetjes Kraft durch sein Armsünderbewußtsein gelähmt? Oder war der andere »Butt« der Stärkere? Dieselbe Stelle, die seine Mutter früher für die geeignetste hielt, mußte Tetje seinem rabiaten Widersacher überlassen.

Als er wieder auf den Füßen stand, war all sein Stolz und Mut dahin. Er schlug sich den Staub von den Knien und schob ohne ein Wort unter dem Gelächter der Zuschauer ab. Vielleicht hatte er das bestimmte Gefühl, daß ihm diese Schläge vom Schicksal als Strafe zugedacht waren und er sich nicht beklagen dürfe. Der Sieger rief ihm noch ein paar Scheltworte nach, aber er verstand sie nicht. Ganz verstört war er, ganz unglücklich. War das ein Tag für Tetje Butt!


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