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Achtes Kapitel

Es war am 6. November, als das Wasser in der Elbe so hoch stand, wie noch nie. In der Nacht vorher hatte der Nordwest eingesetzt. Er hatte geheult, gepfiffen, gekreischt, gebrüllt. Einen entsetzlichen Lärm hatte er gemacht, die ganze Nacht hindurch. Über dem Strom zwischen den Schiffen stieß er lange, pfeifende Laute aus. Um die Straßenecke fuhr er wie ein heulender Wolf; fast fauchend klang es, als er sich in Ohlsens Gang stürzte. Was wollte er da? Er rüttelte an den alten Fensterläden, Dachluken und Regentraufen, jagte die Cyriaks aus dem Schlaf und blies die alte Laterne im Torweg aus. Also nichts als dummes Zeug.

Und dazwischen gings bum-bum-bum.

Das waren die Warnungsschüsse vom Stintfang und der Stadtdeichstation. Die Flut kam. Ei, wie schnell kam sie. Wie hungrige Wölfe stürzten sich die Wellen in die Elbe. Es war, als wollte die ganze Nordsee an Cuxhaven und Brunsbüttel vorbeirasen und die Elbe hinauf und sehen, wie weit sie wohl kommen könne.

Und der Regen peitschte noch die springenden Wellen. Wie Geißelschläge fiel er nieder. Und die schwarzen Wolken oben jagten mit den Wellen da unten um die Wette, immer landein, immer landein. Riesige, schwarze Scharen, die aber vor irgendwas auf der Flucht zu sein schienen, während die Wellen deutlich den Furor des Angriffs zeigten.

Der Mond warf ein unruhiges, fast ängstliches Licht auf dieses wilde Treiben. Und als ein paar Stunden später die Sonne kam, sah die auch nichts Besseres. Im Gegenteil, es war schlimmer geworden, und sie zog sich betrübt wieder zurück. Da herrschte ein mattes Zwielicht zwischen Wolken und Wasser. Und der Sturm peitschte beide und trieb den Regen vor sich her.

Im Hafen sprangen die Wellen wie tolle Hunde an den Düc d'Alben, an den Schiffswänden hinauf und geiferten über die Kaimauern. Anderswo wälzten sie sich in dichten Rudeln, wie sich überschlagende Rüden, in die engen Fleete hinein, und schoben und stießen und warfen die Schuten, leere und volle, durcheinander, daß es ein Knirschen und Kreischen und Knacken war. Und oben an den alten Speichern klapperten die Luken unter den Stößen des Windes und schlugen, losgerissen, hin und her.

Und in den Kellern stieg das Wasser, stieg und gluckste und gurgelte. Oder stieg ganz still, ganz lautlos, immer einen Zentimeter höher.

Bum-bum-bum-bum.

Was nicht schwimmen konnte, dem war nicht zu helfen; was es konnte trieb lustig auf dem trüben Wasser umher. Vieles war rechtzeitig geborgen worden. Das Wasser macht ja von Zeit zu Zeit seinen Besuch, man ist auf die Ehre eingerichtet. Übrigens kommt der Besuch ja auch nie unangemeldet. Bum-bum »Dat Waater kümmt!«

Aber heute kam es zur unpassendsten Stunde, so schnell, als ob es gar keine Zeit hätte, und blieb doch so lange.

Bei Mutter Krautsch war es auch, zu Antons und Lene Lerchs Belustigung. Sonst, wenn das Wasser mal kam, gab es immer nur Arbeit. Nach dem dritten Schuß wurde alles hochgestellt, was nicht schwimmen sollte, und nachher wurde es ein bißchen naß hinten im Keller, und es war eigentlich nur eine ärgerliche Sache. Heute aber – »Junge! Junge« – war das ein Wasser!

»Junge, Junge!«

Anton stieß diesen seinen Lieblingsruf noch nie so oft in einer Stunde aus.

Junge, Junge! alles schwamm im Laden durcheinander, Gemüsekörbe, Bierflaschen, Reisbesen. Das war wie ein großes Schwimmfest. Selbst in der Stube, die ein wenig höher lag, stand das Wasser fast einen halben Fuß hoch; Spucknapf und Fußschemel, die sonst selten zusammenkamen, begegneten sich auf der trüben Flut.

Von der Straße, wo die Siele ausgetreten waren, liefen kleine Bäche die Kellertreppe herab.

Wie lange sollte das noch dauern?

Mutter Krautsch und Lene saßen auf dem Ladentisch, und Anton stampfte in seines Vaters alten Seestiefeln in der trüben Flut umher und ärgerte seine Mutter, wenn er die schwimmenden Gemüsekörbe als feindliche Fregatten aufeinanderstoßen ließ. Und Lenens einer Pantoffel, den sie vergeblich zurück erbat, mußte Torpedoboot spielen.

