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Viertes Kapitel

Ohne daß Antons Weggang irgendwo, außer in dem mütterlichen Hause, eine eigentliche Lücke hinterlassen hätte, wurde er doch von vielen vermißt. In der Werkstatt sahen der Meister und der alte Drews den Platz, den er so lange ausgefüllt hatte, durch eine neue Kraft ersetzt, die sich erst einarbeiten sollte. Der neue Lehrling, der schon seit einem Jahre da war, schlug nicht so ein, wie sein Vorgänger. Der Geselle, der Antons Stelle jetzt innehatte, war nicht untüchtig, aber er war eben neu und anders als der ruhige, fleißige, gewissenhafte und immer gleichmütige Anton, von dessen beharrlichem, zuversichtlichem Wesen ein wohltuender Einfluß in der ganzen Werkstatt zu spüren gewesen war.

Vermissen taten ihn die Kunden der Mutter und die Nachbarn, denen mit ihm eine tägliche Erscheinung in ihrem gleichmäßig dahinfließenden Leben ausgelöscht war.

»Dat kümmt mi ganz komisch vor,« sagte eine Nachbarin zu Mutter Krautsch, »dat ick Ern Söhn gornich mehr to sehn krieg. Süs, wenn he dor so herköm in sin Arbeitstüg und mit sin blankes Gesicht, denn wär mi dat immer as so n Toversicht, dat de Welt noch steiht. He harr so wat Festes, Toversichtliches an sick.«

Und wie man früher Mutter Krautschen nach ihrem Mann fragte, wenn sie vor der Tür ihres Kellers stand, so fragte man jetzt:

»Na Mutter Krautsch, wat makt de Söhn?«

»Danke, min Anton is got to weg,« antwortete sie dann mit sichtlichem Stolze, den ihr keiner übelnahm.

Lene Lerch vermißte ihn nicht sonderlich. Sie hatte ja sogar einige Freude davon, daß er nicht mehr zu Hause war. Es gab weniger Arbeit, und Mutter Krautsch war jetzt ganz allein auf sie angewiesen. Ja, sie freute sich seines Abgangs nach Kiel, da sie ihn dort in Fritz Kleesands Nähe wußte. Da bekam sie doch eher etwas von dem zu hören. Jeden Brief, den Mutter Krautsch erhielt, empfing auch sie mit Herzklopfen. Ein paarmal hatte Fritz grüßen lassen, das erstemal stand da: »besonders Lene«. Nachher freilich hieß es immer nur: »Fritz läßt grüßen«. Ader schon das war ihrem Herzen ein Labsal.

Einer war, der sich über ein gleich lakonisches »Anton läßt grüßen«, fast nicht weniger gefreut hätte, als Lene über Fritzens Grüße. Das war Christian. Er war noch immer bei Buchbinder Behrens in Brot, und es war auch keine Rede davon, daß er seinen Meister je verlassen würde. Da auch Anton noch bis zuletzt bei Sichelmann gearbeitet hatte, so war selten ein Tag vergangen, wo er ihn nicht wenigstens einmal gesehen hatte, morgens, wenn er zur Arbeit kam und Christian noch immer, wie als Lehrling, die Fensterläden abnahm. Es war auch mal eine Gelegenheit gewesen, ein paar Worte zu reden. Sie waren jetzt im Volksheim gut bekannt geworden, hatten auch meist den Weg dorthin gemeinsam gemacht. Ohne daß von Antons Seite mehr als ein oberflächliches, kameradschaftliches Gefühl obwaltete, war doch Christians Neigung zum jungen Schlosser unveränderlich geblieben. Was ihn mit Hugo Winsemann verband, war wohl mehr das, was man gewöhnlich Freundschaft zu nennen pflegt. Sie hatten gemeinsame Interessen, verstanden sich, konnten sich gut leiden und verkehrten auch außerhalb des Volksheimes miteinander, wo dann Christian meistens Hugos Gast war, da er ja selbst nicht über eine eigene Wohnung zu verfügen hatte. Was ihn aber an Anton fesselte, war eine zarte uneingestandene Neigung der schwächeren, mehr weiblichen Natur zu der stärkeren männlichen. Er selbst hatte eine tiefe Sehnsucht nach Kraft und Gesundheit, die ihm für immer versagt waren. und konnte sie ihn bei anderen wohl mit Neid erfüllen, so halte doch Antons damaliges impulsives, großherziges Eintreten für den Gehänselten ihn ein für allemal in eine so ideale Höhe gehoben, daß ihm gegenüber keine unreine Empfindung aufkam. Wäre Christian ein Mädchen gewesen, er hätte sich wahrscheinlich in diesen jungen Riesen verliebt. Aber auch jetzt konnte man seine Neigung kaum anders als Liebe bezeichnen, eine Liebe, in der der Keim zu einer seltenen, edlen Freundschaft schlummerte, der nur darauf wartete, daß er auch von der anderen Seite gepflegt wurde, um herrlich aufzublühen. Aber Anton ließ es daran fehlen. Nicht, daß er nicht merkte, wie sehr Christian an ihm hing, aber es genierte ihn, und er wußte nicht recht was damit anzufangen. Christian aber war zu bescheiden und anspruchslos, um sich durch Antons kühleres Verhalten gekränkt zu fühlen. Er bewunderte ihn, wenn er es auf den Ausflügen und Wanderungen des Volksheims allen an Mut und Ausdauer zuvortat und bei Herrn Heinrich rechte Hand wurde. Er freute sich seiner Siege beim Turnen und Spielen, und wollte es kaum bemerken, daß Anton in geistigen Wettkämpfen hinter ihm und Hugo zurückblieb und auch wenig Interesse dafür zeigte. Nur einmal empfand er etwas wie Scham und fast körperlichen Schmerz. Auf einer längeren Wanderung mit Herrn Heinrich, die auch er sich gegen Hugos Abraten zugemutet hatte, hätte er ermattet zurückbleiben müssen, wenn nicht Anton und ein anderer muskelstarker Genosse ihn auf gekreuzten Armen bis zur nächsten Ruhestelle getragen hätten. Nie wieder wollte er das erleben. Und es dauerte einige Zeit, bis er sich Anton wieder ohne Gefühl der Beschämung, des Unbehagens nähern konnte.

