Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Acht Tage waren seit der Beerdigung des kleinen Willi Mau vergangen, acht schöne Tage, mit leichten östlichen Winden. Helle, heitere Tage, an denen die Sonne sich in den breiten Fenstern der großen Handelskontore spiegelte, daß es aussah, als sehe aus jedem dieser Fenster so ein lachendes Gesicht, das mit den Augen zwinkerte: »Ist das Leben aber schön, und wie vergnügt gehts in der Welt zu. Alles Gold! alles Gold!« Helle, heitere Tage, an denen die Sonne auch in den kleinen blinden Scheiben der alten Speicher noch ein Leuchten weckte, sich in die schmalen Fleete hineinstahl und über die staubigen Schuten eine goldene Decke warf, und draußen auf dem Strome alles in ein Funkeln und Blitzen kleidete. Acht schöne Tage, an welchen geschmückte Dampfer, fröhliche fremde oder heimische Ausflügler an Bord, mit Musik die Elbe hinunterglitten. Acht schöne Tage, während welcher Lene Lerch zweimal getanzt hatte, auf der Straße, zu den Klängen eines Leierkastens. Einmal hatte sie es voll ausgekostet, mit erhitzten Backen und fliegenden Zöpfen; Mutter Krautsch war nicht da, und keine Kundschaft störte ihr Glück. Das andere Mal aber hatte Mutter Krautsch sie hereingerufen: »Lene, büst nich klug? Son große Deern mang all die Kleinen?«

Was kann sich in acht Tagen nicht alles ereignen. Jeder Tag bringt etwas Neues. Eins wird über das andere vergessen. Sowie es dem kleinen Willi Mau erging. Wer dachte von all den neugierigen Leuten, die sich am Torweg aufgepflanzt hatten, noch an Willi Mau? Inzwischen war in der Nachbarschaft schon wieder eine Leiche gewesen, ein alter Pantoffelmacher. Wer dachte noch an den? Was zählt ein alter Pantoffelmacher in acht Tagen. Vor zwei Jahren, als die Cholera hier aufräumte, da ging es anders her. Aus Ohlsens Gang waren zwar nur zwei ausgezogen und hatten draußen in Ohlsdorf Quartier genommen. Ohlsens Gang war immer ein sauberer Winkel gewesen, wo einer den andern auf Reinlichkeit kontrollierte und der Hauswirt selbst nach dem Rechten sah. Aber anderswo hatte das Gift besseren Boden gefunden. Jeden Tag fuhren die schwarzen Wagen. Aber das sind alte Geschichten, sehr alte Geschichten. Zwei Jahre alt. Das Neueste war der Pantoffelmacher, und der war schon vergessen. Und vor ihm kam Willi Mau.

Nein, so schlimm stand es doch nicht um Willi Maus Gedächtnis, als um das des alten Pantoffelmachers. Auf der Straße freilich sprach man nicht mehr von ihm. Aber in Ohlsens Gang lebte er weiter. Da war seine kleine Schwester, die Marie. Die fragte alle Tage nach ihm. »Mama, wann kommt Willi wieder? – Is Willi bei Onkel, Mama? – Kommt er denn bald wieder?« Dann kniff die blasse junge Frau mit dem alten Gesicht die schmalen Lippen noch fester zusammen und strich der Kleinen beschwichtigend über den Scheitel. Und wenn sie dann doch die Lippen öffnete, klangen ihre Worte fast hart. Wie die Kleine sie quälte mit den Fragen. Wie oft hatte sie ihr schon gesagt, daß ihr Brüderchen tot sei, beim lieben Gott sei, wo er es jetzt viel schöner habe. Aber was wußte das Kind von tot. Es klammerte sich an ihre erste Antwort, die sie ihm damals aufschluchzend gegeben hatte: »Willi ist aus, Willi ist mit Onkel.«

