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Zehntes Kapitel

Ja, es war Frühling geworden. Heiterster Frühling. Nicht mehr jene ersten herben Tage, wo die Kinder noch mit roten Näschen von den ersten Ausflügen zurückkehren, die ersten Weidenkätzchen in den kleinen kalten Händen, das Einzige, was außer ihren strahlenden Augen schon vom Frühling spricht, nein, voller blühender Frühling, wo die Gärten weiß sind von Kirschblüten, Magnolien und zartem Flieder, und die Wiesen gelb von Butterblumen und Hahnenklee und die Luft lachend blau, wo die Apfelblüte ihren rosigen Hauch dazu tut, und Narzissen und Tulpen aus der weichen offenen Erde flammen, wie die Danklieder aus einer erfreuten Brust, die nun endlich allen Druck von sich genommen fühlt und selig der Sonne entgegenlacht.

Und man sah es an den Menschen auf der Straße und in den Werkstätten, in der Stadt und auf dem Lande, daß es Frühling war. Es waren nicht ihre leichten hellen Kleider, es waren ihre Gesichter, die den Frühling verkündigten, ihre freien offenen Mienen. Die Strenge schien gemildert, und der Kummer ein wenig von Hoffnung durchlichtet, und die Geschäftigkeit fröhlich um ihrer selbst willen und nicht des Gewinnes wegen, wenn es auch wohl oft nur so schien. Die Straßenjungen und die kleinen Laufburschen pfiffen an einem Tage mehr als Winters in einer Woche, gleichwie auch die Hunde auf der Straße wieder ein fröhlicheres Bellen anschlugen, wo sie sonst verdrossen herumfroren.

Und wieviel tausend Frühlingszeichen waren da noch! Im Hafen war natürlich das vornehmste der regere Schiffsverkehr. Die Frühlingsstürme hatten ausgetobt; was da hinaussegelte, tat es ohne Sorgenwimpel, und was von draußen kam, nicht mit einem »Gott sei Dank, endlich geborgen!«, sondern mit einem raschen, fröhlichen »Hier bin ich, habe aber gar keine Zeit, wollte nur mal Guten Tag sagen; übermorgen gehts wieder weg!«

Ja, das war ein Leben und Treiben im Hafen. Jan Tüt allein verlor nicht seine Ruhe. Er stand am alten Platz und spuckte in die Elbe. Hielt er auch, wenn die letzten warmen Tage zu Ende gingen, in alter Gewohnheit ziemlich lange aus, bis er der Kälte endlich wich, so kehrte er doch erst mit dem Anbruch wirklichen Frühlingswetters zu seiner Lieblingsbeschäftigung zurück. Eines fehlte freilich in dem gewohnten Frühlingsstadtbild hier am Hafen. Mutter Krautsch stand nicht mehr mit in die Seite gestemmten Armen auf der Treppe ihres Kellergewölbes und nickte den Vorübergehenden freundlich zu. Mutter Krautsch schämte sich, das zu tun. Ihr Keller war in einer Weise in der Leute Mund gekommen, die sie sich nie hätte träumen lassen. Sie selbst hatte nichts dazu getan, sie hätte den Leuten wohl offen in die Augen sehen können, wenn sie sich auch manchmal törichterweise der Mitschuld anklagte. Aber schämt sich nicht eine Mutter für ihr Kind, ein Bruder für seine Schwester, ein Sohn für seinen Vater, eine gute Magd für ihre böse Herrin? Und Mutter Krautsch sollte sich nicht für Lene Lerch schämen, die in der Leute Mund war, weil sie Mutter werden sollte? Ja, dieses Fischlein der Liebe saß an einem schlimmen Haken, und der es befreien konnte, war weit weg und dachte nicht daran.

Lene trug ihr Schicksal mit stumpfer Gelassenheit, durch die nur manchmal ein Trotz brach. Warum wurde sie so gestraft? War ihre Liebe nicht ehrlich? Hatte sie einem schlimmen Gedanken Raum gegeben? War sie nicht nur unglücklich und nicht schlecht? Braucht man sich seines Unglücks zu schämen?

