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Drittes Kapitel

Käpt'n Krautsch, der grade vor dem unglückseligen Steinwurf abgereist war, schrieb nach zweijähriger Fahrt an der indischen Küste, daß er Fracht nach Amsterdam habe. Mutter Krautsch solle um die und die Zeit sich auf die Bahn setzen und den Jungen natürlich mitbringen. Er würde nicht abkommen können. Und ich? sagte Mutter Krautsch. Aber sie mußte hin, das war natürlich. Und machen ließ es sich auch. Alles läßt sich machen, pflegte Mutter Krautsch zu sagen. »Nur n Doden nich wieder lebendig.«

Und dann schrieb sie nach Moorburg, wo sie zu Hause war, und ihre dort verheiratete Schwester versprach, ihr Geschäft solange in Obhut zu nehmen. »Daß du mich aufpaßt, Deern,« ermahnte Mutter Krautsch Lene Lerch, »und daß du mich folgsam büst und Tante Mile recht zu Hand gehst. Hörst du?«

Das versprach Lene Lerch, und als die Depesche kam, daß die »Henriette« in Amsterdam vor Anker gegangen sei, setzte sich Mutter Krautsch auf die Bahn, verstaute Anton in eine Ecke des Kupees und setzte sich dicht neben ihn, so daß er wirklich fest saß. »So Jung, dies ist nu deine erste Reise. Und iß nun man nich gleich all die Pfeffermümms auf.«

»Och,« sagte Anton beleidigt und dachte: »Bis Amsterdam werden sie ja wohl reichen.« Es waren aber nur für zehn Pfennige, und bald hinter Harburg war die Tüte leer.

Na, in Amsterdam gabs mehr. Käpt'n Krautsch freute sich über seinen strammen Jungen und stopfte ihn mit Kuchen und Süßigkeiten voll. Er hatte ihn in zwei Jahren nicht gesehen. Was war er für ein fixer Bengel geworden.

»Und die Schule? Wie ist es mit dem Lernen?«

»Och, gut,« sagte Anton.

Und Mutter Krautsch konnte bestätigen, daß die Lehrer mit ihm zufrieden waren. Nur mit dem Schreiben wolle es nicht. Im Schönschreiben gäbe es immer eine Fünf.

Käpt'n Krautsch machte ein ernstes, nachdenkliches Gesicht. Er hatte ein hageres, langes Gesicht, mit schmalen, gekniffenen Lippen.

»Welche von seinen Kollegen haben da Nachhilfestunden in,« sagte Mutter Krautsch. »Aber das Geld soll ja man da sein.«

»Das Geld ist da, Mutter,« sagte Käpt'n Krautsch. »Wenn er es haben muß, soll er es haben. Schreiben muß ein Mensch können. Setz dich mal hin, Jung. Schreib mal was.«

Und Anton saß am Kajütentisch und malte komische Buchstaben aufs Papier. »Lieber Vater.« Das stand dreimal hintereinander da. Ob dem Jungen nichts anderes einfallen wollte, oder ob er Diplomat war? Käpt'n Krautsch lachte. Die Buchstaben standen auch zu drollig da, hatten alle einen ordentlichen Sturm, wie es schien. Oder freute sich Käpt'n Krautsch über den »lieben Vater«?

Fünf Tage dauerte die Herrlichkeit in Amsterdam. Dann hieß es wieder Abschied nehmen. Auf wie lange? Ja, wer das wüßte. Erst ginge die »Henriette« mal direkt in die Südsee. Es könnte ein Jahr, es könnten drei Jahre werden. Käpt'n Krautsch mußte sich tummeln. Das Ausruhen kam nachher Und dann wollten er und Mutter es gut haben.

Tränen flossen, Küsse gab es, hin und her, und dann saßen Anton und seine Mutter wieder in der Eisenbahn und dampften nach Hamburg zurück. »Pfeffermümms« waren diesmal nicht dabei, aber eine große Tüte »Kienjes«. Und Mutter Krautsch aß mit aus der Tüte. Käpt'n Krautsch hatte sie selbst gekauft, noch auf dem Weg nach dem Bahnhof. Ob er ihr wohl je wieder Kienjes kaufen würde? »Die alte leidige Fahrerei. Was hat man von so n Mann?«

Tante Mile empfing die Reisenden mit einem Seufzer der Erleichterung. Sie war eine akkurate, äußerst gewissenhafte Person, die über jeden Pfennig gerne Rechenschaft abgelegt hätte. Und sie war mit Lene Lerch schwer fertig geworden. Nicht, daß Lene Lerch nicht willig gewesen wäre, aber sie war ihr zu fahrig, flusig und zu unbekümmert.

»Ach, das wird wohl zwanzig Pfennige kosten, das geben Sie man so.«

»Eine Buddel mehr kaput, da haben wir uns nicht um. Das muß dabei über sein.«

Und Lene Lerch gab immer den Ausschlag, weil sie fix mit dem Mund war und nichts schwer nahm. Tante Mile ärgerte sich darüber, konnte es aber nicht ändern.