Diese Frau hatte das Leben nur auf der Schattenseite gelebt. Ihre Mädchenjahre waren harte Arbeit gewesen, zu Hause und bei fremden Leuten, ihre junge Ehe verdüstert durch das langsame Dahinsiechen des schwindsüchtigen Mannes. Sein Tod hatte sie mit den Kindern alleine gelassen, mit zwei Kindern. Andere Frauen, die alleine standen, hatten vier und fünf durchzubringen. Sie klagte nicht. Sie arbeitete, und sie konnten sich satt essen. Sie ging als Waschfrau aus und übergab die Kinder der Hut freundlicher Nachbarn. Sie liebte die Kinder, still, wortkarg. Sie war von Haus eine herbe verschlossene Natur. Ihr Mann war weicher gewesen, fröhlichen, mitteilsamen Gemütes. Und wenn ihnen die Sonne nur ein wenig geschienen hätte, wäre sie an ihm aufgetaut. Aber die Sonne wollte ihrem Manne nicht helfen bei seiner Frühlingsarbeit an ihr. Und da kam die Krankheit, und auch seine Wärme und Heiterkeit erlosch. Woran sollte sie nun auftauen? An den Kindern? Ja. Ihr Junge war so eine aufgehende Sonne, warm und heiter wie der Vater und dabei, was ihr ja immer eine stille Freude gewesen war, zäh und geschmeidig wie sie. Jetzt lag er auf dem Kirchhof.

Als es vier Wochen her war, daß sie ihn nach Ohlsdorf gebracht hatte, kam Mutter Krautsch nach Feierabend und setzte sich langsam und verlegen auf den nächsten Stuhl an der Tür. Einen Korb mit Wurzeln, Sellerie und ein paar Kohlköpfen stellte sie neben sich auf den Fußboden.

Frau Mau schickte Mariechen, die am Fenster mit einem hölzernen Schäfchen spielte, in die Küche.

Mutter Krautsch atmete schwer und hörbar und fing an zu schluchzen.

»Heut sind es grade vier Wochen,« stieß sie unter Tränen heraus. »Es steht mir noch allens so vor, als wenn es gestern gewesen wär.«

Die blasse Frau sah sie mit einem harten, fast feindseligen Blick an und strich mechanisch die kleine gehäkelte Tischdecke glatt.

»Das alte Steinewerfen,« schluchzte Mutter Krautsch, »ich hab es ja immer gesagt. Das gibt noch mal 'n Malör. Wenn sein Vater das wüßte. Er schlüg ihn ja wohl tot.«

Jetzt setzte auch Frau Mau sich, legte die gefalteten Hände in den Schoß und sah starr vor sich nieder.

»Mit Willen hat er es ja nich getan,« sagte Mutter Krautsch. »Das wissen Sie ja auch. Er ist ja auch so 'n gutes Kind sonst.«

»Mit Willen nicht, nein, mit Willen nicht,« wiederholte Frau Mau leise und sah dabei immer vor sich hin. Sie konnte diese breite, gesunde, kräftige Frau mit den guten, jetzt in Tränen schwimmenden Augen nicht ansehen. Gerechtigkeit, das war schon in der Jugend immer ihr letztes Wort gewesen. Gerecht und selbstgerecht. So war sie. Aber dieser wohlgenährten Frau gegenüber verlor sie diesen Grund unter ihren Füßen. Hatte sie nicht Ursache zu Neid und Haß? Und wie redselig war diese Frau bei allen Tränen. Was wollte sie denn? Warum redete sie denn? Ach, da fing sie schon wieder an.

»Wenn er es nun erfährt, mein armer Anton. Sagen Sie es ihm nich, um Gottes Barmherzigkeit willen. Sagen Sie es ihm nich. Machen Sie ihn nich unglücklich.« Die ganze mütterliche Liebe weinte in diesen Worten. Da wandte Tilde Mau ihr ihr hartes Gesicht zu und sagte laut und bestimmt: »Nein, das wäre Sünde. Er soll es nie erfahren. Von mir nicht.« Und als ob dieser Entschluß sich ihr aus dem tiefsten Herzen losgerissen und dabei die eisige Kruste, die sich um ihren Schmerz gelegt, gesprengt hatte, schlug sie plötzlich die Hände vor das Gesicht und weinte bitterlich.

Da stand Mutter Krautsch leise auf und strich ihr mit der großen roten Hand immer über den dünnen blonden Scheitel, während sie sich mit der Linken heftig schnäuzte. Und als Frau Mau unter ihrem Streicheln stillhielt, wie ein Kind, und nichts sagte, sondern nur leise vor sich hinweinte, ließ sie von ihr ab und ging hinaus. Den gefüllten Korb ließ sie zurück, schob ihn aber im Hinausgehen mit dem Fuße möglichst unauffällig noch etwas weiter ins Zimmer hinein.