Aber sie verbarg sich doch wie ein krankes Tier vor den Leuten, und Mutter Krautsch ließ es geschehen, soviel es anging.

Einen Trost hatte Lene. Mutter würde sie nicht verlassen, und einen Halt hatte sie, wo alles um sie wankte. Es gab eine Liebe und eine Treue, die wohnte in Mutter Krautschens Herzen und trat hervor, wo sie nötig war, streckte ihre sanften weichen Hände aus und half tragen und trösten und tapfer sein.

Anders war Frau Melitta Ohlsens Herz. Darin wohnte diese Liebe nicht. Darin wohnte ein frommes, strenges, blasses Wesen, das die Sünde heimsucht mit Predigt und Strafe, ein Wesen mit harten kühlen Händen, die Almosen gaben vor der Tür, wollene Söckchen strickten für schwarze Missionskinder und mit knöchernen Fingern auf jede Stelle in Luthers Katechismus stießen, die gerade in Frage kam.

»Ich bin verantwortlich dem Herrn,« sagte Frau Melitta Ohlsen, und da sie jetzt ein junges, sechzehnjähriges Mädchen in ihrem Hausstand beschäftigte, nahm sie Ärgernis an der Nachbarschaft der Unzucht, und da die Sünde sich unter ihrem eigenen Dache breit machte, stand sie auf und eiferte.

Klara, die kleine Magd, durfte nicht eher wieder bei Mutter Krautsch kaufen, bis das Ärgernis beseitigt und Lene aus dem Haus war. Und der junge Mann in Ohlsens Laden war ein Sohn rechtlicher Eltern, der Vater war Kirchenpfleger.

Asmus Andreas Ohlsen zuckte die Achseln. Was wollte er dabei machen. Schließlich war es ein Fall, der in einer so großen Stadt nicht vereinzelt stand.

Aber Frau Melitta wußte, daß Asmus Andreas etwas laxe Anschauungen hatte. Umsomehr war sie verpflichtet, ein tugendhaftes Haus vor dem Anblick des Lasters zu schützen, wo sie es vermochte, und hier vermochte sie es. Sie ließ Mutter Krautsch zu sich bitten, und hatte eine milde, tränenvolle Unterhaltung von anderthalb Stunden mit ihr. Auch Hansemanns, die Nachbarn, hätten neulich ein Wort darüber fallen lassen. Die beiden Fräulein Hansemann wären so gesittete, wohlerzogene Mädchen. Kurz, es war so etwas von christlicher Boykottierung des Sündenkellers, was hinter dem milden Tränenregen, wie die drohende Küste eines unbekannten, Gefahr bergenden Landes schattenhaft auftauchte.

Mutter Krautsch fühlte sich in Kummer und Scham klein und befangen vor Frau Melitta und fand kein rechtes Wort. Aber auch ihre Entrüstung und ihr Trotz, die zu Hause aufwachten, legten sich wieder vor der Notwendigkeit, es jetzt, wo sie ganz allein stand, mit ihrem Mietsherrn nicht zu verderben. Anton schwamm irgendwo im weiten Ozean mit seinem Schiff. Tante Miele war tot, Lene, statt ihr eine Stütze zu sein, geschwächt und hilfsbedürftig. Sie wollte wenigstens in ihrem Keller in Frieden sitzen können, bis Anton zurückkam, und wollte ihr Geschäft nicht leiden lassen. So sollte denn Lene Lerch so lange aus dem Hause und ihr Kind nicht hier erwarten.