»Gott sei Dank, Jette, daß ihr wieder da seid,« rief sie aus. »Ich find da auch nich mehr durch. Und nu zähl man erst mal die Kasse nach. Stimmen muß es. Hier hab ich allens aufgeschrieben. Und den Schlüssel hab ich immer abends mit ins Bett genommen, unters Kopfküssen.«

Und dabei legte sie Mutter Krautsch einen großen, vielfach befleckten Bogen Papier vor, auf dem sie jeden vereinnahmten Pfennig aufgeschrieben hatte.

Anton fragte, wahrscheinlich durch den Anblick dieses Bogens angeregt: »Mutter, bekomm ich nu Schreibstunde?«

»Wat, kann de Jung noch nich schrieven?« fragte Tante Mile ganz verwundert.

»Mit de lateinischen Bokstaben hätt he noch sin Not,« sagte Mutter Krautsch und verschwieg, daß es mit den deutschen nicht viel besser war.

»Jung, leer schrieven,« sagte Tante Mile. »Wat harr ick woll anfangen wullt, in bisse Tid, wenn ick nich schrieven leert harr.«

Da kam Anton zu Lehrer Heinrich, um sich im Schreiben zu vervollkommnen, um nicht einst hinter Tante Mile zurückzustehen.

*

Es war in diesem Schreibstundenjahr, als Hugo Winsemann mit Mariechen Mau vorne im Torweg zu Ohlsens Gang eine bescheidene »Ehrenpforte« hergerichtet hatte. Ein kleines Sandhäuflein, auf dessen Gipfel ein Wachsstummelchen vom letzten Weihnachtsbaum brannte, umgeben von ein paar weißen Papierfetzen, die auf abgebrannte Streichhölzer gespießt, Blumen vorstellten. Der ganze Prachtbau war durch ein paar alte Hosenknöpfe, drei Marmeln, die Hugo nach einigem Besinnen herausgerückt, und einer alten verrosteten Gürtelschnalle – alles in symmetrischer Anordnung in den Sand hineingedrückt – gar erfindungsreich eingefaßt und zu wahrer Herrlichkeit erhoben worden. Mariechen stand mit leuchtenden Augen dabei, und Hugo fiel von Zeit zu Zeit einen Vorübergehenden an, hielt ihm die Mütze hin und bat mit klopfendem Herzen im kläglichen Tone, als handle es sich um dringende Hilfe für gänzlich Verarmte, um eine Gabe »för de Ehrenport«.

Nur wenige verstanden sich zu diesem Wegezoll, indem sie ein oder zwei Pfennige opferten, aber ein Schauermann mit einem strahlenden Gesicht, dem sicher grade was Angenehmes widerfahren war, verstieg sich auf dem Gipfel seiner Freude zur Spende eines ganzen Zehnpfennigstückes.

»Junge, n Groschen!« rief Hugo und hielt ihn Mariechen unter die etwas feuchte Nase. »Das wird fein, solls mal sehn, heut kriegen wir was zusammen.«

Und vielleicht wäre es auch noch fein geworden, wenn nicht grade Fritz Kleesand, der lange Windhund, daher gekommen wäre. Der hatte keinen Spaß mehr an Ehrenpforten, der elfjährige »Schlüngel«. So ganz gleichgültig schob er sich daran vorbei – doch nein, er griente plötzlich, als hätte er einen ganz köstlichen Spaß im Sinn, schlenkerte so einmal mit dem Fuß, und in alle Winde flog die schöne Ehrenpforte mit Licht, Papierblumen, Hosenknöpfen und Schnalle. Und pfeifend, als ob nichts geschehen wäre, ging der Schlingel weiter.

Weit kam er nicht. Mit einmal saß ihm ein wohlgezielter Puff im Genick, und ehe er sich umsehen konnte, sprang ihn jemand von hinten an und legte ihn schlank auf den Rücken. Er bemühte sich umsonst, aufzuspringen. Antons rotes Gesicht fauchte über ihm: »Hund! gemeiner!« Und zwei kräftige, tintebefleckte Fäuste drückten ihn nieder.

Dieser Sieg Antons tröstete Hugo und Manschen schnell über die Zerstörung. Hatten sie doch zusammen zwanzig Pfennige eingeheimst, die, in Bonbon umgetauscht, alle Bitternis reichlich versüßen konnten. Ob sie ihren Schatz zeigten? Aber dann wollte Anton natürlich auch Bonbons haben, dachte Manschen. Und Hugo hätte gern noch ein paar Pfennige übrig behalten, weil am andern Tag Mariechens Geburtstag war. Er wollte ihr einen Bogen buntes Papier schenken. Seine Neigung zu Mariechen siegte, und Anton ging leer aus. Zuletzt regte sich aber in Mariechen doch der bessere Mensch, und sie hielt Anton einen Pfennig hin.