Auf der Treppe rieb sie sich mit der Schürze tüchtig die Augen. Die andern Weiber sollten nicht sehen, daß sie geweint hatte. Schludersch waren sie alle und steckten immer gleich die Köpfe zusammen, und die Cyriaks war die Schlimmste.

Die Cyriaks saß aber doch hinter ihrer Gardine, und am andern Tag wußten sie es alle, daß die Krautschen bei Tilde Mau gewesen war.

»Das soll sie auch man ja tun. Das is sie ihr ja auch woll schuldig. Mit all ihren Rüben und Wurzeln kann sie ihr das nich wieder gut machen.«

Aber in einem waren sich alle diese alten Weiber einig, auch die alten Jungfern, die nie ein Kind an ihrer Brust oder auch nur auf dem Schoß gehabt hatten: Wissen durfte es der Krautschen ihrer nie, daß er den kleinen Willi Mau totgeschmissen hatte. Er würde ja nie wieder eine ruhige Stunde haben können.

Totgeschmissen. So sagten alle diese alten Weiber. Und die Cyriaks hatte es selbst gesehen. Der Junge war ja sonst nicht so, aber er konnte so jähzornig werden. Und da hatte er blindlings den Stein geworfen. Acht Tage hatte der kleine Mau gelegen, da war er gestorben. Der Stein war schuld. Der Doktor hatte es ja selbst gesagt. Also richtig totgeschmissen. Das war nun so. Und das sein lebelang auf dem Gewissen haben. Der arme Junge. Er durfte es nie erfahren. Und sie gaben sich alle das Wort darauf und sprachen immer nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit von dem Schrecklichen. Wenn aber Anton Krautsch seine Spiele bis in Ohlsens Gang ausdehnte, was nicht selten geschah, wenn er mit Hugo Winsemann, der Maus gegenüberwohnte, marmelte, dann sahen alle diese Weiber den Jungen mit so traurigen, vorwurfsvollen Blicken an, als wäre er ein ganz unglückliches und verlorenes Kind.

Anton Krautsch aber, der von nichts wußte, und dem es ganz gleichgültig war, wie man ihn ansah, richtete beim Spielen seine hellen Augen immer nur auf die Marmeln. Er kümmerte sich auch sonst um nichts weniger als um andere Leute. So ein siebenjähriger Knirps, dem das Leben aus den Augen lachte. So eine kleine stämmige Range, die den Hugo Winsemann mit einer Hand umwarf, so ein fixes Kerlchen, das schon mit seiner Mutter zu Markt fuhr und ihr die vollen Körbe zureichte, daß die Marktleute und Karrenschieber sagten: »Büst jo n bannigen Kerl« – so einer brauchte die Leute nicht, er war sich selbst genug, Mittelpunkt der Welt. Für ihn schien die Sonne, für ihn wuchsen die Apfel, backte der Bäcker das Brot, stopfte der Schlachter die Würste, für ihn lagen alle die Schiffe da draußen auf dem Strom, für ihn war Hamburg da, vor allem aber seine Mutter, die ihn waschen und kämmen und anziehen, ihm Morgen- und Mittagbrot geben, kurz, allezeit für ihn sorgen und ihn lieb haben mußte. Er hatte sie auch lieb. Aber wenn er ihr mit seinen Kinderkräften half, wo er nur konnte, so war es nicht, weil er ihr ihre Liebe lohnen wollte, sondern weil es ihm Spaß machte, weil das Herumarbeiten und das Sich-ein-bischen-wichtigmachen seine größte Lust war.

Vor allen aber war der Hugo Winsemann für ihn da. Den hatte der liebe Gott extra für ihn in die Welt gesetzt. Der gehörte ihm. Und wehe, wenn er sich dieser Hörigkeit entziehen wollte. Es war sein Glück, daß er hierzu von Haus aus wenig Anwandlung verspürte. Er hatte einen großen Respekt vor dem stämmigen Anton, dessen frischer, forscher Führung er sich gern überließ. Dieser kleine Schlepper, immer unter Dampf, schleppte ihn, wohin er ihn haben wollte, und immer mit einem unverhältnismäßigen Gebrauch an Kohlen. Das qualmte und puffte aus dem Schornstein, als gelte es, eine ganze Kette von schwerbeladenen Ewern gegen den Strom zu schleppen und es war doch nur die kleine, leichte Schute Hugo Winsemann.