Jetzt war Anton für lange Zeit aus seinem Gesichtskreis gerückt. Wie sollte er Nachricht von ihm erhalten. Er hatte sich dann direkt bei der Mutter erkundigen müssen, aber davon hielt ihn seine Scheu zurück. Er wollte nicht aufdringlich erscheinen. Hugo hatte ja auch keine Verbindung mit der Hafenstraße mehr, und Tetje Butt, der immer alles wußte, wußte natürlich von dem, was man gern von ihm gehört hätte, gerade nichts. Er hatte ja auch zu Anton Krautsch keine Beziehung gehabt.

Hugo hätte ja am ersten Gelegenheit gehabt, sich nach Anton zu erkundigen. Aber der war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und schien für den einstmaligen Spielkameraden aus Ohlsens Gang nichts mehr übrig zu haben. Das war nun nicht der Fall. Hugo dachte manchmal an Anton zurück, und es hätte ihn schon interessiert, einmal etwas von ihm zu hören, aber er war doch zu indolent, um sich deswegen viel Unbequemlichkeiten zu bereiten, wohl gar einen Besuch bei Mutter Krautsch zu machen. Er hatte auch keine Zeit dazu. Die Feierabendstunden gehörten den Büchern, soweit sie nicht von dem Volksheim in Anspruch genommen wurden. Und im übrigen füllte ihn seine wachsende Neigung zu Mariechen Mau ganz aus. Ihre leichte offene Art schüchterte ihn ein, sonst hätte er sich ihr gewiß längst erklärt, aber es fehlte ihm der Mut. Sie war offenbar die stärkere, lebenskräftigere Natur. Das war einerseits wieder ein Reiz für ihn, für seine schwache Natur, die immer auf der Suche nach einem Halt war, und was sie gerade erwischt hatte, mit einer fanatischen Überzeugung festhielt. Er idealisierte sich alles, putzte es zu alleinseligmachender Herrlichkeit heraus.

Das viele Lesen poetischer Werke hatte seinen Nachahmungstrieb geweckt. Seine ersten Gedichte an Mariechen entstanden; sauber auf weiße Ouartblätter geschrieben, lagen sie in einer wohlverwahrten Mappe beisammen. Mehr als einmal war er in Versuchung gekommen, diese schwulstigen Ergüsse eines ungebildeten Geistes Christian vorzulesen. Aber es hatte ihm immer im letzten Augenblick der Mut gefehlt. Doch nahm er sie oft, wenn er allein war, heraus und las sie eines nach dem andern mit halblauter Stimme und in seiner pathetischen Weise.

