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Elftes Kapitel

Hugo war mit einmal eine wichtige Persönlichkeit in Ohlsens Gang. Er lag mit geschientem Arm im Bett und empfing Beileidsbesuche.

»Gott, was n Aufstand,« sagte Lene Lerch.

Der Arzt kam ein paarmal. Anton und seine Mutter fragten wiederholt nach dem Befinden. Die Cyriaks fehlte natürlich nicht, die mußte überall dabei sein und guten Rat geben. Lene Lerch selbst mußte sich beteiligen, denn Mutter Krautsch schickte sie. Sie ging mit gemischten Gefühlen, mit der halb gruseligen Neugier, die ihr eigen war, und dem Trotz gegen alles, was mit Mariechen Mau zusammenhing.

Ja, der Hugo Winsemann war eine wichtige Persönlichkeit. Natürlich kam auch sein Meister zu ihm, zu sehen, wie die Sache stand, und die Meisterin hielt es für ihre Pflicht, etwas Stärkendes zu schicken, eine Hühnersuppe. Paula brachte sie am Sonntag. Sie mußte jetzt ihr Wasser selber schleppen und wünschte sehr aufrichtig, daß Hugo bald genesen möchte. Dann kam auch Christian eines Abends schnell mal vorgesprungen. Und Herr Heinrich und Pastor Collasius vertraten den Lehrlingsverein bei der allgemeinen Kondolenz. Wer wundert sich noch, daß auch Tetje Butt kam. Tetje Butt mit einem Paar frischer, fetter, zuckeriger Schnecken, die er eingewickelt aufs Bett legte. »Wenns magst,« sagte er.

Auch Frau Melitta ließ sich nach dem Befinden erkundigen. Frau Winsemann fühlte sich geschmeichelt. So viel Aufmerksamkeit erwies man ihrem Hugo. »Er ist ja auch so n guter Junge. Er ist so beliebt,« sagte sie. Und sie dachte, ob man sich um Anton Krautsch auch wohl so viele Mühe geben würde. Feiner war ihr Hugo jedenfalls. Feiner und klüger. Was hatte er nicht schon für Bilder an den Wänden hängen. Und wie gelehrt wußte er darüber zu sprechen. Und die Mutter sprachs ihm nach: »Das da ist die Toteninsel von Böcklin. Und der Junge mit der Violine da, das hat der große Maler Thoma gemalt. Und sehen Sie mal, wie niedlich. Das ist von Ludwig Richter. All die kleinen süßen Kinder. Wie natürlich, nicht wahr?«

Es war Fräulein Cyriaks, die mit diesen Erklärungen beglückt wurde, und die jedes Bild mit ihrem Vogelgesicht anstarrte, als erwarte sie von ihm selbst noch weitere Auskünfte.

Mit Herrn Heinrich sprach Frau Winsemann von Hugos Büchern. Anton Krautsch aber wurden sie alle mit großer Wichtigkeit gezeigt.

»Lesen Sie auch so gerne?«

»Ach, ja, manchmal.«

»Nicht wahr, das bildet so. Mein Hugo liest den ganzen Tag.«

Ja, Hugo konnte seiner Neigung zu den Büchern jetzt nach Herzenslust fröhnen. Er las alles, was ihm in die Hände kam. Manchmal »ganz unverständlichen Kram«. Wenigstens verstand Frau Winsemann nichts davon. Sie freute sich aber, wenn Hugo recht wichtig tat. Grade so, wie sein seliger Vater auch sein konnte. Der las auch am liebsten Verse, ganz wie Hugo. Wenn der Jung man nicht auch noch das Dichten anfängt. Ob sie es ihm jetzt nicht eigentlich sagen könnte und müßte, daß sein Vater auch ein Dichter gewesen? Ja, sie war es ihm schuldig. Jetzt verstand er es, wußte es zu würdigen. Und sie holte das eine Gedicht, das dem Flammentode entronnen war, aus der Schublade und gab es ihm. Und als er es verwundert, mit erhitzter Wange und leuchtenden Augen las, kam auch über sie nachträglich der Stolz auf ihren talentvollen Gatten und sie sagte: »Ja, Hugo, so ein Mann war dein Vater, ein Dichter war er, wie die, die diese Bücher hier geschrieben haben. Und er hätte es gewiß zu etwas gebracht – wenn – es uns – – nicht – so – schrecklich – gegangen wäre.«