»Willst du einen ab?«

»Deinen alten schieterigen Pfennig behalt man,« lachte er spöttisch.

Mariechen hatte ihn zwar in der leisen Hoffnung angeboten: vielleicht nimmt er ihn nicht. Aber »schieteriger Pfennig« – das kränkte sie. Sie streckte ihm die Zunge heraus und lief heulend nach Hause. Hugo suchte unterdes die Marmeln und die Hosenknöpfe wieder zusammen. Anton sah ihm verächtlich zu. »Son Bettelkram. Wie magst das noch tun!« schalt er.

Mariechen Mau bekam ihren bunten Papierbogen, und Anton hatte den guten Einfall, seinen Gegner durch ein paar Äpfel zu versöhnen, die ihm nicht teuer kamen. Er trug nicht nach, nahm so eine Prügelei nicht tragisch, und hatte auch den Wunsch, mit dem größeren und stärkeren Fritz Kleesand nicht in Feindschaft zu leben. Dieser aber traute seiner Überlegenheit nicht recht und hatte Respekt vor Antons Fäusten. Wie alle hinterlistigen Schabernackspieler gehörte er nicht grade zu den allzeit Tapfern, ohne daß man ihn einen Feigling schelten durfte. Es war mehr seine Eitelkeit, die jede Niederlage fürchtete und ihn nur da anbinden ließ, wo er des Sieges gewiß war. So war nach ein paar Tagen der Friede wieder hergestellt.

Nur Manschen war noch nicht ganz friedlich gestimmt. Sie dachte noch an den schieterigen Pfennig und ging dem rohen Bengel aus dem Wege, oder war kalt gegen ihn. Anton merkte das gar nicht mal. Er mochte überhaupt nichts mit Deerns zu tun haben. Die waren ihm zu »heulig«.

Eine Folge hatte freilich Fritz Kleesands Vandalismus gegen die Ehrenpforte noch. Fräulein Cyriaks hatte sich über die Verunreinigung des Torweges beklagt, und Schiffshändler Ohlsen hatte ein für allemal verboten, durch Ehrenpforten und dergleichen die freie Passage zu sperren.

»Ich will überhaupt, daß Ordnung herrscht, peinliche Ordnung,« sagte er zu Fräulein Cyriaks, die steif und lang in seinem Kontor vor ihm auf dem Stuhle saß und jedes seiner Worte mit einem schnellen, stoßenden Kopfnicken bekräftigte. »Unordentliche Elemente dulde ich nicht, habe ich nie geduldet und werde ich nie dulden. Melden Sie mir bitte alle Ungehörigkeiten. Ich bin Ihnen nur dankbar dafür.«

Fräulein Cyriaks verließ ihn mit dem sittlichen Vorsatz, nichts Ungehöriges ungemeldet zu lassen, und Schiffshändler Ohlsen schloß die Tür hinter ihr und sagte: »Alte Schraube«.

Im Wohnzimmer traf er Pastor Brügge bei seiner Frau, die eine Pastorentochter aus der Kieler Gegend war und geistlichen Umgang hatte. Pastor Brügge berichtete ihr über das Resultat der Vereinssammlung für die innere Mission.

»Na, Pastor,« fragte Ohlsen kordial, »is de ol Klingbüdel düchtig vull?«

»Klingbeutel?« sagte der Herr Pastor mit etwas pikiertem Lächeln. »Unser lieber Herr Ohlsen drückt sich immer gern recht deutlich aus.«

Und Frau Melitta – Ohlsen nannte sie übrigens immer Lite – warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Asmus Andreas fand, daß er diesen Blick nicht verdiente. Er hatte fünfzig Mark für die innere Mission gegeben, mit Rücksicht auf Litens Pastorale Herkunft; sonst hätte er sich mit zehn abgefunden. Fünfzig Mark! Eine nette Summe. Dafür wollte er aber die Sache beim rechten Namen nennen können. Klingbeutel war doch keine Beleidigung?

»Das muß man auch, das gibt klar Wasser,« sagte er daher auf Pastor Brügges Bemerkung über seine deutliche Ausdrucksweise. »Wenn ich mit meinen Leuten damals, als ich noch die ›Gesa‹ fuhr, wissen Sie – ja, wenn ich da Pensionsfranzösisch hätte sprechen wollen. S'il vous play, Jan Türk, sehen Sie sich doch mal das Segel bitte n bischen an. Wo de oll Kasten nu woll lingen deh.«

Da lachte der Herr Pastor breit und jovial. »Ja, ja. Es ist wohl so. Ich muß ja auch manchmal ein kräftig Wörtlein reden, wenn ich meine verirrten Schafe wieder auf den rechten Weg zurückbringen will.«

Da ging Asmus Andreas wieder hinaus. Von verirrten Schafen mochte er nicht gerne was hören.


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