Er hatte aber trotzdem nicht den Ehrgeiz, ein Dichter zu werden. Er hatte überhaupt weniger Ehrgeiz, es zu etwas zu bringen, als Eitelkeit, sich auszuzeichnen. In seinem Handwerk war er nicht ungeschickt, und der alltäglichen Tischlerei der alten Werkstatt entrückt, lebten in der höheren Sphäre der namhaften Kunsttischlerei, in der er jetzt arbeitete, seine künstlerischen Anlagen auf; sein Sinn für Ornamentik, sein Geschmack für Form und sein Verständnis für sinngemäße Konstruktion entwickelten sich, gleichzeitig genährt und geleitet von den Vorträgen im Volksheim und einer eifrigen Lektüre. Aber er trieb alles, ohne auf eine Folge abzuzielen. Er sah die Zukunft nur wie durch einen Nebel und lebte eigentlich nur als ein Genießer für den Tag und in den Tag hinein. Mariechen als seine Königin zu träumen, sie mit Glück und Glanz zu umgeben, war ihm Bedürfnis. Aber der Gedanke, wann und wo er seiner Königin einmal das nötige Schloß bauen wollte, beschäftigte ihn nie ernstlich. Dennoch wäre er imstande gewesen, ihr einen Antrag zu machen, wenn sie es ihm nur ein wenig erleichtert hatte und alles andere von einem gefälligen Schicksal zu erwarten, das selbst zu bestimmen und herbeizuführen er aber kaum einmal die Notwendigkeit empfand.

Seine Volksheimtriumphe als Rezitator waren neuerlich dieser Richtung seines Geistes nur förderlich gewesen. Er, der so schön rezitieren konnte, selbstgemachte Gedichte im Schubfach hatte, Schopenhauer las und in der Werkstatt seinen Mitgesellen Vorträge über den neuen Stil im Kunsthandwerk hielt, glaubte schon oben zu sein und hielt mit seinem Selbstbewußtsein nicht zurück, wo er es ohne Gefahr, zurückgewiesen zu werden – dafür hatte er eine seine Witterung – anbringen konnte. Das war vor allem bei seiner Mutter, die denn auch Großes in ihm suchte und die Talente seines unglücklichen Vaters hier wirklich in einer schöneren Blüte aufleben zu sehen meinte.

»Wenn das dein Vater erlebt hatte! Ihm ist das alles so schwer gemacht worden. Er hatte auch so viel Sinn fürs Schöne und Edle. Aber die Menschen wollten ihn nicht aufkommen lassen. Und dann das Dichten, da hast du ja nun nichts von abbekommen. Aber das kann ja auch nicht jeder.«

»Hoho,« dachte Hugo, »du solltest nur meine ›Marienlieder‹ kennen. Es wird schon mal eine Stunde kommen, wo ich sie dir vorlese. Ich kann aber doch die Gelegenheit nicht vom Zaun brechen. Diese heiligsten Geheimnisse meines Herzens.«

Es zwickte ihn aber doch sehr, diese heiligsten Geheimnisse preiszugeben und dafür Bewunderung seines Dichtertalentes einzutauschen. Er legte einige Blätter in sein Taschenbuch, um sie bereit zu haben, doch trug er sie ein paar Tage bei sich, ohne die rechte Gelegenheit zu finden, und zuletzt fand er es selbst dumm.

War es seiner Mutter gegenüber mehr Scheu und Einsicht, so war es Mariechen gegenüber Furcht. Sie ging nicht säuberlich mit ihm um, wenn ihr die Laune danach stand, nannte ihn »Herr Professor« und »Philosoph« und sagte auch wohl mal: »Quatsch morgen mehr.«

Sie meinte das ja nicht so böse, sie fand es ganz hübsch von ihm, daß er solchen »Bildungsdrammel« hatte und »so n bischen was Feineres« als andere. Nur das Stubenhockerische und Wichtigtuerische an ihm mochte sie nicht leiden. Und dann hätte er gern ein bißchen frischer und männlicher sein dürfen, wenn er so ganz nach ihrem Geschmack sein sollte. Aber das lag nach einer anderen Seite hin und kam eigentlich zwischen ihr und Hugo nicht in Frage.

Wilhelm Kroger, der Elefant, war ihr freilich ein bißchen zu frisch und männlich, dann fiel ihr Auge noch eher auf Christian.

Aber der arme Lazarus. Dauern konnte einem das liebe Kerlchen.

Du bist ja wohl nicht klug, schalt sie sich, als sie ihre Gedanken auf diesem Wege ertappte, hinkt, hat einen Buckel und die Schwindsucht dazu. Was tust du mit der seinen Nase allein und den stillen Augen darüber.

Sie hatte aber darauf eine Nacht, wie sie jedem jungen Mädchen in ihren Jahren kommt, wo ihre Gedanken ruhelos gingen und sie die jungen nackten Arme ausstreckte und sich sehnte nach jemand, den sie nicht kannte und nicht wußte, woher er kommen würde, und ihre geballten Fauste eine um die andere küßte und das weiße Fleisch ihrer Arme, bis ihr die Lippen weh taten, und eine Träne brennend auf ihre Hand fiel. Da warf sie sich mit einem kurzen Auflachen auf die Seite und steckte den Kopf in die Kissen, alle diese Gedanken mit einem kräftigen Willen verscheuchend, bis sie müde, nach dem heißen, am Plättbrett verbrachten Tag, traumlos einschlief.


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