»Anton! So laß das doch! Jung, so hör doch!« schalt Mutter Krautsch. Und Anton ließ es und verfiel auf etwas anderes. Eigentlich hätte er ja in die Schule gehen sollen. Aber hier war er entschieden nützlicher. Und das freute ihn.

Mutter Krautsch dachte an ihren Mann. Wie mochte es jetzt auf See aussehen. Herrgott, nimm alle Seefahrer in deinen gnädigen Schutz! Amen!

»Anton! Dolle Hund! Lat dat doch na!«

Anton hatte sich auf ein schwimmendes Brett gestellt, das natürlich umschlug und schmutzige Wellen aufrührte.

»Denk an din Vadder, Jung, wenn der heut auf See is.«

»Ach, die Henriette, der kann kein Sturm was an. Und auf n Atlantik is das man halb so schlimm.«

»Das sagen sie ja alle. Und Käpt'n Ohlsen sagt ja auch, die Henriette möcht er wohl auch noch fahren.«

»Warum sagst du Käpt'n Ohlsen?«

»Warum? Das weiß ich nich, er war es doch mal. Und bei so n Wetter, da fällt es einem ja woll wieder so ein.«

Schiffshändler Ohlsen aber stand mit einmal selbst in der Tür und sah in den Keller hinein.

»Wollt doch mal sehen. Das ist ja niedlich. Infames Wetter. Aber wenn es nicht wieder aufnimmt – es flaut schon ab. Das Wasser steht schon. Ist ja ne Schweinerei.«

»Und mein Mann auf See.«

Aber Schiffshändler Ohlsen, dem draußen der Wind um die Ohren pfiff, verstand Mutter Krautschen nicht. Er schüttelte sich im Regen, und machte, daß er wieder ins Haus kam.

Das war ein böser Tag. Aber er nahm ein Ende. Der Wind sprang plötzlich um. Das Wasser verlief sich.

Ja, er war ein böser Tag gewesen, der 7. November. Er war auch der Tag, an welchem Käpt'n Krautsch und seine Henriette mit Mann und Maus an der schottischen Küste ertranken. Als die Nachricht zu Hause ankam, war längst alles wieder trocken und der Fußboden im Wohnzimmer frisch lackiert. Es roch durch den ganzen Keller nach dem schönen, hellen Bernsteinlack. Und Anton, der gegen alle Gerüche sehr empfindlich war, sagte: »Wie lange stinkt der Kram denn noch?«

Grade an dem Tage kam die Nachricht, daß die Henriette total verloren war, mit Mann und Maus. Und Mutter Krautsch lag auf ihrem schönen, neulackierten Fußboden und weinte wie ein Kind.

*

Das war eine traurige Adventszeit. Was hatte Käpt'n Krautsch vor seiner Abreise noch für Heimlichkeiten gehabt, von denen Anton nichts wissen sollte. Die große Ziehharmonika, die wohlverpackt in Mutters Kleiderschrank stand, hatte er selbst ausgesucht und im Laden des Händlers zur Probe sein Lieblingslied darauf gespielt »Am grünen Strand der Spree«. Und ein Rad hatte er gekauft. Es stand noch beim Händler. Prima Marke. Bar bezahlt. Das Rad konnte Anton ja immer brauchen. Das würde ihm mal recht »zupaß kommen«, wenn er erst in der Lehre wäre. Aber die Harmonika? Darauf mochte er gewiß nie spielen. Keine lustigen Lieder, keine Tänze. Ach, wenn Mutter Krautsch diese Harmonika zuerst hören würde, würde sie gewiß weinen. Und Anton war auch so weich wie sie. Wie hatte er geweint, als sie ihm gesagt hatte, daß sein Vater nicht wiederkäme. Und wie hatte er sie gestrakt und geeit und getröstet. Ja, er war ein weiches, gutes Kind.

Nur Lene Lerch hatte keine Miene verzogen. Die hatte ein kaltes Herz. Ein anderer weint schon aus bloßem Mitgefühl, wenn er nur Tränen sieht. Aber Lene Lerch? Nicht einen Tropfen hatte sie sich abzuwischen. Nicht mal geschnäuzt hatte sie sich. Mutter Krautsch war doch empört über sie.

»Er hat dir doch auch Gutes getan. Was hat er nich all für dich getan. Hast du das allens vergessen?«

Lene Lerch wurde rot, aber blieb verstockt. Da war Mutter Krautsch ihr acht Tage lang gram.

Aber von Schiffshändler Ohlsen an bis auf Fräulein Cyriaks hatten alle Teilnahme gezeigt. Und Mutter Krautsch war um Trost nicht verlegen. Acht Tage lang stündlich ein christliches Wort, und auch mal ein unchristliches, wie das vom alten Jan Tüt, der eklig nach Schnaps roch als er sagte: »Na, Krautschen? De Oll is dot? Jo, jo. Dat ganze Leben is Schiet.« Und dann war er nach dem Bollwerk hinübergetorkelt, und hatte dort eine halbe Stunde ins Wasser gestarrt und sich die Sonne auf den Buckel scheinen lassen.