Sie brach in heftiges Schluchzen aus, und Hugo, tief ergriffen, faßte ihre Hand und weinte auch. Die dicken Tränen rollten ihm über das Gesicht und benetzten den einzigen literarischen Nachlaß seines unglücklichen Vaters.

»Was ringst du nach dem Lorbeer noch
Und ringst dich müd und matt.
Die Kränze sind für andre da,
Für dich grünt kaum ein Blatt.
Dein Stückchen Brot, das hast du ja,
Sei still und iß dich satt.«

Die Verse machten einen tiefen Eindruck auf Hugo. Er sah durch sie in ein ganzes, trostloses, in aussichtslosem Kampf um hohe Ideale verlorenes Leben. Und leise stieg ein Stolz auf seinen Vater in ihm auf. Das – ja – wenn du das auch könntest. Wenn es dir auch geschenkt wäre. Wie wolltest du ringen. Eine tiefe Röte überflog seine blassen Wangen bei diesem Gedanken. Er war glücklich, daß die Mutter ihm das Blatt zum Andenken an seinen Vater schenkte. Er legte es vor sich auf die Bettdecke, barg es unters Kopfkissen und holte es wieder hervor, um es Mariechen Mau zu zeigen. Aber eine Scheu hielt ihn wieder davon ab. Nein, dieses nicht, dieses hat ja kein Interesse für sie. Dies ist dein Heiligtum, nur für dich. Aber – ihn schwindelte bei dem Gedanken – vielleicht kannst du ihr ja selbst einmal ein Gedicht zu lesen geben. »An Mariechen.« Was sie dann wohl sagen würde? Er schloß die Augen und überließ sich diesen hochfliegenden Träumen.

Mariechen Mau stieg natürlich täglich die Treppe zu Winsemanns hinauf. Freilich, an Hugos Bett sitzen und ihm vorlesen, wie damals, als sie beide noch Kinder waren, das schickte sich nun nicht mehr. Er war ja damals auch viel kränker. Wenn er es doch jetzt auch wäre und das Mitleid bei ihr das Schicklichkeitsgefühl überwände. Aber er war jetzt gar nicht so eigentlich krank. Er sollte nur Ruhe haben, damit der Arm, es war der rechte, gleich gut anheile. Wäre es der linke, hätte er am Ende bald wieder in die Werkstatt gehen können. Es gab immer allerlei, was man mit der rechten Hand alleine machen konnte. Nun hatte er wohl noch ein paar Wochen freie Zeit.

Etwas länger aber hätte Mariechen ihre Besuche gerne ausdehnen können, meinte er. Es war immer nur so ein kurzes Anfragen, ein freundliches Kopfnicken, oft nur durch die Türspalte: »Hab gar kein Zeit heut. Gehts gut? Das ist recht!«

Wie fleißig sie war und wie resolut und immer munter. Und wie hübsch kleideten sie die von der Kälte geröteten Backen. Sie trug ein kleines weißes Pelzbarett, das billig war, aber wunder was herzeigte. Darin sah er sie so gern. Wenn sie sich doch nur einmal ein Viertelstündchen vor sein Bett gesetzt hätte. Sie hatte immer so einen leisen süßen Veilchenduft in ihrem Jäckchen. Oder war es Flieder oder Heu? Er verstand sich nicht darauf. Manchmal roch man es noch lange nachher, wenn sie dagewesen war. Dann schnupperte er ordentlich mit seiner feinen spitzen Nase in der Luft herum.