Mutter Krautsch aber, wenn sie ihren Jungen so voller Leben sah, dachte manchmal: »Wo hat er das nur her? Sein Vater is so 'n ruhigen sinnigen Mann.« Dann mußte er es also wohl von ihr haben. Und sie war stolz darauf. »Dat is min Anton.«

Hugo Winsemann, dieser kleine Schwächling, ach, was war das doch für ein Junge! Immer verträumt. Immer »dösig«. Er lutschte noch, saß in irgend einer dunklen Treppenecke und ergötzte sich an seinem Daumen. Er hatte viel Spott deswegen aushalten müssen, namentlich von Anton. Da trieb er es nur noch heimlich. Im Bett, vorm Einschlafen, war er vor jeder Störung sicher. Die Mutter, eine schwache, leidende Frau hatte ihn gewähren lassen, froh, daß dieser Schlummerbalsam so sanft und sicher wirkte. Der Vater hatte des Abends Schreiberarbeiten zu verrichten und wollte durchaus Ruhe haben. Er war so nervös. Er war »Geistesarbeiter«, wie er seiner Frau mindestens einmal in der Woche ins Gedächtnis rief. Er stricke keine Strümpfe, seine Arbeit wäre höher zu werten. Er brauche Stille, Schonung, Verständnis, nur ein bischen Verständnis. Und Frau Winsemann verstand ihren Gemahl, schloß leise die Tür hinter sich und steckte Hugo ins Bett. Arno Winsemann hatte von jeher seine Familie mit seinem Ruhebedürfnis tyrannisiert. Er war Lehrer gewesen, hatte aber einen Dichter in sich entdeckt und daraufhin den Dienst quittiert. Arno Winsemanns Gedichte konnten nur in Freiheit erblühen. Aber es war entweder nicht die rechte Freiheit, oder nicht das rechte Talent. Arno Winsemanns Gedichte gediehen nicht. Wie konnten sie auch! Bei Kindergeschrei, Küchenlärm, Nähmaschinengeklapper!

Arno Winsemann lief auf die Straße, aber die Muse haßt den Lärm der modernen Großstadt. Arno Winsemann saß im Kaffee, aber die Muse trank keinen Kaffee. Da kaufte er sich ein Rad, auf Abzahlung natürlich. Hinaus, nur hinaus! an den Busen der Natur!

Aber ach, es war ein kalter Busen, auch er war nicht der Ort, wo Arno Winsemann ruhen konnte. Er hätte weit weg müssen, auf irgend eine einsame Insel, wo Marmorpaläste aus Myrten schimmerten, und die Musen selbst ihn in ihre Mitte nahmen. Aber mit dem Rad war diese Insel nicht zu erreichen, und Armut drückte ihn nieder.

So war die Insel, auf der Arno Winsemann zuletzt landete, der Kontorbock in der Schreibstube eines Advokaten. Sein verhungertes Aussehen und seine schöne Handschrift hatten ihn dem mitleidigen Manne empfohlen. Frau Winsemann hatte diese Anstellung als ein großes Glück begrüßt, Arno sie mit der Resignation eines gebrochenen Titanen auf sich genommen.

Jetzt hatten die fünf Jahre Advokatenstube längst allen Trotz und alle Verbitterung aus seiner schwammigen Seele herausgepreßt. Ach, sie war so trocken geworden, diese Seele, daß sie wirklich von Zeit zu Zeit einer Anfeuchtung bedurfte, und seit dem Cholerajahr, wo man den bösen Feind so tapfer mit Kognak bekämpfte, war ihm diese Kriegsgewohnheit geblieben. Der Hang zum Trinken fing an, sich in ihm auszubilden, um so mehr, als er in diesen anfangs noch seltenen Stunden irdischer Entrücktheit sich wieder als der alte verkannte Arno Winsemann fühlte, dem eigentlich ein Rosenpfühl im Kreise der Musen aufgeschüttet sein sollte, und nicht dieses harte Feldbett, eine Treppe hoch, Ohlsens Gang Nr. 9. So schlürfte er mit dem einen Gift auch das andere.