Schiffshändler Ohlsen aber hatte mehr als Worte für Mutter Krautsch. Er stand ihr zur Seite und half ihr, daß sie zu dem Ihrigen kam. Er war freilich mit etwas Geld an der Henriette beteiligt, ein Part von tausend Mark. Aber auch ohne das hätte er Mutter Krautsch nicht im Stich gelassen.

Die Henriette war ordnungsgemäß versichert, Schiff und Ladung. Da Käpt'n Krautsch Eigentümer des Schoners gewesen war, kam ein nettes Stück Geld in die Kasse. Auch nach Abzug von Ohlsens Part. Natürlich dauerte es lange, nach Mutter Krautschens Meinung eine Ewigkeit, bis die Versicherungsgesellschaft auszahlte, bis weit ins neue Jahr hinein. Aber bezahlt mußte werden. Es hatte alles seine Ordnung, und Mutter Krautsch brauchte sich darum keine Sorge zu machen.

Ach, Mutter Krautsch und sich Sorge machen! Das hatte sie nie getan. Sie war eine tapfere, hellsinnige Frau, gesund und arbeitslustig. Und ein bißchen Geld war ja nun auch da und dann nur das eine Kind, das schon aus dem Gröbsten heraus war. Die hält es schon aus, dachten die Weiber in Ohlsens Gang, die es alle zusammen nicht so gut hatten, die Mau nicht, und die Winsemann nicht, und die andern alle. Nur die Cyriaks, die stand nichts aus. Eine ledige alte Jungfer, die jeden Sonntag Maulschellen zum Kaffee aß, und manchmal in der Woche auch noch.

Ja, Mutter Krautsch hielt es wohl aus. Die Sorge, die richtige, grübelnde, ängstigende Sorge kam auch jetzt nicht auf. Ihre Seele war nur ausgefüllt von der Trauer um ihren Mann. In den sechzehn Jahren ihrer Ehe hatte sie ihn fünf- oder sechsmal auf längere oder kürzere Zeit zu Hause gehabt. Sie war es also gewohnt, lange, recht lange ohne ihn zu sein. Aber jetzt, so auf immer, so auf Nimmerwiedersehn – das war doch hart, nachdem man sechzehn Jahre, nur sechzehn Jahre erst verheiratet war. Der Anton war ja, Gott sei Dank, schon aus dem Gröbsten. Und daß er Schlosser werden wollte, und daß Schiffshändler Ohlsen sein Vormund sein würde, das alles stand schon fest. Da war nichts, was unklar oder besorglich war, da lag nichts in ihrem Weg. Nur daß sie diesen Weg jetzt ohne ihren Käpt'n gehen sollte, ohne Karl Krautsch, den langen, hageren, guten, schweigsamen Mann mit den gekniffenen Lippen und mit den tiefen Seufzern, die er dann und wann ganz unmotiviert ausstoßen konnte.

Sein schönes Matrosenklavier! Das lag da nun irgendwo zwischen Schottland und Irland auf dem Grund des Meeres, und auf dem neuen konnte Anton nichts weiter spielen als »Lott is dot«, und dazu sang er irgendeine unmögliche Melodie, denn er war gänzlich unmusikalisch, und seine Stimme klang laut und schreiend. Mutter Krautsch konnte das nicht hören. Und es schien ihr auch unpassend, mit Rücksicht auf den toten Vater. Aber der Junge konnte nun ja mal nichts weiter als das eine Stück. Er hatte keinen Kopf für Melodien. Was machte er z.B. aus der »Wacht am Rhein« für ein seltsames Musikstück. »Stille Nacht, heilige Nacht« sang er fast nur auf einen Ton.

Da war sein Vater ein anderer gewesen. Der konnte alles nachspielen, was er hörte. Eine ganze Stunde hintereinander. Erst den »Spreewalzer«, dann »Lang, lang ist's her« und »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus« und »Schleswig-Holstein meerumschlungen« und zuletzt dann immer die Bohnenpolka »Wenn hier n Pott mit Bohnen steit«.

Bei der Bohnenpolka hatten sich damals in Moorburg auf Peter Lohmanns großer Diele ihre Herzen gefunden.

Und nun lag das feine Instrument da zwischen Schottland und Irland und schluckte Salzwasser, und Anton spielte »Lott is dot«.

»Dat ganze Leben is Schiet«, wie Jan Tüt sagte. Und Mutter Krautsch dachte: »Manchmal sollte man meinen, der liebe Gott hätte kein Einsehen.« Etwas anderes wollte Jan Tüt wohl auch nicht sagen. Er drückte es nur auf seine Weise aus.


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