Mutter Krautsch glaubte, bei Lene auf Widerstand zu stoßen. Aber diese fand sich schnell darein, wenn sie auch zuerst erschrocken war. Nur so weit weg wollte sie nicht, irgendwo in der Nähe wollte sie bleiben, und Mutter Krautsch sollte sie nicht verlassen. Ein Stübchen bei fremden Leuten, ganz in Stille und Zurückgezogenheit. Das war doch am Ende das Beste. Es war ja nur auf Wochen. So lange schlüge Mutter sich schon mit einem kleinen Mädchen aus der Nachbarschaft durch. Gegen billigen Lohn war schon so eines immer zu haben. Und nachher wollten sie schon zusammen hausen, sie und Mutter und das Kind, und es sollte keiner was dreinreden, und sie wollte für drei arbeiten. Mutter sollte auch gar keine Last davon haben.

Das war im Februar gewesen, als Frau Melitta Ohlsen Lene Lerch vertrieben und damit die Luft gereinigt hatte. Aber für Mutter Krautsch war dadurch die Sache nicht anders geworden, nicht weniger genierlich. Und je schöner es draußen wurde, je näher rückte die Zeit, der sie nicht weniger als Lene selbst mit Sorgen entgegensah. Mutter Krautsch hatte die Sonne so nötig, aber sie scheute sich, und als alle Türen sich mit den fröhlichen Maibüschen schmückten, genügte ein einziges Zweiglein, ihrer Pfingstfreude Ausdruck zu geben und stach gar ärmlich gegen den schönen Segen vor den Kleesandschen Schenkstuben ab, mit dem Mutter Krautschens Maibusch sonst immer so freudig gewetteifert hatte. Diesmal hätte man ihre schüchternen Rütlein symbolisch nehmen können, wenn man mit Frau Melittas Augen alles Geschehene unter dem Gesichtswinkel einer strafenden oder segnenden Gerechtigkeit ansehen wollte. Mutter Krautsch hatte aber weder solche noch andere Gedanken, als sie das bescheidene Zweiglein aufsteckte. Sie wollte nur den Festbrauch nicht ganz außer acht lassen, schon der Kunden wegen. Wenn sie aber am Abend vorher auch einen etwas ansehnlicheren Busch eigenhändig in Lenes Stube trug, so war es mehr als ein Hangen am alten Brauch, es war eine Liebe dabei, die in einen dunklen Winkel etwas Sonne bringen wollte.

»Die können heute Pfingsten feiern,« dachte sie, als sie mit ihrem Maibusch an Kleesands reichgeschmückter Tür vorüber mußte. »Die machen sich um ihren Windhund keine Sorgen, und wenn sie wüßten, was er für ein schlechter Mensch ist, ob sie der Lene wohl zu ihrem Recht verhelfen würden? Die nicht! Aber wissen sollen sie es, wenn das Kind erst da ist, wer der Vater ist.«

Noch wollte Mutter Krautsch schweigen. Es könnte ja einen bösen Weg mit Lene nehmen, und dann wäre es ja unnötig, sich erst all die Scherereien zu machen. Aber nachher, wenn das Kind erst da ist, und dieselbe lange spitze Nase zeigte wie der Moschü, sein windiger Vater, und man es ihm am Gesicht absehen konnte. – Na, so ganz still sollte der Bengel da nicht mit durchkommen, und seine Schuldigkeit sollte er tun. Kleesands hatten Geld.

Am andern Morgen, am Pfingstsonntag, kam aber ein Brief von Anton, der alles änderte. Es war ein langer Brief aus Schanghai datiert, worin er von allem erzählte, was er bisher gesehen, und daß es ihm gut ginge, und daß er mit seinen Vorgesetzten gut stünde. Aber mitten darin war eine Sache, die war nur mit ein paar kurzen Worten abgetan, die erdrückte aber alles andere mit ihrer harten nackten Tatsächlichkeit.