Der kleine Hugo war äußerlich ganz das Ebenbild des Vaters, und die Mutter gewahrte mit Besorgnis, daß er auch seines Geistes Kind zu werden versprach. Aber sie wollte schon über ihn wachen und ihn leiten. Und nie, nie sollte er Verse machen. Sie hätte ihr Kind nie geschlagen, aber das würde sie ihm ausprügeln, unerbittlich. Und da er so war, so verträumt und in sich hinein, ein so gefährliches Kind, so sah sie es mit großer Freude, daß er sich an den Anton Krautsch so anschloß, und hoffte, der würde ihn mit sich reißen und einen gesunden Jungen aus ihm machen.

Ein paarmal war Anton bei Winsemanns gewesen und hatte mit Hugo aus schmutzigen, kleberigen Dominosteinen Häuser gebaut. Natürlich war dann der Vater nicht zu Hause gewesen; dem würden die einstürzenden Schlösser und Burgen zu sehr auf die Nerven gefallen sein. Aber dem Anton war es bald langweilig bei Winsemanns geworden, er war nicht für Stubenspiele. Im Sommer nun gar nicht! Und im Winter gab es doch Glitschen und Schneeballen. Was sollte das dumme Dominospiel!

So sahen sich die beiden Jungen nur noch auf der Straße. Neuerdings, im ersten Schuljahr, kam Anton wohl einmal heraufgesprungen, um Hugo nach einer Aufgabe zu fragen. Und dann war Frau Winsemann erfreut, daß ihr Junge der klügere war, aber auch besorgt, daß es in seines Vaters Klugheit umschlagen könnte. Und unter dieser hatten sie beide zu sehr gelitten, als daß ihr das »Höhere« noch erstrebenswert erscheinen sollte.

Kam Anton selten, so kam die kleine Marie Mau um so häufiger herüber. Die Mutter hatte sie auch früher, wenn sie auf Arbeit ging, der Frau Winsemann anvertraut, lieber, als der kinderlosen Nachbarin. Seit dem Tode des kleinen Willi aber hatte das verlassene Schwesterchen sich ganz nach Winsemanns hingewöhnt und verkehrte mit Hugo wie mit ihrem Bruder. Mit ihrer Puppe wollte er freilich nichts zu tun haben. Aber sie war es zufrieden, wenn sie mit seinen Dominosteinen spielen durfte und beneidete ihn vor allem um seine beiden Bilderbücher, die größer und bunter waren als das ihrige, und woraus er ihr schon alle Verse vorlesen konnte. Daß er nur das von der Mutter Gehörte aus gutem Gedächtnis nachplapperte, wußte sie ja nicht. Sie nahmen es beide für Lesen und taten sehr wichtig dabei.

War Hugos Papa nicht daheim, durften sie auch einigen Lärm machen, Häuser bauen aus den Dominosteinen, hohe Türme, die dann beim leisesten Anstoß mit lautem Geprassel zusammenstürzten, was manchmal mit einem Freudengekreisch, manchmal mit einem lauten Gejammer begleitet wurde. Große Paläste bauten sie, worin sie wohnten und sich König dünkten. Herrliche Parks umgaben sie mit diesen Dominosteinen, deren vieläugige Mauer selbst verwundert in diese Pracht zu staunen schien. Und Mann und Frau spielten sie, König und Königin, und hatten Pferd und Wagen, worin sie in die weite Welt kutschierten, aus der sie mit brennenden Backen und leuchtenden Augen heimkehrten.

Holte Frau Mau Mariechen dann abends ab, einen frischen Geruch von Chlor und grüner Seife um sich verbreitend, dann flog wohl ein flüchtiger Schimmer von Weichheit über das stille, harte Gesicht, und es war, als wollte sich von der Liebe zu ihrem kleinen Toten etwas warm und weich um den kleinen Freund ihres Mariechens legen. Aber dies flüchtige Licht erlosch schnell, wenn ihr aus dem Gutenabendgruß des Herrn Schreibers einmal wieder der Duft des genossenen Rums entgegenwehte. Dann konnte sie einen strengen Blick auf den kleinen unschuldigen Hugo werfen, ihr Kind fester an die Hand nehmen und eiligst mit ihm das Zimmer verlassen, als drohe ihm hier eine böse Ansteckung.


 << zurück weiter >>