Nach vierzehn Tagen konnte Lene Lerch sich wieder beruhigen. Es kamen keine Besuche mehr. Hugo war auf und trug den Arm in der Binde. Dies war die Zeit, wo er sich wieder mehr mit Anton Krautsch anfreundete, der ihn häufig besuchte und ihn auch zu sich einlud.

»Ist doch mal n netten Jung geworden, der Hugo,« sagte Mutter Krautsch. »So verständig und so sinnig.«

Und Frau Winsemann, die sich durch die kleinste Aufmerksamkeit, die man ihr oder ihrem Sohne erwies, hochgeehrt fühlte, nannte Anton »einen prächtigen Menschen«. Auch zu Mariechen Mau sprach sie von ihm.

»Alles was recht ist. Er ist ja so n bischen ungehobelt manchmal.«

»Weiß Gott,« gab Mariechen Mau zu, »wie so n Bär.«

»Du magst ihn wohl nicht leiden?«

»Leiden? Was heißt leiden? Er ist mir völlig schnuppe.«

Schnuppe war einer ihrer Lieblingsausdrücke. Manchmal sagte sie auch »Putt egal«. Das war dasselbe.

Mariechens Mutter aber hörte Antons Lob nur schweigend an oder sagte wohl mal: »Der Vater war ja auch so ein tüchtiger Mann.« Viel mochte sie nicht von Anton hören. Sie ließ ihm alle Gerechtigkeit widerfahren. Man sah es ihm ja an, daß er ein braver Bursche war. So ein offnes, gutes, ehrliches Gesicht. Kein Duckmäuser und doch auch kein Luftikus. Aber sein Loblied sang sie doch nicht gerne. Und hörte es auch nicht gern von andern. Das konnte man von ihr nicht verlangen. Und daß er ihrem Mariechen so ganz gleichgültig war, erfüllte sie mit geheimer Freude. Mariechen war ja jetzt ein schmuckes Mädchen. Anton hätte wohl ein Auge auf sie haben können. Man weiß ja, wies oft geht. Gott sei dank, sie gingen mit »Tag« und »n Abend« aneinander vorbei.

Ob Mariechen von dem unseligen Steinwurf wüßte? Sie hatte ihrer Tochter nie davon erzählt. Aber vielleicht hätte sie es von anderer Seite gehört. Doch dann hätte sie sicher einmal danach gefragt. Und Anton wußte gewiß auch nichts davon. Sonst ginge er nicht so unbekümmert umher und grüßte sie so offen und unbefangen. Die Cyrials und die anderen Frauen hatten doch gut geschwiegen. Ein Glück, daß Anton so ein braver Bursche war und sie nie erzürnte, sonst hätten sie gewiß einmal ein Wort zuviel gesagt. Man weiß ja, wie so ein Geheimnis prickelt und bohrt und drängt, bis es irgendwo ein kleines Loch findet, durch das es entschlüpfen kann. Lief es ihr doch selbst manchmal über: »Du hast gut lachen. Du kannst gesund und breit dastehn wie deine Mutter und dich des Lebens freuen. Wo hast du meinen Willi? Gib ihn mir wieder. Ich werde alt, ich kann ihn brauchen. Er war ein so kluges Kind. Was wäre aus ihm geworden. Vielleicht mehr als aus dir. Er war ein so feines Kind. Fein und gut wie sein Vater.«

Ach, wie schwer war es ihr oft, das alles nicht zu sagen und statt dessen freundlich zu blicken: »Guten Tag, Herr Krautsch«.

»Warum sagst du immer Herr Krautsch zu dem dummen Bengel,« fragte Mariechen.

»Ich weiß nicht, mein Kind, ich kann nicht Anton sagen. Er ist schon so ein großer Mensch.«

»Pah! Du sagst doch auch Hugo.«

»Hugo ist auch ganz anders. Ich mein immer, der wäre noch ein Kind.«

»Wieso denn? Weil er ein bißchen kleiner ist?«

»Das ist es wohl nur. Die Größe macht viel aus.«

»Dann sag ich auch Herr Krautsch,« entschied Mariechen.


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