»Fritz Kleesand ist neulich bei einer Messerstecherei am Lande ums Leben gekommen. Es mußte mal so kommen. Er fing überall Streit an. Seine Eltern werden es wohl all vom Kommando wissen, wenn du dies liest.«

Jetzt war Mutter Krautsch ratlos. Was sollte sie machen. Lene konnte sie es doch nicht sagen. Kleesands hatten es natürlich auch heute erfahren mit der Post. Die ganze Straße würde es heute noch wissen. Am ganzen Hafen würde man davon sprechen. Wie es Lene verheimlichen? Und was sollte sie jetzt Kleesands sagen? Zu ihren Schmerzen noch die Schande legen und die Sorge um ein uneheliches Enkelkind? Sie trat fast gedankenlos aus der Tür, den offenen Brief in der Hand, und sah über das sonnige Pflaster hinweg nach Kleesands duftigem Maibuschportal. »Unter das schöne Grün is nu auch der Briefträger gegangen und hat sie den Brief gebracht.« Aber bekannte Schiffer kamen aus der Wirtschaft, lachend und sich laut voneinander verabschiedend. Die wußten es also noch nicht. Der eine, Steuermann Studt, kam an ihr vorüber und nickte: »Tag, Mutter Krautsch, prächtiges Pingstweder hüt.«

Ob sie ihn fragte, ob sie es ihm erzählte?

Aber da kam der Briefträger aus Ohlsens Laden die Treppe herunter:

»Hebbt Se keen Bref för Kleesands hatt?«

Er sah sie verwundert an.

»Bi Kleesands bün ick nich wesen. Ick hev mi bi Ohlsen n beten upholln. Dat weer n Geldsendung. Aber n Breef is da för Kleesands.«

Er schien noch mehr sagen zu wollen, grüßte aber dann kurz und ging.

Sie sah ihm nach, bis er bei Kleesands verschwand. Er blieb längere Zeit in der Wirtschaft. Es war ja Pfingsten. Man würde ihm ein Glas Bier einschenken. Inzwischen würden die Wirtsleute den Brief erbrechen.

Es war ihr, als müsse sie einen Schrei hören durch alle Wände hindurch.

Aber es war Sonne und fröhlicher Straßenlärm um sie herum, vom Wasser her kam Gesang, und ein Junge ging pfeifend an ihr vorüber: Weißt du, Mutter, was mir träumt hat?

Aber jetzt kam der Briefträger wieder heraus. Er sah sich aber nicht um, sondern ging schnell nach der anderen Seite weiter.

Jetzt wußten sie es also.

Mutter Krautsch blieb stehen. Den nächsten Gast, der Kleesands Wirtschaft verlassen würde, würde man es ansehen. Aber es kam keiner heraus. Sie spürte einen kaum zu bezwingenden Drang, mit ihrem Brief hinüberzulaufen. Aber nein, wie oft mochte man da in der Schenke skandaliert haben, ohne zu ahnen, wer das Mädchen ins Unglück gebracht. Sollte man den Leuten es nicht gönnen? Das war die Strafe!

Mutter Krautsch, immer den Brief in der Hand, ging wieder in ihren Keller zurück, setzte sich in die Küche und las den Brief noch einmal. Daß es Anton so gut ging, warf etwas wie Sonnenschein in ihr Gemüt. Und dann kam wieder das Furchtbare. Und sie las suchend – kein Wort von Lene in dem ganzen Brief. Ja, hier ganz am Schluß: Ein Gruß! »Grüß Lene«. Aber nichts, das anzeigte, daß Anton wußte, wieviel Fritzens Tod Lene anging. Sollte er wirklich gar nichts wissen, gar nichts gemerkt haben?

Sie las den Brief zum drittenmal und wurde etwas ruhiger.

»Wer weiß, wozu es gut ist. Wenn das Kind nu auch tot ist, dann ist ja allens wohl am besten so, und wenn Kleesands dann nichts zu wissen kriegen – er ist ja nu tot und er war ihr Kind, und sie hat ihn liebgehabt. Und wenn Lene dann wieder zu sich kommt – und von dem Toten kann sie nichts mehr wollen, dann gibt sich das allens noch. Und es hat denn allens woll so sein sollen.«


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